Der Schrei zweier Schreibender (I)
Jan Kuhlbrodts und Martin Piekars in der Edition Binaer erschienenes E-book Überschreibungen müsste mehrmals eingeleitet werden, denn es umfasst Texte zweier Autoren, deren Stimmen sich nicht nahtlos ineinander fügen, die – so hat es den Anschein – allzu gut wissen, was bei einer Überschreibung verschwindet, vertrieben und überlagert wird. Die dabei entstandenen Ab- und Überlagerungen, Schichten und Perspektiven machen einen großen Reiz dieses nicht klassisch dialogischen Schreibens aus.
Bereits der Titel präsentiert sich auf dem Cover in aufgebrochener Form als Über / Schrei / Bungen, hebt also auch den Schrei innerhalb des Geschriebenen hervor. Man könnte es für eine Spielerei in nicht übermäßig verspielten Texten halten, spielten nicht Schrei und Rauschen in den Texten auch durch ihr Ausbleiben eine ausgezeichnete Rolle. Und so haben die Texte auch dann etwas Politisches, wenn nicht gegen bestehende Verhältnisse angeschrien, sondern aus Angst und Überforderung geschwiegen wird. Dass Kuhlbrodts Überschreibung dabei „Eine Reform“ betitelt ist – Abschnitte daraus heißen „Bedingungen“, „Gegenwarten“ und „Neue Bedingungen“ -, wird durch die Rahmenerzählung rund um den Protagonisten Hans Hektor sichtbar, der nicht wie Thomas Manns Hans Castorp Spielball zweier Ideologien ist, aber doch oft verloren und farblos wirkt, angesichts der Zustände, der gewaltigen Veränderungen, der Hoffnungen auf ein anderes System, andere Verhältnisse, der Angst und der Überforderung als „Individuum“ innerhalb eines Staates.
Weil sich Kuhlbrodt nur wenig um die Grenzen seines Schreibens schert, mischt er die einander ablösenden Bilder seiner Reform in Prosa und Lyrik mit einer Selbstverständlichkeit, ohne sich selbstverständlich dem Vorwurf eines Vermischens schuldig zu machen. Es wird kein Durcheinander erzeugt. Allerdings neigen seine Texte sehr zum sprunghaften Erzählen und auch zum Kreisförmigen. Bliebe dabei das Ganze außer Acht, es wäre mir zu diffus und ich fühlte mich leicht verloren, wenn die Stimme des Erzählers mal über Hans berichtet, mal mit einem „Wir“ anhebt und mal das Zwangsarbeitergleiche der Krüppelkiefern schildert...