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Autorenbuch Johannes Witek Eine Wunde – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Johannes Witek

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Eine Wunde

Eine Wunde auf meiner Stirn, die sich nicht schließt

Heute war eine Spinne in meiner Küche,
Tegenaria domestica, die gemeine Hauswinkelspinne.
Ich nehme an, dass sie unter dem Küchenfenster
durchgekrochen ist (es ist undicht).
Früher pflegte ich die Viecher mit einem Buch zu erschlagen,
mit meinem alten Schulatlas, ich habe ihn noch,
geschätzte 50 Arachnoiden sind dem
zum Opfer gefallen, mindestens,
ich ekelte mich davor, die zerquetschten Körper abzukratzen
also blieben sie dran und manchmal haben sie sich überlappt, eine
braunschwarze Kruste aus den seltsamsten getrockneten
Flüssigkeiten, unblutig, denn Spinnen bluten nicht.

Inzwischen respektiere ich das Leben und mich
selbst nicht länger als Henker dessen,
was ich hasse, also fange ich sie jetzt mit den
üblichen Utensilien: Glas und Blatt Papier.
Das mache ich schon recht routiniert,
es ist eine spinnenreiche Gegend hier,
aber die heute konnte entkommen und war plötzlich
auf dem Blatt, direkt neben meiner Hand und ich
bin erschrocken und hab alles fallen gelassen.

Wie durch ein Wunder landete sie in meiner Obstschale,
die leer war. Es war eine eigentlich noch sehr
kleine Spinne, aber man konnte in ihr die Absicht erkennen,
größer zu werden, wenn man sie lässt.
Sie war in Panik. Ihre Beine kratzten hilflos über
die grün-weißen Wände. Sie schaffte es mehrere Male beinahe,
der Gmunder-Porzellan-Hölle zu entkommen,
die sie umgab, dann rutschte sie wieder ab.
Das ging so einige Zeit. Dann passierte etwas: Die Spinne
wurde stoisch. Sie saß nun in der Mitte der Schüssel
und bewegte sich überhaupt nicht mehr. Ich konnte sogar
die Haare auf ihren Beinen erkennen. Sie flimmerten im
Neonlicht der Küchenlampe, das auf sie niederbrannte.

Ich beobachtete diese Spinne lange. Und die Spinne
beobachtete mich. Wir hassten uns.
Ich hielt sie gefangen, weil sie war, was sie war
und sie wollte raus, weil sie war, was sie war.
Wir sprachen nicht viel miteinander.

Schließlich packte ich die Obstschale,
lief damit aus der Tür und warf die Spinne
in hohem Bogen in die Einfahrt.
Sie verschwand im Rasen. Dann ging ich rein
und rief meine Mutter an.

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