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Autorenbuch Tania Kummer Das Haus der Maus – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Tania Kummer

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Das Haus der Maus


Auch kleine Körper brauchen Nahrung,

sagt er leise und pflückt eine Aprikose. Nella möchte sich bedanken, doch das Wort schraubt sich mühsam aus ihrem Hals, liegt ausgetrocknet wie ein Aas in der Wüste, es luftet nicht in ihrer Sprache, schliesslich klingt das
Danke
ungeschmirgelt echt.

Damals standen sie wie Adam und Eva vor diesem Baum, er hatte eine Aprikose gepflückt, die nicht reif war. Nella hatte abgebissen und ausgespuckt. Jos hatte gelacht und gesagt:
Komm schon, schenk mir dein Tessinerlächeln!

Sie beisst zu, die Frucht ist reif.
Apricot ist eine Frucht und keine Farbe,
sagt sie.
Und du trägst schwarz und nicht noir wie die Nacht.
Er hat recht.
Ich verstecke mich halt nicht hinter Farben,
sagt sie und denkt:
Aber hinter vermeintlich klugen Worten.

Sie ist am Vortag nach über einem Jahr neuerlich zu ihm gereist, damit er am ersten Todestag seines Bruders nicht alleine ist, und damit sie am ersten Todestages ihres Mannes nicht alleine ist. Für sie war der Bruder immer sein Bruder und der Mann immer ihr Mann, er war niemals nur Olaf. Erst mit seinem Tod kam die Verschmelzung der beiden Figuren und damit das schlechte Gewissen.
Nella hat nicht darüber nachgedacht, ob Jos vielleicht gerne alleine gewesen wäre, sie jedenfalls wollte nicht ohne Jos sein.
Er hat am Abend für sie gekocht, ist mit dem Rücken zu ihr gestanden, aus den Töpfen stieg der Dampf auf, sie sprach laut, damit ihre Stimme durch den Dampf zu ihm drang, sprach nie über Olaf, dem er sehr ähnlich sieht; seine Silhouette sah aus, als hätte ihn jemand nach Olaf geschnitzt.

Jos wohnt im Grünen, in einem zweistöckigen Häuschen. Im unteren Geschoss befindet sich das kleine Entree, die Küche, die Stube und das Badezimmer, das obere Geschoss zählt zwei Zimmer, sein Schlafzimmer und ein Zimmer mit Tisch, Stuhl und Matratze. Das Haus der Maus hat Nella es genannt, als sie ihn vor drei Jahren zum ersten Mal besucht hatte, in der Hoffnung auf ein Plätzchen für sie, das Kätzchen, ohne eine Meinung, ob der Platz kurz- oder längerfristig an sie vergeben werden sollte. Und fragt sich heute, ob die drei Jahre, in denen sie im Haus der Maus unregelmässig und unauffällig ein- und ausging, eine kurze oder lange Zeitspanne gewesen ist.

Am Morgen war sie schon lange wach gelegen, auf der Matratze, neben Tisch und Stuhl, doch sie wollte nicht aufstehen, sie wollte sich nicht entgehen lassen, Jos aufstehen zu hören. Sie ersuchte seinen Morgenplan wiederzuentdecken, zuerst die Treppe runter und auf die Toilette, dann die Treppe wieder hinauf, zurück ins Zimmer, das Geräusch, wenn er die Türe des Kleiderschrankes zur Seite schob, vielleicht noch das Metall einer Gürtelschnalle, wieder die Treppe runter, das Gurgeln der Kaffeemaschine. Doch sie hörte Jos nur die Treppe hinuntergehen, und als er nach einer Weile wieder hinauf kam, schloss sie schnell die Augen, als er wider Erwarten nicht zuerst in sein, sondern in ihr Zimmer trat. Einige Sekunden geschah nichts. Wegen des Hochsommers schlief sie nackt – doch sie lag auf dem Bauch, die Decke um die Taille, und er hätte ohnehin nichts Neues sehen können, nur ihr um ein Jahr gealterter Körper. Dann spürte sie, wie er mit einem Fuss auf die Matratze stieg – ihr Körper senkte sich nach rechts – und seine nassen Haare über ihrem nackten Rücken ausschüttelte. Sie wollte nicht quieken, denn so reagiert man nicht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Sie gab dumpfe Töne von sich und griff nach der Bettdecke, um sie sich über den Kopf zu ziehen. Jos lachte, er klang versöhnlich, als er sagte:
Kaffee ist fertig.

Die Sonne hitzt ihren schwarzen Rock, ihre schwarze Bluse und ihren schwarzen Schopf, während er ihr im Garten den aufgeschossenen Salat zeigt.

Nach dem Abendessen hatten sie viel getrunken. Jos ass eine Praline nach der anderen und die Schachtel gleich dazu, während Nella Müsterchen aus ihrem Alltag erzählte, auch von Helmi, ihrem Lieblingsschüler, der stets lieb ist und ihr trotzdem keck den Alltag erheitert.
Als ich eine Karte von Rumänien an die Wandtafel hängte und die Schüler aufforderte, die angrenzenden Länder zu benennen, schnellte Helmis Finger in die Höhe. Ich bat ihn, nach vorne zu kommen und in das leere Feld des nordwestlich angrenzenden Landes schrieb er «Angurn». Ich sagte: «Das stimmt leider nicht.»  Doch er sagte eifrig: «Natürlich ist das Angurn!» Ich brauchte eine Weile, bis ich realisierte, dass er Ungarn meint und machte mir einen Spass daraus, ihn noch einige Tage mit «Angurn!» aufzurufen.

Zum Schluss noch einen Appenzeller, Nella gähnte zum wiederholten Male.
Ich mache dein Bett,
sagte Jos,
nicht nötig,
sagte Nella.

Sie ging nach oben, zog ihre Pyjama über und lehnte sich an den Türrahmen, bis er auch nach oben kam.
Das Bad ist frei.
Sie wusch sich das Gesicht und putzte sehr lange die Zähne. Ein ganzes Jahr ist vergangen. Kann man Schmerz in Jahren wiegen? Und könnte es sein, dass ihr Schmerz leichter wiegt als der seinige, oder wiegt seiner noch weniger und wartet er darauf, dass sie es wagt? Ihre Spitzfindigkeit in der Suche nach einem Zeichen seinerseits hatte nachgelassen, ihre Kontrolle zugenommen. Sie hofft nicht mehr, sie blickt verwandtschaftlich zu ihm auf.

Nun jagt Jos mit dem Besenstiel nach einer Libelle, die an der Decke des Gartenzeltes summt. Nella zieht sich zur Treppe des Hauses zurück. Die dicke Katze kommt um die Ecke, schleicht sich an ihr vorbei ins Haus.
Verfloht,
denkt sie und fragt:
Wie heissen die Katzen mit den eingedrückten Nasen und den Augen, die immer tränen?Boxerhunde.
Nella lacht.
Sie setzt sich, klammert sich am Gartenstuhl fest, schlägt ein Bein über das andere, setzt den Fuss zurück auf den Boden, zieht ein Bein an, verschränkt die Arme um ihr Knie, zieht dann auch das andere Bein an. Es nützt nichts. Sie wackelt Jos entgegen. Sie will endlich wieder eine Erinnerung an ihn, eine handfeste Erinnerung, eine körperwarme. Sie hört die Uhr im Haus dumpf viermal schlagen, danach wird sie die Stunde verkünden, Nella summt, um die Ohren zu füllen. Sie will nicht wissen, wie spät es ist.

Jos isst langsam ein Joghurt, konzentriert sucht er am Schluss mit dem Löffel auf dem Boden des Plastikbechers nach Resten. Dann schaut er auf.
Du musst gehen.

Er sitzt am Steuer, trägt seine Brille. Sie dreht den Kopf zu ihm, er wird immer heller und dünner und scheint zu verschwinden.

Am Bahnhof verabschiedet er sich so, als würden sie sich in zwei Stunden wiedersehen, ein Wunder, dass er ihr nicht gar noch kameradschaftlich auf die Schulter klopft. Sie muss nicht kokettieren, um betrübt zu sein. Sie sieht zu ihm auf. Ganz bestimmt ist dies kein verwandtschaftlicher Blick mehr, denkt sie, das ist kein Blick, den man seinem Schwager in die Augen brennen sollte.

Was er früher so herzlich zu ihr sagte, klingt jetzt scheu und vorsichtig:
Schenk mir dein Tessinerlächeln,
sagt er, und tonlos fügt sie an:
Sonnig und warm.Sonnig und warm, Bella Nella,
sagt er traurig.

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