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Autorenbuch Juliane Beer Geradeaus! (Mongolischer Schlachtruf) – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Juliane Beer

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Geradeaus! (Mongolischer Schlachtruf)


Sam steht am Fenster, schaut hinunter in den Hof, der vielmehr ein Garten ist.


Hier hat sie es Herbst werden sehen und Winter. Wenn der Frühling zu Ende geht rangt wilder Flieder übers Efeu, gegenüber an der Brandstiege. Eine Kaskade violetter Blüten fällt über die verwitterten Stufen bis hinunter auf das überwucherte Beet, um das sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hat. Da wächst, was wachsen kann, kniehoch mittlerweile, Gräser, Sträucher, zwischen drin Blumen; auch Sam hat schon, verstohlen nach rechts und links blickend, den Inhalt eines Blumensamentütchens ins Beet gestreut, wusste, es wird etwas daraus hervorgehen, hier, wo niemand stört und eingreift.


Wochen später ein stolzes Lächeln, wenn sie den Hof überquerte, über die morschen Holzbohlen balancierte und im Beet ihre Blumen leuchten sah. Dann ging der Sommer los.


Soviel Glück ruft Neider auf den Plan.


Eines Tages im Juni, drei Jahre ist das her, fand sie ein nachlässig gefaltetes Blatt Papier ohne Umschlag vor, das ihr jemand durch den Briefschlitz in den Flur geworfen hatte. Das Schreiben bereitete ihr Schwierigkeiten; nach einigem Rätseln aufgrund orthografischer und grammatikalischer Sonderheiten meinte sie schließlich verstanden zu haben, dass ihre Wohnung den Eigentümer gewechselt hatte. Sam solle ausziehen, wurde darüber hinaus gefordert. Nächste Woche, spätestens aber zum nächsten ersten.


Trotz dieser offenkundig aberwitzigen Aufforderung wurde es Sam unbehaglich.  Wohnungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits knapp in der Stadt oder nur noch zu schwindelerregenden Mietpreisen zu haben. Sam besaß nie Geld, heute nicht, damals nicht, in hundert Jahren nicht. Mietgesetze hin oder her, ein erkennbar verrückt gewordener Eigentümer hatte sicher das Zeug dazu, sich zur Plage auszuwachsen. Sam setzte sich an den Schreibtisch, gratulierte artig zum Erwerb der Wohnung und bekannte ganz sachlich, dass sie einen Wohnungswechsel nicht im Traum in Erwägung zöge.


Der Anwalt, zu dem sie am nächsten Tag ihre letzten vierzig Euro trug, nahm´s gelassen. Sam würde laut Vertrag unbefristetes Mietrecht genießen. Der neue Herbergsvater dürfte sie nie wieder aus der Wohnung kriegen, gluckste der Rechtsbeistand beinahe vergnügt, was Sam nicht wirklich erstaunte. Der gute Mann hatte schließlich keinen Grund, sich die Laune vermiesen zu lassen, musste sich ja nicht ab sofort mit einem Unzurechnungsfähigen abgeben.


Ihre letzten vierzig Euro durfte Sam auch wieder mitnehmen.


Eine Woche später erhielt sie abermals einen Brief. Dieses Mal wurde er persönlich überbracht. Wieder fehlte ein Kuvert, dafür reichte ihr der Bote, ein Herr Mitte fünfzig, der sicher einmal gut gekleidet und gepflegt gewesen war, eine Visitenkarte und verkündete, er arbeite für ihren neuen Eigentümer. Dieser sei, so hieß es weiter, mit dem deutschen Mietrecht noch nicht vertraut.


Sam nahm Brief und Karte in Empfang, letzte wies den Boten, Herrn K., als Betreiber einer Agentur für Hausverwaltung und sonstige Dienstleistungen aus. In dem Schreiben machte er Sam darauf aufmerksam, dass ihr Mietkonto 4000 Euro Schulden aufwiese, was Sam verblüffte, denn trotz aller Überlebensmühe hatte die Mietzahlung stets höchsten Vorrang und war noch nie nach dem dritten Werktag eines Monats von ihrem Konto abgegangen. Herr K. forderte sie außerdem auf, die genannte Summe binnen einer Woche auf sein Konto zu überweisen, andernfalls würde er Sams Wohnung räumen lassen.


 Zu dieser Zeit wurde in Berlin nicht nur der Wohnungsbestand sondern auch ganz besonders die Arbeit knapp; herkömmliche Angestelltenverhältnisse waren bereits Auslaufmodelle. So  versuchten sich immer mehr Berliner als Selbstständige, zumeist im Dienstleistungsgewerbe. Die angebotenen Services übertrafen sich an Einfallsreichtum, für jedes Bedürfnis gab es bald Hilfe, egal, ob die Wohnung von einem Nackten geputzt werden sollte, man nicht allein auf Partnersuche gehen konnte, den Nachbarn oder unliebsame Mieter oder wen auch immer los werden wollte, den Hausmüll ungern herunter trug - Berlins Kleinunternehmer unterstützten in jeder Lebenslage, die städtischen Arbeitsagenturen ermunterten und bezuschussten ihre Schutzbefohlenen und deren Kreativität.


Herr K. war auch so ein gefallener Engel, wie Sams Recherchen im Internet ans Licht brachten. Lange Zeit hatte er bei einer großen Immobiliengesellschaft als Prokurist gearbeitet, aber allem Anschein nach saß nun ein jüngerer auf seinem Platz. So betrieb Herr K. jetzt zusammen mit seiner Frau eine Firma, die per Internetannoncen damit warb, Eigentümern unliebsame Mieter vom Halse zu schaffen.


Sam lief am nächsten Tag wieder zu dem gut gelaunten Anwalt, der schrieb Herrn K. einen Brief, darin stand, dass die Angebettelte keine 4000 Euro besäße, und selbst wenn soviel Geld auf ihrem Konto läge, ihr Herrn K.s Unternehmen keiner Unterstützung wert wäre, die Idee überzeugte nicht.


Der Anwalt erhielt daraufhin vom Dienstleistungsunternehmen K. noch weitere Briefe, die die Räumung von Sams Wohnung ankündigten, immer wieder wurde die Frist verlängert. Insgesamt vier Monate ging das so, die wöchentlich eintreffenden Schreiben wurden in der Kanzlei bald mit einer gewissen Grabesstille angenommen und abgeheftet, füllten schließlich zwei Ordner.


Dann plötzlich hörte man nichts mehr vom Ehepaar.


Möglicherweise hatte Herr K. das unmögliche geschafft und in seinem Alter in dieser Stadt einen legalen Arbeitsplatz gefunden.


Sam lud den Anwalt, der noch immer kein Geld von ihr verlangt hatte, in den Supramarkt ein, er suchte sich ein Bild aus, eins von Sams Meisterwerken, nebenbei bemerkt, den Landwehrkanal im Winter bei Schnee und Eis, darüber die Morgensonne.


Als ihr Rechtsbeistand gut gelaunt wie üblich das Atelier verließ, meinte Sam, die Angelegenheit sei nun erledigt.


Einen Monat darauf erhielt sie Nachricht von einem neuen Absender, ihre Wohnung sei weiterverkauft.


Wieder sollte sie ausziehen, am besten gleich am nächsten Tag. Sam wusste jetzt, was zu tun war, gratulierte abermals zum Erwerb der Wohnung, gab bekannt, dass ein Wohnungswechsel zu Lebzeiten nicht geplant wäre. Zwar hatte sich die Lage auf dem Berliner Immobilienmarkt mittlerweile derart zugespitzt, dass für vergleichbare Wohnungen eine Miete, die sich auf das Doppelte belief, verlangt wurde, aber da die Inszenierung mit den wechselnden Hausherren nun ein wenig abgedroschen war, hatte sich bei Sam wohltuende Unaufgeregtheit eingestellt. Es folgten ein paar erfolglose Versuche, sie loszuwerden, dann wurde die Wohnung weiterverkauft und weiterverkauft.


Einmal stand noch ein schmales Bürschchen mit griechischem Akzent unangemeldet in der Tür. Sogleich begann er loszugreinen, wollte wissen, warum Sam noch da wäre, man habe ihm beim Kauf eine leere Wohnung zugesichert, er musste dafür extra bezahlen.


Sam dachte nach. Der vorige Eigentümer hatte es nicht mal für nötig befunden, sie anzurufen und ihr zumindest einen Teil dieses Geldes anzubieten, damit sie ihre Sachen packte und verschwand. Er hatte sich die gesamte Summe allem Anschein nach einfach eingesteckt und damit war die Sache erledigt. Bitter, wie die Angelegenheit sich ausnahm - Sam musste lachen. Es war regelrecht befreiend festzustellen, dass diese Figuren auch nicht davor zurückschreckten, sich untereinander zu bescheißen.


„Ihr Geld ist futschikato!“, erklärte Sam dem Bürschchen. Im selben Moment tat er ihr leid. Er würde draufzahlen. Das Haus war uralt, ständig platzten die Rohre, zerbrachen die Fenster, stand der Keller unter Wasser. 


Sie sah den armen griechischen Teufel nie wieder, ab dann wechselten die Eigentümer im Quartalsrhythmus. Sam hatte sich daran und an mal mehr mal weniger originelle Besuche oder Drohbriefe gewöhnt.           


Im Frühsommer steht sie nach wie vor am Fenster, schaut begeistert in den verwilderten Hof hinunter, der Flieder blüht, fällt wie ein violettfarbener Wasserfall über die Brandstiege, es hat geregnet, es ist warm, die Luft dampft. Wasser rinnt über die Blüten. Gerade kommt die Sonne hervor, bricht sich in den Tropfen. Über der Brandmauer erscheint ein Regenbogen.


Alles wird so wunderbar weitergehen, Berlin 2012, Medienberichten zufolge sind die letzten Wochen der gemeinsamen europäischen Währung angebrochen. Gut so, denkt Sam, wer jetzt noch keine Berliner Trümmerwohnung besitzt, braucht auch keine mehr. 


Es kam anders, nämlich so[...]


aus: Kreuzkölln Superprovisorium, erscheint 10/2013

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