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Autorenbuch Sandra Niermeyer Sonntag – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Sandra Niermeyer

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Sonntag


Frank Michler wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht, knüllte die vier Eintrittskarten zusammen und steckte sie in die Hosentasche. Seine Frau kam aus dem Souvenirshop auf ihn zu. Sie trug eine ärmelloses T-Shirt, unter dem man ihre Achselhaare sehen konnte. Er trat einen Schritt zurück, als sie vor ihm stehen blieb und eine Augenbraue hochzog. Sie griff in seine Gesäßtasche und zog sein Portemonnaie heraus, dann verschwand sie wieder im Laden. Er setzte sich auf eine Bank, nahm seine Mütze ab und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Es war Sonntag. Als Kind hatte er Sonntage gehaßt, als Jugendlicher hatte er Sonntage geliebt, nun haßte er sie wieder. Sonntags hatte er sich gewünscht, nicht da zu sein. Das wünschte er sich nun wieder.
Die Zwillinge kamen aus dem Laden gerannt. Ich wollte die rosane, schrie Corinna. Ich habe es zuerst gesagt, schrie Barbara zurück. Sie trugen beide eine perlenbesetzte Handtasche in der Hand, die eine aus rosafarbenem Stoff, die andere aus blauem. Anja ließ sich neben ihm auf die Bank fallen. Sie roch intensiv nach Deo. Sie wollen Karussell fahren, sagte sie. Er nickte. Ihm wurde schlecht vom Karussell fahren, Anja auch. Er stand auf. Wie teuer waren die Handtaschen, fragte er. Anja schirmte ihre Augen mit der Hand ab und sah ihn an. Er preßte die Lippen zusammen. Sie stand auf, sie war genauso groß wie er. Sie streifte ihn leicht mit dem Arm, als sie an ihm vorbei ging. Das Portemonnaie hatte sie auf der Bank liegen gelassen. Er hob es auf und steckte es in seine Gesäßtasche. Er sah den Zwillingen und Anja nach. Die Mädchen liefen, ihre Taschen hin und her schlenkernd, auf die Karussells zu, Anja folgte ihnen langsam, sie wischte sich alle paar Sekunden über die Augenbrauen. Ich fahre in den Safaripark, rief er ihr hinterher. Sie machte eine Handbewegung nach hinten, ohne sich umzudrehen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. Sie ging mit ihrem leicht wippenden Hüftschwung, weil eines ihrer Beine kürzer als das andere war. Er vergaß immer welches.
Er fragte an der Kasse, ob er mit der bereits gelösten Eintrittskarte nachher wieder in den Freizeitpark zurück könnte. Die Kassiererin nickte mit gerunzelter Stirn. Dann ging er zum Parkplatz und stieg in sein Auto. Er ließ den Wagen an und fuhr langsam über den Schotter am Parkplatzwächter vorbei auf die Straße. Der Safaripark lag nur fünfhundert Meter vom Freizeitpark entfernt. Er schaltete in den dritten Gang und fuhr an den Familien mit Kindern vorbei, die an beiden Seiten der Straße entlang gingen. Er stellte die Lüftung an. Das Auto roch neu. Es war teuer gewesen, aber er hatte es haben wollen. Auf dem Nummernschild standen seine Initialen, FM. Familie Michler, sagte Anja immer, das Auto gehört uns allen. Er hatte es bezahlt. Wenn er “mein Auto” sagte, korrigierte Anja ihn und sagte: unser Auto.
Er folgte den Schildern in Richtung Safaripark. An der letzten Kurve wies eine Affenattrappe den Weg. Er fuhr langsam an das Kassenhäuschen heran. Der Kassierer beugte sich vor. Mit dem Auto fahren sie auf eigene Gefahr, sagte er, Sie können auch mit einem unserer Bullis fahren. Die fahren jede halbe Stunde und sind vergittert.
Mit dem Auto, sagte Frank. Er hielt dem Kassierer einen Schein hin. Der nahm ihn und reichte eine Eintrittskarte heraus, auf der zwei Affenköpfe abgebildet waren. Frank fuhr langsam an der hochgezogenen Schranke vorbei in den Park. Er stellte das Radio an. Der Weg war an beiden Seiten mit Steinen eingefaßt, ringsherum war Wiese, auf der in großen Abständen ein paar verlassen aussehende Wärterwagen standen. Weiter hinten wuchsen ein paar verdorrte Bäume. Frank sah angestrengt in die Zweige. Affen waren nicht zu sehen, auch keine seltenen Vögel. Zweihundert Meter vor ihm fuhr ein Safaribulli, er fuhr extrem langsam. Frank schaltete einen Gang herunter. Dann sah er die Affen. In einer Baumgruppe saßen vierzig oder fünfzig von ihnen, in allen Größen, sie sprangen herum, kreischten, hielten sich aneinander fest, ließen sich auf die Erde fallen, rannten auf den Bulli zu, blieben kurz vorher stehen und rannten zurück. Der Bulli hielt an. Frank ließ seinen Wagen noch ein Stück rollen, bis er sich dem Bulli auf fünfzig Meter genähert hatte, dann hielt er ebenfalls an. Die Affen hangelten sich am Gitter des Bullis hoch und sprangen auf dem Wagendach herum. Sie stampften und kratzten, als wollten sie in den Wagen einbrechen. Frank stellte das Radio leiser und lauschte dem Gekreische. Wäre es Menschenkreischen gewesen, er hätte es nicht einzuordnen gewußt. Es klang nicht panisch, es klang nicht fröhlich, es klang allenfalls nervös. Er fuhr sich über das Kinn. Am hinteren Wagenfenster war der Kopf einer blonden Frau zu sehen. Sie saß dicht vor dem Gitter und beobachtete die Affen. Frank kniff die Augen zusammen. Sie mochte vielleicht Mitte, Ende dreißig sein. Sie trug ihr Haar gewellt und halblang. Sie sah aus wie Mia Wellner. Auf die Entfernung konnte sie Mia Wellner sein, vielleicht war sie es. Frank ließ seinen Wagen ein Stück vor rollen. Sie sah nun zu ihm hin.
Mit Mia Wellner hatte er auf dem Abschlußball getanzt. Die Zwillinge hatten einen Ballettkurs belegt und zum Abschlußball waren die Eltern eingeladen gewesen. Mia hatte eine Tochter, die so alt war wie die Zwillinge. Er hatte Mia manchmal gesehen, wenn er die Zwillinge und sie ihre Tochter nach der Stunde abgeholt hatten. Sie hatte ihn gegrüßt und angelächelt und eine Bemerkung zum Wetter gemacht. Ihm war nichts eingefallen, er hatte genickt und gegrinst und sich hinterher geärgert. Auf dem Abschlußball hatte sie ihn dann aufgefordert, einmal, und nachher hatte er sie aufgefordert. Er hatte auf ihr Haar gesehen, auf ihren Kopf, der ihm bis unters Kinn reichte, und er hatte plötzlich das Bedürfnis gehabt, sein Kinn auf ihre Haare zu legen.
Später, auf dem Nachhauseweg, die Zwillinge waren im Auto eingeschlafen, hatte er zu Anja gesagt, ich habe mit Mia Wellner getanzt. Ich weiß, hatte Anja gesagt, ich habe es gesehen.
Zweimal habe ich mit Mia Wellner getanzt, hatte er gesagt, einmal hat sie mich aufgefordert.
Anja hatte ihn von der Seite angesehen. Na toll, hatte sie gesagt, die tolle Mia Wellner.
Die Frau sah immer noch durch die Scheibe. Sie schien ihn anzusehen. Wenn er mit dem Auto aufholte, ganz dicht an den Bulli heran fuhr, konnte sie vielleicht vom Bulli in seinen Wagen wechseln, ohne daß die Affen sich auf sie stürzten. Er stellte sich vor, wie er sie in seinen Wagen ziehen würde. Fast wie im Film. Er würde sie aus einer Gefahr retten. Bevor die Affen sie angreifen könnten, hätte er sie schon in seinen Wagen gezogen und die Tür zugeschlagen. Erschöpft würde sie in den Sitz fallen, sich die Haare aus dem Gesicht streichen und ihn ansehen. Danke, würde sie sagen. Keine Ursache, sagte er. Er sprach die beiden Worte in das Wageninnere. Das Radio spielte leise. Die Frau neben ihm atmete immer noch schnell. Das war wirklich knapp, sagte sie. Er sah sie unauffällig von der Seite an. Die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse waren offen, der dritte spannte ein wenig. Er wendete seinen Blick wieder ab. Sie sehen aus wie eine Frau, die ich kannte, sagte er gegen die Scheibe gerichtet. Ich weiß, sagte sie. Er nickte. Und? fragte sie, enttäuscht, daß ich es nicht bin? Er schüttelte den Kopf, sah sie wieder an. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit Mia Wellner. Sie hatte grüne Augen, keine blauen, und ihre Haare waren eine Spur dunkler. Ihre Ohren waren ungewöhnlich klein, auf dem Ohrläppchen hatte sie kleine goldene Härchen. Er sah wieder nach vorne, legte seine Hände auf das Lenkrad. Er strich über den Kunststoff, ließ seine Hände an beiden Seiten des Lenkrades nach unten wandern.
Sie haben schöne Hände, sagte die Frau.
Arbeiterhände, sagte er.
Schöne Hände, wiederholte sie, groß und stark.
Meinen Sie? fragte er. Er nahm seine Hände vom Lenkrad und drehte sie um. Innen waren Schwielen, die Haut löste sich an einigen Stellen ab. Meine Frau beschwert sich immer, daß meine Hände rauh sind und kratzen.
Sie streckte einen Finger aus und fuhr über seine Handinnenfläche. Nein, sagte sie, hart, aber nicht kratzig. Sie ließ ihren Finger bis zu seinem Handgelenk gleiten. Worüber beschwert sich Ihre Frau sonst noch, fragte sie.
Über meinen Geruch, sagte er, ich stinke. Die Frau rutschte ein Stück zu ihm hin. Sie näherte ihre Nase seinem Gesicht. Wo stinken Sie denn, fragte sie.
Nach der Arbeit, sagte er, nach der Arbeit stinke ich.
Riechen Sie dann so wie jetzt?
Er nickte.
Sie ließ ihren Mund seinen Hals hinunter wandern, legte ihre Nase in seine Halsbeuge und sog die Luft ein.
Er bewegte sich nicht, drückte seine Arme gegen den Körper. Zwei Affen näherten sich dem Wagen. Die Frau knöpfte sein Hemd auf, ihre Haare kitzelten an seiner Nase. Er sah den Affen über ihren Kopf hinweg in die Augen. Einer kletterte aufs Dach und trommelte darauf herum. Die Frau lachte leise. Meinen Sie, hier sind wir sicher, fragte sie.
Ich denke schon, sagte er.
Er setzte sich etwas bequemer hin, seine Beine schienen am Sitz festzukleben. Die Frau streifte ihm das Hemd von den Schultern, dann rutschte sie herüber und setzte sich rittlings auf seine Knie. Er sah auf ihren gespannten Blusenknopf. Die Affen hatten den Wagen eingekreist. Sie rissen an den Seitenspiegeln, liefen auf dem Dach herum und sahen immer wieder kreischend durch die Fenster ins Wageninnere. Die Wärterwagen waren verschwunden. Auch der Bulli war weg.  
Müssen Sie nicht, sagte er, ich meine, haben Sie nicht Familie in dem Bulli? Er kam sich dumm vor.
Vergessen Sie die Familie, sagte sie. Sie machte seinen Jeansknopf auf und zog den Reißverschluß nach unten. Er hielt die Luft an. Sie schob eine Hand in seine Hose.
Schön, sagte sie.
Sie beugte sich vor, ihre Haare fielen über sein Gesicht. Als sie sich auf ihn setzte, stieß sie einen überraschten Laut aus. Sie bewegte sich sehr langsam.
Die Scheiben waren blind und dreckig von den Fußabdrücken der Affen. Der Wagen schaukelte hin und her. Frank schloß seine Augen. Der Radiosprecher kündigte ein neues Lied an. Frank legte seinen Kopf gegen die Kopfstütze und stieß einen gepreßten Seufzer aus. Er ließ seinen Kopf gegen ihre Schulter fallen. Sie rutschte von ihm herunter und setzte sich auf den Beifahrersitz.   
Tut mir leid, sagte er.
Warum, sagte sie. Ich mag Quickies. Sie holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche. Darf ich rauchen?
Er nickte. Auf dem Handschuhfach klebte ein Schild mit einer durchgestrichenen Zigarette. Anja hatte es dahin geklebt.
Die Frau ließ ihr Feuerzeug aufflammen. Sie inhalierte tief.
Mit Anja hatte er das letzte Mal vor zwei Monaten geschlafen. Die Zwillinge waren bei Freunden gewesen und die Nachmittagssonne war aufs Bett gefallen. Er hatte sich auf Anja gelegt und seine Arme unter ihren Achseln hindurch geschoben, ihre Schulterblätter berührt. Warum bist du so blaß, hatte sie plötzlich gesagt und eine Hand ausgestreckt. Sie hatte sein unteres Augenlid mit dem Finger nach unten gezogen, genauso, wie sie es bei den Zwillingen immer machte, und gesagt: deine Lider sind ganz blutleer, du hast Eisenmangel. Er hatte nachher einen roten Streifen unter dem Auge gehabt, als hätte sie ihn gekratzt.
Möchten Sie eine? Die Frau hielt ihm die Schachtel hin.
Er schüttelte den Kopf.
Nichtraucher?
Seit ein paar Jahren. Er wollte noch etwas hinzu fügen, ließ es dann aber. Sie blies den Rauch gegen den Wagenhimmel. Er sah zu, wie sich die Schwaden langsam auflösten.  
Der Bulli kam zurück.
Sie vermissen mich, sagte die Frau.
Er nickte. Ja, sagte er.
Sie küßte ihn auf die Wange, öffnete die Wagentür und kletterte schnell in die aufgehaltene Tür des Bullis. Sie winkte ihm durch die Scheibe zu. Er winkte zurück. Als der Bulli aus seinem Blickfeld verschwunden war, ließ er seinen Wagen an und fuhr langsam weiter. Er blickte in den Rückspiegel. Weiter hinten näherte sich ein Wagen im Schneckentempo. Die Affen waren weg. Er sah auf die Uhr. Drei Uhr nachmittags, vielleicht hielten sie Mittagsruhe. Er rollte an dem Parkwächter vorbei und nickte ihm grüßend zu. Dann fuhr er zum Freizeitpark zurück.
Die Frau an der Kasse erkannte ihn wieder. Sie winkte ihn durch, ohne nach seinem Ticket zu fragen.
Anja und die Kinder saßen auf der Bank vor dem Souvenirshop. Die Zwillinge hatten eisverschmierte Münder. Karamel und Stracciatella, vermutete er.
Wo warst du so lange, sagte Anja.
Im Affenfreigehege, sagte er.
Sie murmelte etwas, das er nicht verstand. Die Zwillinge kicherten.
Er drehte sich um und sah über die Parkfläche. Alles schien in eine merkwürdige Erstarrung gefallen zu sein. Auf einigen Bänken und Mauervorsprüngen saßen Familien, die sich kaum noch bewegten.
Laß uns endlich fahren, sagte Anja. Sie stand auf und streckte sich. Die Haare unter ihren Armen waren naß und verklebt.
Sie gingen zum Parkplatz. Die Zwillinge schlenkerten ihre Taschen hin und her. Barbara schlug Corinna ihre Tasche auf den Kopf, Corinna reagierte nicht.
Ist das unser Auto? fragte Anja plötzlich. Ihre Stimme kippte in eine höhere Tonlage um.
Die Affen, sagte er, sie sind auf dem Auto herum gesprungen.
Anja hatte sich zu ihm umgedreht und die Arme in die Seiten gestemmt. Sieh dir den Lack an.
Frank sah sich den Wagen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Das Dach, die Kühlerhaube, die Scheiben, alles war mit braunen Fußabdrücken übersät. Dazwischen Kratzer, die kein Dreck waren. Eine Zierleiste war zur Hälfte abgerissen und hing herunter.
Man kann es überspritzen lassen, sagte er leise.
Ach ja, zischte sie, hast du dich gefragt, wieviel das kostet?
Die Zwillinge kratzten an den Fußabdrücken herum. Sie zogen ihre Finger durch die Schlieren und sahen dann nach, wieviel Dreck sich unter ihren Nägeln angesammelt hatte.
Frank schloß den Wagen auf. Er beobachtete die Knöpfe, die an allen vier Türen hochsprangen. Sein alter Wagen hatte keine Zentralverriegelung gehabt.
Anja ließ sich schweigend auf den Beifahrersitz fallen, die Zwillinge kletterten auf die Rückbank.
Frank ließ den Wagen an und fuhr los. Das Radio leuchtete auf und der Radiosprecher begann zu sprechen. Anja stellte das Radio aus, drehte ihren Kopf und sah aus dem Seitenfenster. Frank fuhr über den holperigen Weg vom Parkplatz hinunter. Im Rückspiegel sah er die Zwillinge mit offenen Mündern schlafen. Er fuhr auf die Autobahn. Es war ganz still im Auto. Der Wagen lief leise. Plötzlich drehte sich Anja zu ihm um. Sie zog ihre Nase kraus. Hier riecht es nach etwas, sagte sie. Sie schnüffelte. Nach Rauch? Hast du geraucht? Hier im Wagen? Sie sah ihn an. Zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte.
Frank richtete seinen Blick auf den weißen Mittelstreifen. Nein, sagte er. Nein. Habe ich nicht.

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