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Autorenbuch Sarah Fix Kindchenschema – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Sarah Fix

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Kindchenschema


In ihm sind keine Geschichten. Es gibt Menschen, die haben immer etwas zu erzählen. Jens nicht. Er könnte sagen, dass sich die Tage anfühlen als wären sie wasserblau. Aber keine Geschichten. Keine Sätze, die anfangen mit „Neulich, als ich auf der Straße ging, da kam mir ein Mann entgegen. Der sah vielleicht aus.“ Braucht man Geschichten?

Er hatte gerade sein Studium vorzeitig beendet. Eigentlich hat Jens es abgebrochen. Das Verb „abbrechen“ ist allerdings eher aktiv. So war es bei ihm nicht. Er hatte auslaufen lassen. Erst war er immer während der Seminare eingeschlafen, dann nicht mehr hingegangen und als es Zeit für die Semestergebühren war, hatte er gerade keinen Pfennig besessen. Leider konnte er sich auch nicht einreden, er sei zu etwas anderem berufen. Vielleicht zum Maler oder Schriftsteller. Er war nichts dergleichen. Er war einfach nur ziemlich faul und schlecht organisiert - Ein Künstler ohne den Willen zum Werk. Seine Schwester studierte Medizin und hatte einen Roman geschrieben. Parallel.

Er stieg in ein Taxi mit der Aufschrift „Ich tanke nur Erdgas“. Das klang gut. Das war das einzige bisschen Inhalt, das er sich in seinem Leben leistete. Nur Taxis benutzen, die Erdgas tankten. Dem Penner am Kottbusser Tor ein paar Cent geben. Biomilch kaufen und nur mit Froschreiniger sein Klo putzen. Seine Eltern dachten, er schreibe an seiner Magisterarbeit. Der Taxifahrer, der sich gar nicht verhielt als würde er nur Erdgas tanken, fuhr eine viel zu lange Strecke. Und als Jens ihm kein Trinkgeld gab, verabschiedete er sich noch nicht mal von ihm. Seine Eltern wohnten in Charlottenburg.
Er hatte einen Ordner unterm Arm als seine Mutter ihn umarmte, das kam glaubwürdiger. In der Schule hatte er mal „Tod eines Handlungsreisenden gelesen“, das war das letzte Buch, das er in die Hand genommen hatte.
„Wie läuft es in der Uni?“
„Gut, danke.“
„Hast du eine Freundin?“
„Nein, keine Zeit.“
„Deine Schwester kommt heute nicht zum Essen, sie muss so viel lernen.“
„Aha.“
„Dein Vater auch nicht, er hat Bereitschaft. Gut dass du noch nicht so im Berufsleben stehst.“
„Stimmt wohl.“
So verbrachten sie den Abend. Eigentlich war es ganz nett mit seiner Mutter. Auf der Rückfahrt stieg er in irgendein Taxi, kein Erdgastaxi. Der Fahrer war gleich viel netter. Zuhause stellte er fest, dass das Brot verschimmelt war und die Zahnpasta leer. Den Rest des Abends sah er fern.

Irgendwann hatte er angefangen, sich einzureden, er sei hochbegabt und einfach unterfordert. Das klang besser als faul. Am nächsten Morgen ging er frühstücken. An seinem Tisch saß ein alter Mann, der erstaunlich gut gekleidet war. Er fragte die Kellnerin nach dem Weg mit dem Auto nach Hamburg. Doch die wusste es nicht. In Kreuzberg fuhr niemand Auto. Der Mann studierte die Karte und  Jens die Kellnerin. Dann ging der Mann. Jens sah nicht, in welche Richtung. Auf dem Tisch lag ein Notizbuch. Jens steckte es in die Tasche und ging nach Hause.
Dort fing er an, das Notizbuch zu lesen. Er las fast eine Stunde lang. Er war so aus der Übung was das Lesen anging. Der alte Mann hatte im Detail eine Frau beschrieben. In kleiner, enger, aber gut leserlicher Schrift. Ihre Haare, ihr Gesicht und ihre Kleidung an jedem einzelnen Tag in der Woche. Er fand Passagen wie „heute trägt sie zu dem grasgrünen Rock ein hellblaues Oberteil. Das ist eine eher gewagte Farbkombination, aber es passt ausgezeichnet zu ihren Haaren.“ Der Mann hatte notiert, die Frau habe eine Gesichtsform, die dem Kindchenschema entspräche.
Er fand auch die Adresse des Herrn und er rief an, bevor er noch richtig darüber nachdachte.
„Ich habe Ihr Adressbuch gefunden.“
„Das habe ich mir gedacht. Danke, dass Sie mir Bescheid geben. Kann ich es mir abholen? Ich bin öfter mal in Berlin. Mir wäre es lieber, Sie schickten es nicht mit der Post.“
„Das denke ich mir.“
„Treffen wir uns nächste Woche wieder in dem Cafe, in dem ich es vergessen habe? Ich ruf Sie vorher noch mal an.“
Der Mann klang sehr höflich, aber auch ein bisschen nervös.

Jens las das Büchlein immer wieder. Die Frau musste so Mitte Dreißig sein. Sie schien eine Schönheit zu sein und immer trug sie Bücher mit sich. Ihre Lieblingsfarbe war rot. Die Schilderungen waren sachlich, wenn emotional dann eher verliebt, aber keineswegs sexuell. Der alte Mann schien die Frau zu lieben. Das sprach aus der Art, wie genau er sie beobachtete. „Heute trägt sie eine blassblaue Bluse. Unter dem Stoff sieht man den zarten Träger ihres BHs durchschimmern. Unter den Augen hat sie Schatten, sie scheint schlecht geschlafen zu haben.“

Jens traf sich mit seiner Schwester beim Essen im Blockhaus. Sie liebte Steak. Sie war ganz dünn, weil sie so viel lernte. Die Kellnerin hatte auch braune Haare, sie war aber nicht hübsch.
„Was macht deine Magisterarbeit?“
„Gut, danke.“
„Ich gehe nächste Woche auf Lesereise.“
„Ja, ich weiß.“
„Kommst du mit?“
„Keine Zeit, meine Magisterarbeit, weißt du.“
„Hast du eine Freundin?“
„Ja.“
„Kennen Mama und Papa sie schon?“
„Nein.“
Sie verabschiedeten sich förmlich. Abends las Jens noch mal in dem Notizbuch, suchte nach versteckten Botschaften, nach Details, die er übersehen hatte. Die Frau trug fast jeden Abend eine Sporttasche bei sich. Sie hatte schlanke Beine. Jens rief noch mal bei dem alten Mann an.
„Ich kann morgen leider nicht. Mir ist etwas dazwischen gekommen. Ein Termin.“
„Gut, dann am Wochenende.“
Der Mann klang enttäuscht.
Nachts träumte Jens von der Frau. Von ihren schlanken Beinen und ihrem braunen Haar. Von ihren zarten Ohrmuscheln, die aussahen wie gemalt und ihrer Lieblingsfarbe rot. Er wurde geweckt vom Telefon.
„Jens, hier ist Mama. Ich weiß Bescheid.“
Ihm wurde furchtbar schlecht, er würde keinen Pfennig Geld mehr bekommen.
„Bring sie doch mal mit.“
„Wen?“
Seine Exmatrikulationsbescheinigung?
„Deine Freundin natürlich, deine Schwester hat es mir erzählt.“
Sie verabredeten sich für die nächste Woche.

Jens beschloss, den Tag im Bett zu verbringen. Er trank drei Kannen Cafe. Er las wieder in dem Notizbuch. Der alte Mann beschrieb ein kleines Muttermal, das die Frau auf dem Handrücken hatte. Es hatte die Form eines Schmetterlings. Jens starrte an die Decke. Wenn man die Raufasertapete lange genug fixierte, dann konnte man Figuren erkennen. Direkt über ihm entdeckte Jens einen Schmetterling. Da musste er weinen. Was, wenn er einfach hier liegen bliebe? Wenn er jetzt in einen tiefen Schlaf sänke und  nie wieder aufwachen würde?  Was wenn Staub ihn einfach wie Watte unter sich begrübe? Schön wäre das. Aber er war ja nächste Woche mit seinen Eltern verabredet. Und er musste dem Mann das Buch wiedergeben. Er rief ihn an.
„Morgen hätte ich Zeit.“
„Gut, dann komme ich.“
„Extra aus Hamburg?“
„Ja, die Sache ist mir sehr wichtig.“
Nachts schlief Jens mit dem Buch unter dem Kopfkissen und am nächsten Morgen hatte er feine Linien im Gesicht.

Sie trafen sich wieder in demselben Cafe. Der Mann trug ein blaues Hemd und einen Siegelring. Er war ungefähr siebzig, sein Mercedes parkte direkt vorm Cafe im Halteverbot. Als Jens ihm das Buch reichte, zitterte die Hand des alten Mannes. Sie bestellten sich ein Frühstück. Jens erzählte ihm, dass er gerade sein Studium abgebrochen hatte. Der alte Mann erzählte ihm, dass er Professor für Biologie sei. Beim Essen sprachen sie nicht. Erst als der Mann schon ins Auto steigen wollte, stellte Jens ihm noch eine letzte Frage:
„Wer ist die Frau?“
Jens glaubte zu sehen, dass der alte Mann rot wurde.
„Ich weiß es nicht. Ich kenne noch nicht mal ihren Namen.“
Der alte Mann fuhr davon in Richtung Autobahn, er kannte den Weg ja jetzt.
Bis zu dem Treffen mit seinen Eltern schlief Jens schlecht. Er hatte schlimme Träume von Ohrmuscheln, aus denen Larven krochen. Von Haar, das ihm ausfiel. Von roten Vogelschnäbeln, die gierig Luft aus Glas durchschnitten.

Er hatte wieder einen Ordner mit der Aufschrift BWL 3 dabei, als er seine Mutter umarmte.
„Wo ist deine Freundin?“
„Ich hab gar keine.“
„Ach so.“
Sein Vater saß bereits am Tisch und unterhielt sich mit seiner Schwester. Man hatte sie eingeladen, nächste Woche zu Harald Schmidt zu kommen, weil ihr Buch sich so gut verkaufte. Sie sagten nichts dazu, dass er allein kam. Wahrscheinlich hatten sie es sich schon gedacht. Seine Schwester hatte eine Freundin mitgebracht.
„Jens, das ist eine Freundin. Carla. Sie studiert auch Medizin.“
Beim Essen fand Jens keinen Einstieg ins Gespräch und Carla fand er langweilig. Seine Schwester sprach die ganze Zeit von ihrer bevorstehenden Lesereise, der Vater von einer Operation am offenen Herzen, die er kürzlich durchgeführt hatte. Carla fragte ihn, ob er ihr bitte die Flasche Wasser rüberreichen könne. Sie lächelte ihn an. Sie hatte einen Leberfleck an der Wange, der aussah wie ein Schmetterling. Und braune Haare. Er fand sie nicht mehr langweilig.
„Ich muss euch was sagen.“
Seine Schwester blickte etwas verärgert drein, weil er das Gespräch so abrupt unterbrochen hatte.
„Was denn?“
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Auch die schönen braunen Augen von Carla.
„Ich habe mein Studium abgebrochen.“
Sein Vater ließ das Glas Wein auf den hellen Teppich fallen. Das würde hässliche Flecken geben.

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