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Autorenbuch Sandra Niermeyer Der Schneezug – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Sandra Niermeyer

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Der Schneezug


Ich ziehe meinen Kopf in den Mantelkragen. Einlaufende Züge machen mir Angst. Die Kraft und die Geschwindigkeit, mit der sie in den Bahnhof einrollen. Dieses ist ein alter Zug, er quietscht und klappert, als er anhält. Die Waggons sind in einem merkwürdigen Mintgrün gestrichen. Aus Polen kommt er. Einige Abschnitte sind Schlafwagen. Als Reisende die Fenster öffnen, um Frischluft zu schnappen, quellen die Bettdecken fast bis auf den Bahnsteig. Andere Wagen sind normale Abteile. Durch die Scheiben sehe ich Menschen, die Schlafanzüge tragen oder T-Shirts ohne Hose. Ich laufe an den Waggons vorbei, mein Atem pustet weiße Wölkchen in die Luft. Ich habe nicht reserviert, und die Sitze scheinen bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Ich laufe bis zum hinteren Teil des Zuges. Dieser Wagen ist ganz leer. Anscheinend hat sich niemand die Mühe gemacht, bis hierhin zu laufen. Ich erklimme die Treppe, die viel höher und steiler ist als bei den modernen ICE, und als ich den Gang betrete, fällt auch schon die Tür hinter mir ins Schloß, ein Pfiff ertönt und der Zug setzt sich in Bewegung. Irgendetwas ist merkwürdig in diesem Wagen, aber es fällt mir nicht sogleich auf, was es ist. Ich schiebe die Verbindungstür zu den einzelnen Abteilen auf, der Türgriff ist eiskalt. Und dann sehe ich, was nicht stimmt. Der Raum ist leer, kein einziger Reisender sitzt darin, auf dem Boden liegt Schnee. Die Kälte war es, die mir unterbewußt gleich aufgefallen war. Hier ist es unter Null Grad, sonst würde der Schnee nicht liegen bleiben. Im Dach des Waggons sind einige Löcher. Ein gesperrtes Abteil, ein Geisterwagen.
Bis zum nächsten Bahnhof fahren wir acht Stunden. Ich werde erfrieren, wenn ich so lange in diesem Schneewagen bleibe. Ich laufe zur gegenüberliegenden Tür, die an den nächsten Abschnitt angrenzt und hoffe, mich durch die beiden Scheiben den Reisenden bemerkbar machen zu können, aber der Gang des voranfahrenden Zugteils liegt völlig im Dunkeln. Die Verbindungstür ist mit einem Vierkantschlüssel verschlossen, damit niemand in diesen stillgelegten Bereich hinüberwechseln kann.
Ich erinnere mich an die kleine füllige Schaffnerin in ihrer dunkelroten Uniform, an der ich auf dem Bahnsteig vorbei gelaufen bin. Hat sie nicht gesehen, wie ich in den letzten Zugteil eingestiegen bin?
Ich setze mich auf einen der Sitze nahe der Verbindungstür, den Blick auf den dunklen Gang gerichtet. Vielleicht geht sie zufällig vorbei.
Das Polster des Sitzes ist hartgefroren, meine Füße stehen im Schnee. Ich habe viel zu dünne Schuhe an, mit Ledersohlen.
Ich blase in meine Hände.
Erfrieren soll ein schöner Tod sein, habe ich gelesen. Ich hole die wenigen Kleidungsstücke aus meinem Rucksack, die ich mitgenommen habe, und ziehe alles übereinander, zwei Hosen, die obere bekomme ich nicht zu, zwei Pullover, dann setze ich mich auf meinen Rucksack. Eine Weile wird es gehen. Aber nicht acht Stunden. Ich werde mich bewegen müssen, aber ich spüre, wie ich müde werde. Bei Kälte ergreift mich immer eine übermäßige Schläfrigkeit, als würden alle Funktionen meines Körpers heruntergefahren und zum Wachsein seien nicht mehr genügend Energien vorhanden. Ich schließe die Augen.
Das Geräusch der Räder sirrt, es hört sich wie ein Singen an. Ich fühle mich an ein Lied erinnert. Weißt du wieviel Sternlein stehen. Meine Eltern sangen es mir abends, wenn sie mich ins Bett brachten, vor. Meinem Vater geriet die Melodie immer ganz furchtbar schief. Trotzdem ist das eine der wenigen positiven Erinnerungen. Wie er sich bemüht, mir die erste Strophe des Liedes vorzusingen, und wie ihm kein einziger Ton gelingt. Seine Versuche rührten mich mehr, als wenn er perfekt geklungen hätte.
Plötzlich höre ich das Lied ganz deutlich. Gott, der HErr, hat sie gezählt. Als würde es irgendwo in diesem Raum gesungen und nicht nur in meiner Erinnerung. Aber nicht von einer ungeübten Männerstimme, sondern von einer hohen und piepsigen Kinderstimme. Ich öffne die Augen. Über eine der Sitzlehnen vor mir ragt ein Kinderkopf. Das Kind singt mit weit aufgerissenem Mund.
Wie lange bist du schon hier, frage ich. Das ist das erste, was mir einfällt.
Das Kind antwortet nicht, es singt weiter. Ich öffne meine Augen ganz weit. Im Abteil ist es dämmrig und vielleicht täuscht mich mein Blick, oder ich bin eingeschlafen und halte diesen Traum für Wirklichkeit. Ich kann alle Dinge nur schemenhaft erkennen, wie in meinen Träumen. Ich kneife die Augen ein paar Mal zu, bis sie tränen.
Das Kind ist immer noch da, es kommt auf mich zu. Es ist ein häßliches Kind. Es trägt einen schräg geschnittenen Pottschnitt, eine zu große Brille, hat schiefe Zähne, und dünn ist es, furchtbar dünn. Es kommt mir merkwürdig bekannt vor, als hätte ich es schon einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Es ist zu leicht angezogen, ohne Jacke.
Wo kommst du her, frage ich das Kind. Es deutet unbestimmt durchs Fenster, auf die weiße Schneelandschaft. Dort her, sagt es schlicht.
Ich kann nicht erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist, die hohe Stimme deutet auf ein Mädchen hin, aber die Gesichtszüge sind die eines Jungen. Ich traue mich nicht zu fragen, weil ich weiß, wie es mich früher immer geärgert hat, wenn mich jemand für einen Jungen hielt.
Sing mir etwas vor, sagt das Kind.
Es ist zu kalt zum Singen, sage ich knapp.
Das Kind zieht eine Schnute. Ich friere, sagt es.
Kein Wunder, sage ich, du bist viel zu dünn angezogen. Ich blicke es böse an, als wäre es ein Angriff gegen mich, daß es so bloß herum läuft. In Wirklichkeit meldet sich mein schlechtes Gewissen, weil ich ihm keins meiner Kleidungsstücke abgebe.
Wo sind überhaupt deine Eltern, schnauze ich es an.
Das Kind fängt an zu weinen. Ich weiß es nicht, schluchzt es. Gelber Rotz läuft aus seiner Nase. Ich sehe es angeekelt an. Nun stell dich mal nicht so an, sage ich. Ich verhärte innerlich immer mehr, je länger ich dieses Kind anschaue. Und dann kommt es mir auch noch mit jeder Minute bekannter vor. Wo habe ich dich nur schon mal gesehen, sage ich mehr zu mir selbst.
Das Kind sieht mich an, es schweigt. Es hat viel zu kleine Augen durch die dicke Brille, und Schlupflider, genau wie ich. Über die habe ich mich schon immer geärgert. Du hast dir den Salat selber eingebrockt, sage ich, und jetzt heulst du. Die Sätze, die ich abspule, kommen gar nicht aus mir, sie kommen vielmehr durch mich hindurch. Als hätte jemand anders sie gesagt und ich würde sie nun lediglich wiedergeben.
Das Kind hört auf zu weinen und kneift die Lippen zusammen. Es tut mir leid, daß ich so hart zu ihm bin. Jetzt putz dir mal die Nase, fahre ich es an, man ekelt sich ja vor dir. Schon wieder ist mir ein Satz entwichen, der gar nicht zu mir zu gehören scheint.
Das Kind putzt sich die Nase an seinem Pulloverärmel ab. Der gelbe Rotz bleibt auf dem Bündchen kleben. Ich wende angewidert meinen Blick ab und erinnere mich daran, wie meine Pulloverärmel als Kind aussahen. Eine Schleifspur neben der anderen. Ein Taschentuch hatte ich nie dabei.
Warum bin ich so hart mit dem Kind? Ich habe mir diese Situation doch auch selbst eingebrockt, bin in einen still gelegten Wagen gestiegen. Schön dumm.
Spielst du nun mit mir, fragt das Kind. Nein, sage ich, laß mich in Ruhe, ich will schlafen. Kinder haben immer soviel Energie. Ich schließe demonstrativ die Augen. Dieses Kind nervt mich. Plötzlich fällt mir wieder ein, wo ich das Kind gesehen habe. Einzelne Bilder schießen durch meinen Kopf, wie Schnappschüsse. Bevor ich bei einem Bild verweile, reiße ich die Augen wieder auf. Das Kind steht immer noch da. Kann es sein? Die Bilder schießen weiter durch meinen Kopf, auch mit geöffneten Augen. Ein Kind im Sandkasten, im Laufstall, im Strandkorb. Mein Mund wird trocken. Also, sage ich, wie heißt du?
Sage ich nicht, antwortet das Kind, du mußt raten.
Ein Name liegt mir ganz vorne auf der Zunge, aber ich traue mich nicht, ihn auszusprechen, aus Angst, richtig zu liegen.
Du bist langweilig, sagt das Kind. Du singst mir nichts vor, du spielst nicht mit mir, du sitzt nur herum.
Ich mußte mich früher auch alleine beschäftigen, motze ich das Kind an. Geh und sieh zu, wie du etwas zum Spielen findest. Form doch Schneebälle, wenn dir langweilig ist.
Das Kind läßt sich mit dem Po in einen Schneehaufen fallen und beginnt mit den Händen im Schnee zu wühlen. Seine Finger sind schon ganz rot gefroren.
Du bist verwöhnt, sage ich zu dem Kind, dir geht es viel zu gut.
Ich wundere mich, wo der Satz her kommt. Ich scheine ein ganzes Arsenal dieser Sätze gespeichert zu haben.
Das Kind blickt nun nicht mehr auf, es sieht verschämt in den Schnee. Sein niedergeschlagener Blick reizt mich, ihm noch eins drauf zu geben, vielleicht, um mein schlechtes Gewissen zu übertönen.
Plötzlich kommt der Zug mit einem Ruck zum Stehen. Offenbar sind die acht Stunden schon herum. Ich laufe an dem Kind vorbei zur Tür. Die Schaffnerin mit der weinroten Uniform steht davor. Unter ihrem Rock ragen kurze stämmige Beine hervor. Sie spricht auf polnisch auf mich ein. Ich verstehe sie nicht, aber ich fühle mich merkwürdig schuldig, daß ich so dumm war und mich in diesem stillgelegten Zugteil habe einschließen lassen. Sie weist mich zurecht, ich sehe es an ihrem Gesichtsausdruck. Wie in Zeitlupe geben meine Beine unter mir nach und ich sinke langsam zu Boden. Schnee drückt kalt an meine Wange, dann spüre ich nichts mehr.
Als ich meine Augen wieder aufschlage, sind mehrere Leute über mich gebeugt. Wieso sind Sie denn in den Wagen eingestiegen? fragt jemand auf Deutsch. Haben Sie nicht gesehen, daß er gesperrt war?
Das Kind, sage ich, meine Stimme klingt piepsig, da ist noch ein Kind drin.
Einer der Umstehenden dreht sich um und geht in das Abteil. Nach einer Minute kommt er zurück. Da ist kein Kind, sagt er. Doch, sage ich, ein Kind. Er schüttelt den Kopf und sieht mich mitleidig an. Sie sind erschöpft, sagt er, Sie stehen möglicherweise unter Schock.
Ich schließe wieder die Augen. Der Untergrund unter mir ist hart und kalt. Wenn mich doch jemand aufheben und wegtragen würde, sich um mich kümmern würde. Aber das ist als Erwachsene vielleicht zuviel verlangt. Ich rappele mich hoch und klopfe mir den Schnee vom Mantel, dann trotte ich hinter der Schaffnerin und den andern her zu einem anderen, wärmeren Wagen.

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