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Autorenbuch Sandra Niermeyer Das geheime Leben meiner Mutter – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Sandra Niermeyer

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Das geheime Leben meiner Mutter


Mutter schreibt. Diesen Satz hörte ich in meiner Kindheit häufiger als jeden anderen Satz.
Entweder äußerte mein Vater ihn, oder mein kleiner Bruder. Sogar ich sagte ihn manchmal.
Unsere Mutter schrieb wo sie saß und stand. Auch auf die Toilette nahm sie einen Block mit, und ins Treppenhaus.
Ich kann mich nicht erinnern, von meiner Mutter ein einziges Mal angesehen worden zu sein. Immer war ihr Blick auf ein Papier gerichtet, oder er schweifte sinnierend in die Ferne, wenn sie sich neue Sätze für ihren Roman ausdachte.
Daß sie an einem Roman schrieb, vermuteten wir alle, obwohl sie nie darüber sprach. Über Dinge zu reden, bevor man sie aufgeschrieben hat, tötet sie, sagte unsere Mutter.
Ein Jahrhundertroman würde es werden, dessen waren wir uns sicher.
Wir liefen flüsternd durchs Haus, um unsere Mutter nicht zu stören. Sie hatte kein Zimmer für sich allein, wie Virginia Woolf es forderte, sie schrieb in der Küche, im Bad, im Keller. Wir mußten überall leise sein. Immer hielt sie eine schützende Hand über das Geschriebene, damit wir ihre Sätze nicht zu früh ans Licht zerrten. Sie schrieb mit einem teuer aussehenden Füllfederhalter auf weiße, unlinierte Blätter, die die Qualität von Briefpapier hatten.
Wo sie die fertig geschriebenen Seiten lagerte, wußten wir nicht, sie hatte keinen Schreibtisch und keinen eigenen Schrank, trotzdem fanden wir nie eins der Blätter.
Wenn mein Bruder und ich hungrig von der Schule nach Hause kamen, stand auf dem Küchentisch eine Kaltschale mit Erdbeer- oder Kirschgeschmack. Unsere Mutter hatte keine Zeit zum Kochen gehabt. Wir löffelten lustlos die kalte Fruchtsuppe und gingen dann in die Pommesbude nebenan, in die wir fast unser ganzes Taschengeld trugen. Mein Bruder und ich hatten schon lange vor der Pubertät Pickel, von dem vielen Frittierfett, das wir täglich aßen.
In der Grundschule nahm mich einmal eine Lehrerin beiseite und fragte mich, warum ich schon seit vierzehn Tagen denselben Pullover trüge, ob meine Mutter krank sei. Ich verneinte und legte mir zu Hause drei Pullover zurecht, die ich immer im Wechsel anzog. Abends legte ich den getragenen unter die beiden anderen, um nicht durcheinander zu kommen.
Mein Bruder fiel einmal die Treppe hinunter und riß sich dabei das rechte Ohr halb ab. Weil meine Mutter keine Zeit hatte, ihn in die Klinik zu fahren – stör mich nicht, ich schreibe, sagte sie, als er schreiend zu ihr ins Wohnzimmer gelaufen kam – hat er nun ein schiefes Ohr.
Irgendwann wird sie berühmt, sagten wir abends im Bett. Mein Bruder kroch oft zu mir unter die Decke, weil sein Gitterbett mittlerweile zu klein für ihn war, aber noch niemand das bemerkt hatte.
Irgendwann wird sie berühmt, flüsterten wir in der Dunkelheit, und dann sind wir die reichen Kinder einer erfolgreichen Romanschriftstellerin. Sie wird uns mit auf Lesereise nehmen, weil ihre Leser die Kinder, von denen ihr Buch handelt, im Original sehen wollen.
Denn daß sie nur über uns schreiben konnte, darüber waren wir uns einig.
Sie hatte eine gebrauchte Kopiermaschine gekauft, um irgendwann Abzüge für Verlage machen zu können. Solange sie das Gerät nicht benutzte, kopierten mein Bruder und ich unsere Hände und Füße darauf, und einmal unsere Pobacken.
Manchmal kam unsere Oma vorbei und entfernte ein paar Spinnweben aus den Ecken oder schnitt meinem Bruder den Pony, damit er wieder etwas sehen konnte.
Ich verstehe nicht, warum euer Vater das erlaubt, sagte sie. Wenn ich früher solche Flausen im Kopf gehabt hätte wie eure Mutter – die hätte mir euer Opa schon ausgetrieben.
Aber unser Vater war ein sehr moderner Vater. Er war der Meinung, die künstlerischen Ambitionen einer Frau sollte man genauso ernst nehmen, wie die eines Mannes, und er war es auch, der den Satz „Mutter schreibt“ am häufigsten äußerte, meistens mit einem Finger auf den Lippen und einem warnenden Gesichtsausdruck. Wir verhielten uns dann besonders leise und schlichen auf Zehenspitzen durch die Wohnung.
Wenn die Nachbarn fragten, wann kommt der Roman denn nun endlich heraus, sagte unser Vater: ein so anspruchsvolles Projekt braucht Zeit und Geduld. Es muß reifen und wachsen.
Zu Weihnachten schenkten wir unserer Mutter einen Rahmen, in den wir eine selbstgebastelte Urkunde gesteckt hatten. „Nobelpreis“ stand darauf. Sie lächelte und schob den Rahmen unter einen Sessel, wo er ein paar Monate später von einer Sesselrolle zerdrückt wurde.
Mein Bruder entwickelte einen Sprachfehler. Er konnte kein K und kein G mehr sprechen, sondern sagte statt dessen T und D. Wenn er in den Keller gehen wollte, sagte er: ich gehe in den Teller. Weil niemand mit ihm zum Logopäden ging, spricht er heute noch so. Er arbeitet inzwischen beim Jugendamt und steht zu seinem Sprachfehler.
Mutter schrieb noch lange, nachdem wir beide ausgezogen waren. Wenn wir sie besuchten, sah sie nicht von ihrem Block auf. Sie schrieb wie eine Besessene, als hätte sie nicht mehr viel Zeit. Ihre Hand mit dem Stift glitt in atemberaubender Geschwindigkeit über das Papier. Kommst du voran, fragten wir manchmal. Sie nickte geistesabwesend. Meistens merkte sie nicht einmal, wenn wir wieder gingen.
Wir unterhielten uns im Treppenhaus. Sie ist eine echte Künstlerin, sagten wir, sie lebt und stirbt für die Kunst.
Kurze Zeit darauf starb sie tatsächlich. Eines Morgens lag sie tot im Flur. Der Arzt stellte einen Gehirnschlag fest. Unser Vater beorderte uns zu sich und sagte in der Küche feierlich: wir schulden es unserer Mutter und Ehefrau, gute Nachlassverwalter zu sein.   
Er hatte die Adressen einiger Verlage heraus gesucht, an die wir das Manuskript schicken wollten. Wir suchten in der ganzen Wohnung nach den Blättern und fanden sie nach mehreren Stunden schließlich unter ihrer Matratze. Darum lag sie immer soviel höher als ich, murmelte unser Vater.
Merkwürdigerweise waren dort nicht die Originale ihrer geschriebenen Seiten, sondern Kopien. Hunderte von Blättern, die sie mit ihrer kleinen Handschrift gefüllt hatte. Die Seiten waren nummeriert und datiert, und sie begannen alle mit einer Anrede.
Ein Briefroman, dachten wir. Unsere Mutter belebt die alte Form des Briefromans neu.
Unser Vater las feierlich die ersten Seiten des Papierbergs vor. Je länger er las, desto leiser las er.
Wir wurden auf unseren Stühlen immer kleiner. Es war nicht so, daß es schlecht war, was unsere Mutter geschrieben hatte, ganz im Gegenteil, es war sehr gut. Lebendig und anschaulich beschrieben, sie hatte eine sehr bildhafte Sprache. Aber je länger unser Vater las, desto klarer wurde, es handelte sich nicht um einen Briefroman, sondern diese Briefe waren an einen tatsächlichen Empfänger gerichtet.
Mutter hatte ein Patenkind in Nicaragua gehabt, das sie finanziell unterstützt, und dem sie all die Jahre Briefe geschrieben hatte. Tosa hieß das Mädchen.
In einem Ordner lagen mehrere Fotos von Tosa. Tosa mit einem weißen Kleid und einer Tolle auf dem Kopf als Zweijährige - das Alter, in dem unsere Mutter die Patenschaft übernommen hatte - Tosa bei ihrer Einschulung mit einem Foto von unserer Mutter in der Hand, Tosa als Studentin mit Kostüm und stolzem Blick, Tosa mit Doktorhut.
Unsere Mutter hatte ihr vom Leben in Deutschland geschrieben, hatte Erlebnisse aus ihrer eigenen Kindheit bis ins letzte Detail geschildert, hatte sich nach Tosas Leben erkundigt, immer wieder gefragt, wie sie in der Schule zurecht kam, ob das Geld reiche (sie hatte den monatlichen Beitrag mehrmals erhöht), was sie werden wolle, wie die Leute in ihrem Dorf seien, ob sie genug zum Anziehen hätte. Als Tosa älter wurde, hatte unsere Mutter Kochrezepte mit ihr ausgetauscht, und noch später hatten die beiden sich über Liebesglück und Liebesleid eines jungen Mädchens unterhalten.
Unsere Mutter schrieb einmal knapp in einem Nebensatz, daß sie verheiratet sei.
Uns, meinen Bruder und mich, erwähnte sie mit keinem Wort.

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