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Autorenbuch Juli Zucker Mimikry – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Juli Zucker

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Mimikry


Es klingelt unten an der Tür. Mutter öffnet. Man hört Stimmen. Zwei Stimmen. Jemand ist im Haus. Jemand ist mit Mutter im Haus und ich hör Stimmen. Auch das andere Kind hört die Stimmen. Ich weiß das, weil es nicht mehr spricht, wie es sonst spricht. Es schweigt in sich hinein und ist dämlich genug, es nicht zu verbergen. Seit jeher ist es ein Holzkopf. Ich hör das andere Kind wie es  zuhört. Das andere Kind sitzt im anderen Zimmer und spielt andere Sachen. Das andere Kind schnauft viel zu laut. Das andere Kind hört den Stimmen zu und verbirgt nichts und schnauft viel zu laut. Das andere Kind klopft nie an Türen. Es betritt mein Zimmer und starrt mich mit Augen an, die verlangen, dass ich die Situation  kläre. Das andere Kind ist nur leise, wenn es Angst hat.
Zuerst muss ich erzählen, was passiert ist. Die anderen Kinder, das sind die Terroristen, hat unsere Mutter immer gesagt, wenn etwas passiert ist. Die anderen Kinder, das sind die Terroristen, und wenn du merkst, dass sie dir wehtun wollen, dann lauf weg, lauf so schnell du kannst, und versuch erst gar nicht dich zu wehren, dreh dich nicht um, dreh dich nie um.     Weil das andere Kind seit jeher ein Holzkopf ist, hat es immer geglaubt, was Mutter gesagt hat. Nie hat es sich umgedreht. Das andere Kind ist immer weggelaufen und erwischt haben sie es trotzdem.
Mutter hat auch immer gesagt, man solle keine Kinder schlagen, die einen Kopf kleiner sind als man selbst. Aber immer als am Morgen das verbrannte Gras zwischen unseren Füßen zirpte und das andere Kind sich seinen Rucksack nicht wie jedes normale Kind um die Schultern warf, sondern ihn grinsend hinter sich her zog, da wusste ich, dass es in Ausnahmefällen trotzdem erlaubt war, Kinder zu schlagen, die einen Kopf kleiner sind als ich. Besonders Terroristen. Passt du bitte auf, hat sie oft zu mir gesagt. Das hat sie gesagt, als ich das andere Kind beobachtet habe, wie es den Ameisen die Beine abgerissen und sie gegen das Sonnenlicht gehalten hat. Da wusste ich längst, dass das andere Kind ein Holzkopf ist. Madre Mia, ist das ein Holzkopf, dachte ich immer. Wie fasziniert es von seiner eigenen Grausamkeit war, und wie interessiert es sich dann die Tiere angesehen hat, wie sie mühsam davonkrochen. Sein Gesicht war nur mehr dreckig. Mit seinen kleinen, harten Händen presste es das Gestrüpp auf die Seite und lächelte mich an. Selbst zwischen den Zähnen hatte es noch Schmutz. Was es gemacht hat, wollte das andere Kind nie sagen, aber sein Blick sprach Bände. Sag es keinem, hat mich das andere Kind gebeten, mich an der Hand gepackt. Es wollte mich in sein Versteck ziehen, und in sein Geheimnis.  Kurz danach begriff ich den Blick. Den Ausdruck in seinen Augen, wie erhaben es sich für das andere Kind anfühlt, Macht zu besitzen. Und dann wusste ich auch, dass das andere Kind nicht nur ein Holzkopf war. Nicht nur ein Holzkopf, der alles glaubt, was die Mutter sagt. Nicht nur ein Holzkopf, den man mit dem Gesicht in Urin tunken muss, bis er lernt. Das andere Kind war selbst der Terrorist. Das andere Kind hat immer alles zerstört, genau so, wie es jetzt auf unserer Terrasse sitzt und den kleinen Ameisen die Beinchen ausreißt. Es ist schwer, das kleine Weiche in einem zu finden, wenn jemand immer alles so grobkörnig handhabt. Manchmal hat mir das andere Kind ein kleines, kaputtes Tier geschenkt. Angenommen hab ich es nie. Am Anfang hab ich sie immer alleine begraben, aber später hab ich das andere Kind mitgenommen. Ich wollte, dass es leiden muss für jeden Fühler, den es ausriss, dass es sieht, wie sich Abschied anfühlt, aber nie hat es damit aufgehört, die Schmetterlinge wieder zu Raupen zu machen. Wie ein Terrorist ist das andere Kind in mein Leben gesteuert und hat immer alles kaputt gemacht.
Salut, hat das andere Kind immer gesagt, als es morgens den Kopf in mein Zimmer gesteckt hat, und immer hat es mich geärgert, weil es immer etwas war, was es mir nachgeplappert hat. Es konnte nie differenzieren, nie verstehen, dass es auch andere Sprachen gibt; für das andere Kind war das etwas wie ein Geheimwort zwischen uns beiden, das ich mir nur ausgedacht hatte, damit wir uns heimlich verständigen können. Dieses Banale hat mich immer am meisten genervt. Salut, hat das andere Kind morgens heimlich geflüstert, als es die Tür zu meinem Zimmer geöffnet hat und vor meinem Bett stand. Es zog mir die Decke herunter und versuchte, sich in meine Wärme zu legen, drückte seinen warmen Nacken gegen meinen Mund. Drückte seinen kleinen, zerbrechlichen Körper an meinen und erwartete, ich wäre ihm Ersatz. Es versuchte, sich mit seinen groben Händen, die noch nicht wussten, wohin sie am besten fassen sollen, mit Gewalt in mein Leben zu pressen. Es legte seine kleine, unförmige Hand in die meine und ich atmete stillschweigend den Kindergeruch seiner Haare ein, ein angsteinflößender Geruch, weil er so grobkörnig war, wie es kein Kindergeruch sein sollte. Es lag vor mir, presste sich in meine Wärme und an meinem Körper und starrte mit seinen aufgerissenen Augen in den dunklen Raum und schwieg. Ich ließ alles passieren.
Dem Terroristen, dem anderen Kind, war ich immer ein Aufnahmegerät, es schrie seine Empörung und Wut in mich hinein und ich litt darunter, als wäre es meine eigene. Es war wie etwas Schmutziges, etwas, das ich lieber nicht hätte kennengelernt, etwas wie – das andere Kind. Ich schämte mich mehr für alltägliche Dinge als für die Gesamtsituation; sein Geruch war mir peinlich, immer stank das andere Kind nach Ekligem, Abartigem, da war immer eine Prise Schweiß, eine Prise Anstrengung, eine Prise davon, dass es es noch nicht kennt, seinen Körper zu pflegen; seine Kleidung war mir peinlich. Am Ende des Tages war sie immer so voller Schmutz, dass ich im Bus als Einzige neben dem anderen Kind sitzen musste, weil niemand sonst wollte. Anfangs versuchte ich noch, mich neben Freundinnen zu setzen.  Die Momente, in denen das andere Kind still am Busfenster saß und sich nur umdrehte, um seinem Sitzpartner draußen etwas zu zeigen und - ich nicht neben ihm saß, es sich mit verwirrtem Blick im Bus nach mir umsah und mir dann zulächelte, als hätte ich es nicht verraten - waren für mich die schlimmsten. Und auch diejenigen, in denen ich begriff, ich hätte mich nicht für das andere Kind, sondern nur für mich und mein Verhalten schämen müssen, meinen Bruder so zu verleugnen.         
Es ist immer wichtig, zu erzählen, was passiert ist.
Das andere Kind kommt in mein Zimmer und starrt mich mit diesen Augen an. Mit Augen voller Angst. Mit Augen in seinem Holzkopfschädel. Das andere Kind starrt mich an und geht langsam auf mich zu und setzt sich neben mich und hört sich mit mir die Stimmen unten bei der Mutter an. Ich lasse alles passieren. Es legt mir die kleinen, verwundbaren Arme um die Schultern und drückt sich in meine Wärme. Das andere Kind drückt sich in meine Wärme. Das andere Kind drückt sich in meine Wärme, dann drückt es seinen Lippen viel zu fest an mein rechtes Ohr. An mein rechtes Ohr, weil es mir etwas erzählen will. Das andere Kind ist ein Holzkopf, es versteht nichts von Lautstärke. Es drückt seine Lippen viel zu fest an mein rechtes Ohr und spricht viel zu laut: Hilf mir mit den Terroristen. Hilf mir mit den Terroristen. Und dann ist es nicht mehr das andere Kind, das mit mir hier sitzt. Dann ist es mein Bruder.
 

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