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Autorenbuch Gisela Noy DIE BRILLE – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Gisela Noy

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DIE BRILLE


Zu meiner eigenen Überraschung muss ich sagen: ich habe meine neue Brille gern. Ich berühre sie oft, betaste die kühlen Metallbügel, fahre mit den Fingerspitzen über die Hornfassung am oberen Rand der Gläser. Mehrmals am Tage setze ich sie ab und auf, spüre ihr Gewicht auf den Wangenknochen, halte sie in der Hand, knabbere an einem Bügel. Am Abend, wenn ich sie nicht mehr benötige, falte ich sie behutsam zusammen, bette sie in ihr samtenes Futteral und schließe meine Hände darüber. So sitze ich noch eine Weile und denke: Wie seltsam! Wenn der Arzt recht hat, der Arzt, der rotes, blaues, grünes und zuletzt gleißend weißes Licht in meine Augen jagte, wenn er recht hat, dann ist da etwas in meinem Kopf. Es ist auch in den Augen, aber eigentlich im Kopf und macht meine Augen verkehrt. Das Verrückteste daran ist, dass es, wie der Arzt sagt, schon immer da war, sich aber jetzt erst zeigt. Das gebe es öfters, sagt er, Defekte, die sich Zeit lassen, stumm bleiben, auf das Jahr warten (bei mir ist es das vierzigste), das ihnen günstig erscheint; von da an gewinnen sie langsam die Überhand, bis man begriffen hat: es war schon immer so mit mir, so verkehrt. Er hat das anders ausgedrückt, der Arzt, aber ich habe ihn genau verstanden. Übrigens traue ich ihm nicht. Er weiß auch nicht alles. Von den anderen merkwürdigen Dingen, die seit einiger Zeit in meinem Körper vorgehen, weiß er zum Beispiel nichts. Dies Schwanken, als bewegte ich mich bei hohem Seegang über ein Schiffsdeck, oder diese Zuckungen, nachts, wenn meine Beine, meine Hände sich in die Luft und zur Seite werfen, als wollten sie sich jäh und entschlossen aufmachen, irgendwohin, ich weiß nicht wohin, und sie besinnen sich ja dann auch wieder, bleiben bei mir, schmerzend von dieser übergroßen, zu keinem Ziel führenden, immer neuen
Anstrengung. Vielleicht hat auch das mit meinen Augen zu tun, damit, dass mein linkes Auge sie in eine andere Richtung schickt als mein rechtes, denn so ist das nun mit meinem Augen, sie tun sich nicht mehr zusammen. Das hat sogar den Optiker erstaunt, der mich, bevor er mir meine Brille anfertigte, nochmals einem Sehtest unterwarf. Auch er sagte etwas Merkwürdiges. „Wenn es keine Gefängnisse gäbe“, sagte er, „ und man müsste sich eine neue Strafe für die Verbrecher ausdenken, dann sollte man ihnen Ihre Augen geben.“ Was hat er wohl damit gemeint? „Ihr Sehcomputer arbeitet wie verrückt, schafft es aber nicht“, sagte er noch. Die Vorstellung, kein Gehirn, sondern einen Computer im Kopf zu haben, war mir sofort unangenehm, also lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung. Wir widmeten uns der Auswahl eines, wie es heißt, kleidsamen Gestells. Dabei sagte der Optiker zu Robert: „Ihre Frau liebt es, sich mit Charme auszudrücken, das sollten Sie bei der Wahl der Brille berücksichtigen“; Robert hatte mich begleitet, und auch wenn wir nicht verheiratet sind, ist ihm die Frage, wie ich mit Brille aussehe, nicht unwichtig. Wie eine Lehrerin, sagt Robert, eine nette Lehrerin natürlich. Bestimmt habe ich Robert ohne Brille besser gefallen, aber er sieht ein, dass ich nun eine brauche, und im übrigen findet er, dass man es nicht tragisch nehmen soll, wenn man sich mal nicht so wohlfühlt. Beschwerden ohne Todesfolge, sagt Robert grinsend, übergeht man am besten. Er hat ja recht. Schließlich sterbe ich nicht an diesen zahnradartig versetzten Wellenbewegungen meiner Muskeln, einen Klonus nennt es der Arzt (ich lerne jetzt viele neue Wörter). Aber das Stilhalten kann ich meinen Beinen auch nicht befehlen. Vielmehr zwingen sie mich jetzt oft, stehen zu bleiben mitten im Weg, und mit ihnen zu reden. So wie ja auch meine Hand jetzt immer öfter stockt, wenn ich sie übers 'Papier führen will, um eine Linie zu
ziehen oder Wörter zu schreiben, die nachher anders da stehen als ich es gewollt habe. Ich rede dann mit ihnen und es geht wieder eine Weile, aber im Grund machen sie sich lustig über mich, meine Hände und meine Beine. Robert lacht aber nicht, wenn ich neben die Tasse greife und der heiße Kaffee sich auf seine Hose ergießt. Ich kann ihn verstehen, er hat es nicht leicht mit mir. Bis vor drei Monaten habe ich ihm noch im Büro ausgeholfen, das möchte er nun nicht mehr. Dabei wäre dort dringend einiges neu zu ordnen, zum Beispiel das gesamte Zahlensystem und der Code. Ich habe mir da schon etwas ausgedacht, werde es Robert aber erst vorlegen, wenn er wieder besser gelaunt ist. Er muss sich jetzt um so vieles kümmern. Ich sehe ihm zu, wie er, den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, in der Küche steht, mit einer Hand Notizen macht, mit der anderen Pfannen und Töpfe hin und her schiebt, würzt, abschmeckt. Manchmal geht er auch mit dem Telefon in ein anderes Zimmer. Sicher ahnt er, dass ich nun mit meiner neuen Brille alles sehe, alles. Und ich höre auch mehr als früher. Ich höre Dinge, die Robert nicht hört. Sie sind nicht freundlich, die Stimmen. Sie höhnen und spotten über mich, hetzen mich, treiben mich an. Und wehe, ich mache nicht alles richtig. Dann ziehen sie ihre Gesichter an, die Stimmen. Grimassengesichter. Fratzen. Ich sehe sie von innen, da wo der Arzt mir in den Kopf geleuchtet hat.
Morgen muss ich übrigens zu einer Spezialuntersuchung, Robert besteht darauf. Vielleicht finden sie doch etwas Organisches, hat er gesagt, es klang wie eine Hoffnung. Neuerdings haben sie Geräte, die das Gehirn scheibchenweise fotografieren können, dass es wie eine aufgeschnittene Wurst ausgebreitet da liegt. Und in einer der Scheiben soll es dann stecken, das Ding. Es heißt HUSSOPI; das muss ich Robert unbedingt noch sagen und dem Arzt. Und dem Nachbarn. Das darf aber Robert nicht wissen. Auf
den Nachbarn ist er nämlich nicht gut zu sprechen; er nennt ihn „den Gestörten“. Nur weil der Nachbar oft auf dem Balkon steht und lächelt, allein, für sich. Gestern habe ich zum ersten Mal zurückgelächelt. Er hat auch wieder gelächelt. So standen wir uns eine ganze Weile gegenüber, der Nachbar und ich, das war schön. Ich würde gern mit ihm verreisen, denn ich weiß jetzt: er kennt das Land.
Wie geht es dir heute, Schatz? fragt Robert jeden Tag. Seine Frage klingt müde, schwer von der Antwort, die er ja kennt. Es geht mir heute wie gestern wie vorgestern. Aber bald, nicht mehr lange, ich spüre es, wird es mir gehen wie damals. Damals, das war die Wiese mit den weißen Tupfen. Einer davon war ich. Ich war noch klein, nur meine Haare waren groß, sie hingen mir bis in die Kniekehlen. Und sie flogen, wenn ich mich drehte. Und meine Arme flogen auch. Und meine Beine flogen um mich herum, ganz schnell, und dann wurde ich wach und sah Gesichter über mir, die blickten mich an als sei etwas Schreckliches mit mir passiert. Dabei hatte ich doch gelacht, ganz laut und ganz hell und im Kreis, also konnte es gar nichts Schreckliches gewesen sein. Man muss nur keine Angst haben.
Was hast du gefragt, Robert? Wo ich mit meine Gedanken bin? Nein, nicht bei mir. Nein, mach dir keine Sorgen. Ich hab einfach so vor mich hingeschaut. Ich liebe das jetzt, dies Schauen in eine konturenlose Ferne, wo alles gleich nah und gleich weg ist, wo rechts und links auf einem runden Bogen sich zueinander wiegen. Ob ich doch nicht die richtige Brille habe? Ich weiß es nicht, Robert. Ich bin müde. Da lege ich meinen Kopf hin. Wegbringen? Wieso wegbringen? Warum weinst du denn, Robert?

Ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben, hier ist er jedenfalls nicht. Ich habe alles abgesucht. Drinnen. Nach draußen komme
ich nicht. Es gibt eine Tür, aber sie geht nicht auf. Irgendwo, nicht weit weg, muss er aber sein, denn manchmal kommt er in mein Zimmer. Er sieht schlecht aus. Wenn ich ihn frage, wie es ihm geht, streichen seine warmen braunen Hände stumm über etwas, das liegt auf meiner Bettdecke und ist weiß. Etwas Silbernes steckt darin und da hindurch fließt etwas in mich hinein. Jeden Tag kommt jemand in einem weißen Kleid und macht es neu. Ich habe auch ein weißes Kleid an, wie damals. Inzwischen verstehe ich die Zusammenhänge, denn der Mann, der mir das weiße Licht in den Kopf getan hat, trug ja auch ein weißes Kleid. Und der Mann, der mir die Brille gemacht hat, auch. Die Brille haben sie mir übrigens abgenommen, sie halten sie für gefährlich. Es ist, glaube ich, sehr schön hier.
 

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