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Autorenbuch Volkmar Mühleis Der Brief, die Serviette – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Volkmar Mühleis

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Der Brief, die Serviette


Es steigt in dir auf, dass du leer bist. Und die Überwindung nicht mehr suchst. Wie das bloße Wahrnehmen die Dinge aushöhlt, vor dir, in der ganzen Aussicht. Die Gebäude, gegenüber am Ufer, entlang der Promenade und Kaimauern, die Schiffe im Dunst des trüben Spätnachmittags. Ein bleiches Treiben der weißen Kabinen, dazwischen vereinzelte Boote, zum Übersetzen von wem? Zurückgelehnt und ins Fenster gesetzt, scheinst du zu warten, mit der alltäglichsten Handlung, die ausbleibt und keinen Ruck mehr versetzt. Du hättest dich noch austariert – und wieder in die Waagerechte zurückgebracht –, nach den nächsten Überstunden. Doch unter den Fuß der Balance hat jemand dir eine Nachricht geschoben, die zu lesen unmöglich scheint.

 

Am Bug der Halbinsel füllen sich die Plätze mit der weitesten Sicht auf den Hafen, den Fluss, die Kräne. Sich in den Feierabend treiben lassen, aus der Hektik rudern, mit gleichmäßigen Zügen. Du erblickst die Frühlingsfanatiker, im Jackett wo du noch Mantel trägst. Ganz am Ende der Reihe sitzt eine Frau mit vertieftem Ausschnitt und lässt ihre Brüste blau werden, und im Bogen zur Kaispitze sammeln sich die bereits angestammten Belegschaften hinterm Windschutz in den Bänken. Das stadtromantische Panorama, der verkommene Industriezweig, zur Ausgehmeile gestutzt. Der Schwall an Entspannung drückt im Bauch des Lokals, das Gerede um dich herum wird zur Einheit von Ausgelassenheit, Tischerücken, Begrüßungsgelächter. Gedankenlos bestellst du einen Fisch und legst deine rechte Hand neben Serviette und Besteck. Kann es sein, dass du dich getäuscht hast? Dass hier alles so geblieben ist, nur du hast es nicht bemerkt? Den Kellner erkennst du wieder, die Gäste dem Anschein nach. Du hast den Beleg in der Tasche – dass immer der Apfel nach unten fällt, dass bar jeder Erfahrung ein Beweis gilt. Für was?

 

Wie du heute morgen daran dachtest, einen Tag müsstest du dir frei nehmen, ohne krank zu sein, und vielleicht nur, um es nicht zu werden. Wäre es heute gewesen, hätte er dich an einem andern Tag dann angesprochen?

 

Abends noch fühltest du dich eingeklemmt von den andauernden Gesprächen im Gang, mit den Kollegen, am Telefon, im Besprechungszimmer. Die Kommunikation des kleinsten persönlichen Interesses, gehalten von Professionalität, dem Bericht zur Sache, dem gemeinsamen Schwung. Die chronischen Beschwerden des Darüber-hinweg-sehens, Unterleibsstörungen, jedoch „nur im Stehen“. Vielleicht mal zum Facharzt. Stattdessen das tranige Kontinuum der bloßen Verzögerung, zurück vom Kaffeeautomaten, der vielleicht auch eines morgens intelligent sein wird und den Trott seiner besten Kunden zu beantworten weiß. Guten Tag Herr Jan, ich habe wieder frischen Mokka für Sie! Das geschlossene Sehen. Bilder überströmen dich, du schwimmst ihnen hinterher, lässt dich treiben von Unsinn zu Traum, im körperlichen Eingeholtwerden. Langsam läuft der jüngere Hintermann dir in die Beine, läuft unter dir her, man fällt nur noch, doch kommt nicht auf –

 

Du nimmst deine Gabel und zermahlst den verkrusteten Fisch.

 

Die Anspannung in deinen Augen, als hätte sie etwas mit deiner Arbeit zu tun, den Tagen am Bildschirm, im verblendeten Neonlicht. Sie gehen doch mit uns noch einen trinken? Haben Sie denn keinen Hunger? Nein, tatsächlich hattest du keinen Hunger. Ihr esst ja zusammen, am Abend, nur heute kannst du nichts essen, auch nicht diesen Fisch. Hat sie es gewusst? Konnte sie es denn wissen? Du siehst dich in deinen Zahlen und Rastern verschwinden, der Gesetzmäßigkeit, dem Schwindel. Du stehst an der Treppe, sie geht aus der Küche auf dich zu – oder sitzt vor dem Fernseher –, und du stellst keine Frage, suchst in Belanglosem zu entkommen, nach euerm Gefühl füreinander zu suchen, in den Dingen, die getan werden müssen. Rechnungen, Schulbescheide, Aufforderungen zum familiären Rückanruf – du hältst die Arme auf dem Rücken, presst die Hände aneinander, willst eher ihr zuhören, weil du unsicher bist und jeder Schritt deine Verwirrung verrät. Womöglich würde es dir sogar gelingen, aus Gewohnheit die Fassaden zu schieben, die erste Stunde wenigstens. Doch sobald deine Tochter in der Tür steht, wird sie es wissen, dir ansehen. Und du setzt an, reihst auf was heute war, und gibst die Frage weiter, auf Jahre zurück.

 

Ob sie es nicht für nötig gehalten hatte, etwas zu sagen? Oder froh gewesen war, ihrer eigenen Laune entkommen zu sein, mit dir? Was sie sich auch vorgemacht hat, du hast es dir vorgemacht. Ihr sitzt euch am Tisch gegenüber, und du ziehst ihr die Gräten aus dem Mund, ganz langsam. Sie spuckt etwas Filet mit heraus, auf den doch fast leeren Teller. Du siehst sie an. Ob es ihr jetzt besser geht? Sie ist schwanger, ihr erwartet ein Kind. Du könntest mit einem Schlag den frischservierten Fisch samt Teller von der Tischkante fegen, den Frauen am Nachbartisch auf die Röcke, in die Brillen und Kontaktlinsen. Stattdessen wirst du zum Stuhl, steif im Sitz, ohne Regung. Wohin dieser Blick? Wieweit aus der Drehung einfach ausholen nach ihr? Du gerätst nur schwer außer dich, du bereust es fast. Stattdessen: den Schlüssel ins Schloss, umdrehen, Jacke aufhängen, die Mechanik des Durchgehens, sich setzen. Die Spülmaschine steht offen, eure Tochter telefoniert auf dem Balkon. Mit wem gegenüber? Du schließt die Augen, immer fester zur Stirn, und spürst deinen Rücken und die Nerven im Gesicht. Du möchtest dir unter die Stirn greifen. Und was käme heraus? Gedanken, die keine sind – nur Affekte der Selbstverteidigung, des Angriffs, der Ratlosigkeit.

 

Ein Mann, um die vierzig, allein am Tisch. Ein schlanker Mann, groß, mit hageren Wangen. Kein ausdrucksvolles Gesicht, ob Nase, Mund oder Augen, alles wirkt eher entschuldigt, kaum da. Ein flüchtiges Gesicht. Er sitzt vor seinem Teller und lässt das Gericht kalt werden. Er könnte ein Lehrer sein. Adrett genug, um auch als Unternehmensberater aufzutreten, doch ihm fehlt der Elan, wie es dann unter Geschäftspartnern hieße, das sich und andere in der Hand haben. Niemand, um die Bilanz zu retten. Mit der Rechten befingert er die Serviette, beruhigt sich, faltet das Stück Papier. Vielleicht seine Kündigung? Ein Brief von seiner Frau? Das Licht reflektiert auf seiner Brille. Er wendet den Kopf nicht. Möglich, dass er auf gar nichts achtet.

 

Am Nebentisch werden Stühle hinzugeholt, um eine große Runde zu bilden. Der Ruck jetzt zu gehen. Du schlängelst dich an den Tischen vorbei zum Ausgang, ziehst den Mantel zusammen, übersiehst die ausgebreitete Menge. Lampions hängen den Gästen über den Schultern, der Feierabend übertönt den Tag. Die Unbändigkeit der Bürohengste. Du läufst entlang der verparkten Autos zur Brücke und wartest bis das einzige Schiff vorüber ist. Inmitten der Fahrräder, Passanten, der Straßenbahn, verfolgst du die Gesichter der Jugendlichen, jedes einzeln, du würdest sie scannen, meinte deine Tochter, du merkst es nicht. Wie alt werden sie sein? Dreizehn? Bei den Mädchen ist es schwerer. Das Lächeln elf, die Brüste vierzehn? Alles sieht verdreht aus. Wie hieß ihr Lieblingslied, das sie dir im Auto vorspielte? Frozen Blood Bank? Sonntags schwarze Nägel, zum Treffen auf der Bank. Sie will keine Ausflüge mehr machen, mit euch am Strand spazieren, geschlossene Kirchen besichtigen. Die Mühlen von Zaandam im Schokoduft – Vater, Mutter, Kind. Stattdessen überlegen Leen und du, ob ihr auf sie warten oder selbst etwas unternehmt sollt. Die eigenen Auswege in der Familie.

 

Die Brücke senkt sich, und im Blau des Abends gehst du zur anderen Uferseite, der einzigen noch in deiner Kindheit. Dann kam das neue Wahrzeichen der Stadt – die Brücke – und der Hafen verschwand, zumindest das Löschen der Frachter, wie es nun weit draußen, an den Ausläufern der Stadt geschieht. Von hieraus war dein Großvater mit den Passagierdampfern gefahren: Ellis Island und Netzstrümpfe für die Schwestern nach dem Krieg. Da kamen sie her, aus dem zerbombten Haus ihrer Eltern. Dann ein Raster, von sechzig Wohnparzellen am Stück, ein festes Fließband aus Beton. Gelebte Modernität. Dich hat es zurückgezogen in die Backsteinsiedlungen von einst, und unweit vom Bahnhof haben Leen und du eure Wohnung gefunden, mit Garten. Die Steinplatten zu pflegen fiel dir nicht schwer, Unkraut war für dich nur anderes Grün. Unmerklich fast hattest du damit begonnen, die Büschel aus der Erde zu reißen und Blumenbeete anzulegen. Die Intuition des Anfangs – Leen auf der Liege im Garten, du mit einem Buch in der Hand, auf dem Beistelltisch die Thermoskanne und eine Schachtel Biscuits. Irgendwann wollte sie einen Hund, hier in der Idylle, jemanden zum In-die-Beete-stellen, hattest du noch gedacht, und dann gelassen. Es geschah ohne Vorsatz, ein verregneter Sommer genügte, und der Garten fügte sich ein in das heruntergeputzte Bild seiner Nachbarschaft. Eine umgefallene Gießkanne zierte die Büschel von gegenüber, manchmal klebte ein Nachtfalter daran. Unter die Sträucher vom andern Grundstück hatte eine Katze ihre Beute gedrängt, eine vergebens aufgeflatterte Taube, wie sie seit Tagen ohne Kopf auf der Seite dort lag. Du hättest die Nachbarn schon längst darauf ansprechen wollen, ob sie den Kadaver denn wirklich nicht sähen. Euer Hund drehte sich nicht danach um.

 

Scheppernd, krachend, hattest du dir die Lebefrau vorgestellt, wie sie draußen in der Menge saß und gestikulierte im weiten Bogen. Bei ihrer Wetterfestigkeit schien sie den flattrigen Herrn vor sich am Tisch tatsächlich zu beeindrucken. Diese Vitalität war dir nicht geheuer, so frisch und hemmungslos hattest du dich nie gefühlt. Jung, dynamisch und verbraucht, so kanntest du die meisten deiner Freunde und ehemaligen Studienkollegen, die sich in den Verästelungen ihrer Karrieren abarbeiteten, an Schnittwerk für den Chef oder Professor. Du selbst hast nie die Rollen tauschen wollen, den Ehrgeiz besessen, die erste unter den Ameisen zu sein. Deine Tochter bat dich auf der Autobahn einmal, ob du nicht Gas geben könntest, damit „wir an die Spitze der Autos“ kämen, um „als Erste auf der Autobahn“ zu fahren. Es hat dich einige Kilometer gekostet, bis sie eingesehen hat, dass da kein Zuerst und Zuletzt ist.

 

„Warum erzählst du das jetzt?“ würde sie schnippisch fragen. Was macht das für einen Unterschied, ob du acht oder zwölf warst, vierzehn oder zwanzig bist – du bleibst mein Kind. Zieh doch nicht so eine Miene. Ich seh doch, wie du dich veränderst. Wie du dich entfernst. Aber auch darin kommst du uns näher – wegzugehen und deine eigenen Erfahrungen zu machen. Noch sitzt du abends mit im Wohnzimmer. Manchmal. Noch fragst du Leen nach Dingen, die du nicht aussprechen kannst. Frau zu werden. Dann reden wir davon, und es ist dir so peinlich, dass du großspurig alles schon weißt. Würde dein Freund mal fragen. Oder ist er nicht dein Freund? Davon sprecht ihr nicht? Jedes Hemd kann einem abfallen, doch Worte sind zu intim? Das große Sich-an-die-Wünsche-des-anderen-binden, aus Erwartungen lieben, mit Selbstsicherheit prahlen? Warum weiß er es nicht? Sieht er euch alle gern? Du bist doch keine Schaufensterpuppe! Aber auch das muss sein. Wie gut, dass du jetzt schwere Stiefel trägst.

 

Bis kurz vor euer Haus führte dein Hinauszögern des Wegs, im Zickzack der engen Fassaden, als hättest du die Nähe und Abgelegenheit gebraucht. Das fast schon eingeforderte Gefühl krank zu werden, so hätte es einen Namen, das innere Ausweichen wäre körperlich manifest, das Immunsystem der Einbildungskraft intakt, nur ein Ziehen im Knie, das viele Laufen. Die Wolken verlieren sich in immer loseren Spuren, im kühlen, gleichmäßig aufscheinenden Blau. Du bleibst dort stehen, mit deiner Tasche. Niemand ist hier, der dich anrempeln könnte, sich auf einen Streit mit dir einließe, dich anschreien würde, dass die Wut schon genommen wär. Alles Flackern auf deinem Weg, ein Durchleuchten deiner Gewohnheit, der äußerlichen Unverändertheit, der identischen Lüge. Auf einer Laterne am Bahndamm hockt eine unbewegte Gestalt. Du schnippst mit den Fingern. Der Vogel zuckt auf, streckt sich, nimmt den Schnabel aus der Brust und hebt den Kopf. Ein Reiher. Obwohl so weit kein Wasser ist. Dann das Rauschen eines Zuges, und ein entgegenkommender Schnellzug durchbricht den Lärm, fort ist er. Du setzt dich auf einen Mauervorsprung und schließt die Augen. Die Reize verlieren sich. Die Anspannung bleibt. Den kalten Stein nicht mehr spüren. Warten. Jetzt, da du es vor dir siehst, ist es kein Verharren, was dich hemmt, nur der Blick, den du suchst, der nichts mehr verstellt. Du hörst den nächsten Schnellzug das Rauschen vor sich steigern, stetig, in Sekunden, bis er den Bahndamm erfasst und in deinem Rücken hinwegjagt.

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