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Autorenbuch Sandra Niermeyer Nimm Zwei – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Sandra Niermeyer

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Nimm Zwei


Nimm zwei
, sagte meine Mutter. Sie meinte damit nicht die Vitaminbonbons.
Weil sie so drängte, unternahm ich schon früh einen Versuch, mir wenigstens einen zu sichern. In der fünften Klasse saß ein Junge vor mir, in dessen Nacken- und Schulterpartie ich mich während des Physikunterrichts verliebte. Ich schrieb ihm einen Zettel, den ich einmal durch die ganze Klasse wandern ließ, bis er bei ihm ankam. Wie findest du mich, schrieb ich, gut oder nicht gut, bitte ankreuzen, darunter malte ich zwei Kästchen. Er setzte das Kreuz genau in die Mitte.
Dieses Schema wiederholte sich noch mehrmals. Männer konnten sich einfach nicht für mich entscheiden. Weder für mich, noch gegen mich.
Meine Mutter hatte auf dem Gebiet weniger Schwierigkeiten.
Ich habe zwei Väter, einen biologischen, und einen anderen. Der biologische wohnt bei uns in der Wohnung und ist mit meiner Mutter verheiratet, der andere kommt meine Mutter immer dann besuchen, wenn mein biologischer Vater bei der Arbeit ist. Die beiden wissen voneinander. Manchmal essen wir zu viert Abendbrot, meine Mutter, meine beiden Väter und ich. Meine Mutter ist groß, schlank und blond, genauso wie mein anderer Vater. Mein biologischer Vater ist klein, untersetzt und dunkel, genau wie ich.
Ich dachte, wer sich für meine Mutter interessiert, kann sich nicht für mich interessieren, und umgekehrt.
Einmal schaffte ich es, einen Jungen zu  mir nach Hause einzuladen, ich war damals schon achtzehn, ich hatte lange gewartet und es hatte mich Überredungskunst gekostet. Als er in mein Zimmer kam, ich hatte damals ein Zimmer im Keller, sagte er: ich habe gerade deine Mutter im Treppenhaus getroffen.
Sie hatte ihn eine halbe Stunde festgeredet und erst dann wieder laufen lassen. Sie ist ganz anders als du, sagte er, dümmer. Ich küßte ihn daraufhin. Ich ließ meine Augen dabei offen, weil er seine ebenfalls offen ließ.
Später, als er weg war, zog mich meine Mutter in die Küche, meine beiden Väter waren nicht da. Was war das denn für einer, sagte sie, was hatte der für Augen, vor dem hätte ich Angst, den würde ich nicht in mein Zimmer lassen.
Ich fand seine Augen schön. Aber es beruhigte mich, daß sie sie nicht schön fand.
Wir trafen uns öfter in meinem Kellerzimmer, nur einmal gingen wir hinaus, und das beendete unsere Beziehung. Wir fuhren an einen See und mieteten ein Tretboot. Er hatte eine Sektflasche mitgebracht, die wir während des Tretens leerten. Es waren nicht die Schlingpflanzen, in denen wir uns plötzlich verfingen, die den Nachmittag zu einem Desaster werden ließen, es war die Biene, die mich stach. Ich bin allergisch gegen Bienenstiche, es ist erblich, meine Zunge schwillt an, ich kann nicht mehr atmen, ich werde völlig panisch. Die Biene stach mich in den Finger, in den kleinen, aber es ist völlig unerheblich, wo ich gestochen werde, die Reaktion ist immer allergisch. Das Boot hatte sich mit den Tretblättern in den Schlingpflanzen verfangen, wir bekamen es nicht los, selbst als er ins Wasser sprang und an den Pflanzen zog, blieb es fest. Wir hätten ans Ufer schwimmen müssen, um zurück zu kommen, aber ich war schon kurz davor, ohnmächtig zu werden, an Schwimmen war nicht mehr zu denken. Ich muß furchtbar ausgesehen haben, seinem Blick nach zu urteilen. Meine Zunge wird dick und quillt heraus, wie bei einem Erhängten, meine Augen treten hervor, mein Gesicht wird blau. Ich bin wahrlich kein schöner Anblick mehr. Er sah mich an und wendete sich dann angeekelt ab. Ein anderes Pärchen, das mit seinem Tretboot ebenfalls dieses abgeschiedene Plätzchen aufsuchen wollte, brachte mich ans Ufer, der Bootsverleiher rief einen Krankenwagen. Der Wagen kam in letzter Minute, ich wäre fast erstickt.
Mein Freund mit den schönen Augen folgte mir nicht ins Krankenhaus, er rief später nicht bei mir an, um mich zu fragen, wie es mir ging, er schrieb nicht. Ich sah ihn nur noch einmal wieder, von hinten.
Ich bin manchmal etwas fatalistisch. Ich dachte, diese Krankheit, diese Allergie, würde mich dazu verdammen, auf ewig unbemannt zu bleiben. Welcher Mann will schließlich eine Frau, deren Gesicht blau anläuft und deren Zunge herausquillt wie bei einem Erhängten?
Ich wandte mich von meinem Körper ab und meinem Kopf zu. Ich begann, mit meinen beiden Vätern Schach zu spielen und brachte es bald zur Meisterschaft darin. Den anderen Vater besiegte ich schon nach drei Tagen, den biologischen nach zwei Monaten. Sie meldeten mich für Schachturniere an, und ich saß stundenlang schweigend vor einem Brett, hob dann eine Hand und stellte eine Figur dorthin, wo ich sie schon vor zwei Stunden hatte hinstellen wollen. Aber ich kannte die Regeln, und die hießen, handele nicht überstürzt.
Meine Mutter saß im Publikum, mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen stolz und gelangweilt schwankte. In der Pause sprach sie alle gutaussehenden Männer am Büfett an, und sagte: das war meine Tochter, die dort eben gewonnen hat. Ach wirklich, sagten die Männer, und wendeten sich ihr zu, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Sie war manchmal von einer ganzen Männertraube umgeben. Vitamin A, B, C, D, E, nannte ich die Männer. Sie ließen ihre Haut strahlen und ihre Augen glänzen, sogar ihr Haar schimmerte stärker als sonst.
Ich möchte nicht noch mehr Väter, sagte ich, als wir wieder zu Hause waren. Ach Kind, sagte sie, stell dich doch nicht so an.
Wenn mein anderer Vater und mein biologischer Vater bei der Arbeit waren, traf ich manchmal E oder D bei uns im Badezimmer. Sie bemerkten mich nicht, sie übersahen mich einfach. Ich hatte Recht damit, wer sich für meine Mutter interessierte, interessierte sich nicht für mich. Aber ich war intelligenter, sagte ich mir, ich konnte Schach spielen. Wer sich für mich interessierte, konnte sich nicht für sie interessieren, nicht wahr. Ihr Wissen erschöpfte sich darin, den passenden Nagellack zum Lippenstift auszuwählen.
Irgendwann schrieb ich meinem Freund mit den schönen Augen einen Brief. Ich bin vollkommen wieder hergestellt, schrieb ich, mein Gesicht hat seine normale Farbe zurück, meine Zunge ist wieder klein, und wenn ich atme, schnaufe ich nicht.
Ich vermißte ihn mit jedem Schachturnier, auf das ich ging, mehr. Die Männer, gegen die ich gewann, waren alt und dickbäuchig und keiner hatte solche Augen wie er. Er antwortete mir, nur kurz, aber immerhin. Er schrieb, er vermisse mich ebenfalls, aber er sei im Moment so eingespannt. Womit er so eingespannt war, schrieb er nicht. Aber ich nahm an, er mußte sich auf Prüfungen vorbereiten. Ich schickte ihm eine kleine Karte, auf die ich schrieb, das sei in Ordnung, ich würde auf ihn warten, und dann wartete ich.
Ich vervollkommnete meine Schachkenntnisse und versuchte, das Badezimmer nur dann zu betreten, wenn es nicht von Multivitaminbonbons besetzt war.  
Meine beiden Väter machten einen frustrierten Eindruck. Ich glaube, sie trösteten sich manchmal gegenseitig. Meine Mutter blühte immer mehr auf.
Ich habe gehört, sagte ich ihr am Mittagstisch, daß zu viele Vitamine ungesund sein können, der Körper kann einen Vitaminüberschuß nicht verarbeiten, die überflüssigen Vitamine sammeln sich als Abfall an den Zellwänden an. Sie verstand mich nicht. Sie verstand Dinge der Art generell nicht. Vielleicht drückte ich mich auch unverständlich aus. Wir kamen von verschiedenen Planeten.
Warten macht die Haut schlaff und die Augen stumpf. Während mein Gehirn auf doppelte Größe anwuchs, schien der Rest von mir zu verfallen. Das störte mich vorerst nicht, denn selbst wenn ich strahlend schön gewesen wäre, war ich immer noch klein, dunkel und untersetzt, daran ließ sich nichts ändern.
Es störte mich erst, als ich meine Mutter auf dem Wohnzimmerteppich sitzen sah, mit einem ihrer Verehrer im Schneidersitz gegenüber. Er legte eine Hand auf ihre Wange. Ich sah nur seinen Hinterkopf. Es war mein Freund mit den schönen Augen. Sie sah mich über seinen Kopf hinweg an und hielt meinen Blick. Ich schloß die Wohnzimmertür sehr leise, dann schlug ich allen meinen Schachfiguren den Kopf ab und begrub die Körper im Garten neben dem Komposthaufen. Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte sie übereinander liegend auf dem Küchenfußboden erwischt, aber nicht mit seiner Hand auf ihrer Wange.
Sie war nicht verlegen oder reuevoll am Abendbrottisch. Im Gegenteil, sie schien stolz. Ich bin zwanzig Jahre älter als du, sagte sie, und guck mich an.
Guck mich an, was ich geschafft habe, meinte sie.
Ich dachte, du magst seine Augen nicht, sagte ich. Sie zuckte die Schultern. Ich kann doch meine Meinung ändern.
In Wirklichkeit änderte sie nie ihre Meinung. In Wirklichkeit verliefen ihre Gedanken in festgefahrenen Bahnen.  
Du mußt es ihr nicht übel nehmen, sagte mein anderer Vater, sie ist so, sie muß sich beweisen, sie meint es nicht böse.
Ich habe es satt, immer ihr Verhalten von euch entschuldigt zu bekommen, antwortete ich.
Sie ist kein schlechter Mensch, sagte mein anderer Vater, dumm aber lieb.
Mein biologischer Vater holte sein Schachspiel heraus. Mit ihm redete ich nicht soviel, wie mit dem anderen Vater. Wenn er mich aufzumuntern versuchte, reparierte er mein Fahrrad, oder strich mein Zimmer in einer Farbe, die ich schon immer wollte, oder schenkte mir drei Neuerscheinungen zum Thema Schach. Ich spielte eine Runde mit ihm, weil ich nicht wollte, daß er traurig war, weil ich traurig war.
Ich habe euch gesehen, schrieb ich meinem ehemaligen Freund mit den schönen Augen. Ich dachte, du magst sie nicht, ich war mir so sicher.
Sie hat etwas, schrieb er zurück, von dem du etwas geerbt hast.
Ich hatte vor allen Dingen eins geerbt.   
Ich beobachtete sie von da an genau. Nicht, um von ihr zu lernen, sondern um sie mir einzuprägen. Wie ein altes Foto.
Meine beiden Väter waren glücklich, als wir wieder zu viert am Tisch saßen und ich nicht mehr verstockt schwieg und meiner Mutter das Salz reichte, wenn sie darum bat. Sie traf sich mit meinem ehemaligen Freund mit den schönen Augen nur noch außer Haus. Das hatte ich meinen beiden Vätern zu verdanken, vermutete ich.
Ich ging mit ihr einkaufen und ging dabei Arm in Arm mit ihr durch die Stadt, genauso, wie sie es wollte. Die strahlende Mutter mit der kleinen dicklichen Tochter am Arm. Ich war das Samtkissen für ihren Brillanten.   
Ich mußte lange warten, aber Warten hatte ich gelernt. Es dauerte über ein Jahr.
Wir gingen über einen Feldweg an einer Kuhwiese entlang, weil ich gesagt hatte, laß uns doch nicht immer durch die Stadt gehen, laß uns doch mal durch die Natur gehen, und sie hatte naserümpfend eingewilligt. Sie duftete nach dem blumigen Parfum, das ich ihr geschenkt hatte, mit dem ich vor jedem Spaziergang alle ihre Kleidungsstücke besprühte und das sie seltsamerweise mochte. Der Weg wurde immer schmaler und schmutziger. Wir mußten hintereinander gehen, sie ging vor, ich hinterher. Sie drehte sich manchmal zu mir um und sagte: so eine Idee kann auch nur von dir kommen. Meine Speiseröhre schmerzte vor Aufregung, ich konnte kaum noch schlucken, wir waren weit von jedem Bauernhof entfernt, und ich hatte die Biene gesehen, die auf ihrem Po krabbelte, auf dem weißen Stoff der Hose, der sich über ihren Pobacken spannte, sie krabbelte unschlüssig ein Stückchen nach links, dann nach rechts, und dann, als ich dachte, sie flöge weg, kroch sie senkrecht die Hosennaht hinauf, bis sie unter dem Saum des T-Shirts verschwand. 

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