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Autorenbuch Dirk Werner DIX TUT WEH – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dirk Werner

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DIX TUT WEH


Wenn ich in dem engen Berliner Treppenhaus – es gehörte in eine klassizistische Häuserzeile, nur zwei Stockwerke hoch, vom Tempelhofer Damm her bog man zweimal um die Ecke und befand sich plötzlich in einer anderen Welt – wenn ich dort also hinauf stieg, quälten mich entweder meine Gedanken oder die Schmerzen. Das kann man schnell verwechseln, besonders wenn es das Treppenhaus zum Zahnarzt ist. Einen Trost gab es jedoch oder sogar zwei. Der Zahnarzt hieß Dix, und so heißt er wohl noch heute. Seine Acrylbilder, die mich schon über den ausgetretenen Stufen begrüßten, brachten mich auf andere Gedanken. Bessere Gedanken. Bessere Zähne brachten sie mir nicht.
Sind Sie mit Otto Dix verwandt? fragte ich ihn bei einem meiner ersten Besuche – obwohl, so ein richtig fröhlicher Besuch im eigentliche Sinne war das ja nicht. Es ließ mir keine Ruhe. Ja, bin ich, aber nur sehr entfernt, wehrte Dr. Dix ab, also um mehr als zwei Ecken entfernt lag die Welt des berühmteren Malers. Und während er sich still an die Arbeit machte, tröstete ich mich wieder mit dem Anblick seiner stillen Bilder, allesamt Stillleben.
Daran muss ich denken, als meine Freundin Claudia und ich dieser Tage zum anderen Dix, also zur Porträtausstellung ins Stuttgarter Kunstmuseum gehen. Zehn Euro Eintritt (genau wie die Praxisgebühr, die es damals noch nicht gab!) sind ein respektabler Preis, denke ich beim Bezahlen, für den der Besucher aber sicher einen Zusatznutzen erwarten kann. Wie man heute so schön sagt. Ich irre mich nicht. Dabei sind Dix’ überaus eindrucksvolle Porträts allein schon diesen Eintritt wert. Zu unseren Billets erhalten wir zwei weitere Karten, und obendrein gibt es noch zwei Blechmarken. Die Karten zeigen, in edlem Schwarz eingefasst, eine Reproduktion des Porträts von Heinrich George. Auf den Blechmarken, die pinkfarben wie winzige Miniaturen von Kehrschaufeln wirken, steht, man glaubt es kaum: KUNST. Damit die Reproduktion nicht zerknittert, schiebe ich sie in die Gesäßtasche. Die Miniaturmüllschaufel klappert alsbald lustig mit dem Kleingeld in meiner Hosentasche um die Wette. Angesichts der wirklichen und tatsächlichen Kunstwerke des Otto Dix vergesse ich die etwas enttäuschenden Beigaben aber bald.
Beim Betreten der Säle erwachen in den zahlreichen Porträts längst vergessene deutsche Zeiten zum Leben. Die Physiognomien offenbaren Seelenlandschaften, und in dem reichen Farben- und Formenspiel der Bilder zeigt sich uns die Persönlichkeit des Künstlers selbst. Man vergisst Dix so schnell nicht, das kann ich Ihnen versprechen. Das ist auch der Grund, warum wir in diese Ausstellung unbedingt mussten: die Erinnerung an früher gesehene Bilder. Aber hinterher ist man nicht beruhigt, im Gegenteil: Man vergisst ihn eben einfach nicht.
In den einzelnen Ausstellungsräumen gesellen sich zu der ersten, schwarzen, Karte immer neue Karten mit anderen Bildern, die der Besucher, so Nutzen um Nutzen sammelnd, kleinen Zettelkästen entnehmen und sich in die Gesäßtasche schieben darf. – Aber Dix tut weh, zum Beispiel dieses so nahe, ungeschönte Porträt seiner Eltern kann dem Betrachter in seiner Wucht richtig zusetzen. Das Kunstmuseum, das die Gemälde auf farbigen Wänden präsentiert, scheint jedoch gewillt, den Schmerz abzuschwächen, den Maler als einen „Dix light“ zu uns kommen zu lassen. Das Elternporträt in den Farben des Alters, blau, violett, düster, erscheint so auf einem beige-gelben Hintergrund, der Einiges von der Drastik nimmt bzw. gar nicht erst aufkommen lässt.
Wieder zu Hause angekommen, fragt mich meine Freundin Claudia nach dem Schildchen mit der Aufschrift KUNST. Wo ich es denn hingeklemmt hätte – an den Kragen meines Hemdes, an meinen Gürtel oder an den oberen Rand meiner Gesäßtasche. Sie kann es nämlich gar nicht an mir entdecken. Verlegen wühle ich in meinen Taschen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, dass es die Besucher an sich festklemmen müssen. Sie sollen so dem Personal unaufgefordert bezeugen, dass sie keine Schwarzfahrer in diesen Abteilen mit den überwirklichen Gesichtern in den Abteilfenstern sind. Das Grifflein des Schäufelchens kann man dafür zu einer Klammer biegen. Das wusste ich nicht. Aber es fiel in der Ausstellung keinem Menschen, eingeschlossen Claudia und Personal, auf, dass ich ohne Ohrmarke oder Beringung am Bein herum lief – und das spricht doch für die Ausstellung, oder?

Erst im Nachhinein fällt mir dann der einzige Ort ein, wo ich das Schildchen KUNST gern an mir befestigt wüsste, die Größe hätte auch gut dort gepasst: Meine oberen Schneidezähne sind schon genauso oft ramponiert wie immer wieder repariert. Sie eine Weile zu schützen, hätte das Schildchen mir einen guten Zusatznutzen gebracht. Und die Aufschrift KUNST, die aufblenden würde, wenn ich lächle, hätte besonders und gerade dort gestimmt.
Dr. Dix kann das bezeugen.

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