Entfaltete Grausamkeit. Tralalas Leben und Ende in Letzte Ausfahrt Brooklyn.
„I don’t want you to read a story, I want you to experience it.“ – Hubert Selby.
Als Origami, das auf jeder Seite eine neue Grausamkeit entfaltet, könnte der Stoff über das Leben und Ende von Tralala grob zusammengerafft werden. Der literarische Umgang mit einer Massenvergewaltigung wurde dabei mit einem ungewöhnlichen Sprachstil durchgeführt, an deren Oberfläche die Schuldzuweisung auf Tralala deutet. Wie bei vielen Figuren der teilweise miteinander interagierenden Kurzerzählungen kann ihr Verhalten manchmal schwierig nachzuvollziehen sein. Diese Momente der Irritation verhelfen dazu einen Menschen verstehen zu lernen oder zu missverstehen. Unter anderem kann durch Missverständnisse die Rechtfertigung von Gewalt konstruiert werden. Tralala bildet dafür ein herausragendes Beispiel.
Die Figur Tralala scheint einem Nichts zu entsteigen. Ihre Familie bleibt in der Vergangenheit zurück, die in der Erzählung übersprungen wurde, als wäre die Verortung ihrer Herkunft irrelevant, weil ihr Milieu alles impliziert. Sie wird als 15-Jährige vorgestellt, deren erster Auftritt durch gleichgültige Sexualität auffällt. Obwohl ihr der Sex mit willkürlich gewählten Männern selten gefällt, benutzt sie ihn zum Erreichen von materiellen Entschädigungen, die Tralalas Überleben und Gruppenzugehörigkeit sichern. Sie ist Teil der unteren Gesellschaftsschicht und hält sich in der Cafeteria und den Bars der Nachbarschaft auf, die von einer empathielosen Gesellschaft bevölkert sind.
Eine Nebenfrage ist, ob sich Tralala je einen festen Wohnsitz leisten konnte. Die Formulierung, dass Tralala aus der Nachbarschaft sei, wirkt wegen dem Hinweis auf ihre Bekleidung irritierend. Wenn sie erst alle paar Tage saubere Pullover anziehen kann, die sie nur durch Raubüberfälle finanziert, ist ihr Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen wahrscheinlich beschränkt. Während sie eine Zeit lang bei einer Gruppe bleibt, deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützen, indem sie den Gewinn von den Überfällen auf Betrunkene untereinander aufteilen, will sie bald selbstständiger werden. Aus genauen Gründen entwickelt niemand aus der Gruppe Vertrauen ineinander: Die Gruppe hat sich als Zweckgemeinschaft zusammengefunden, weshalb scheinbar niemand zu viel Vertrauen in das Bündnis investieren will. Als Tralala alleine Geld erbeutet, versteckt sie unbemerkt einen Großteil davon vor Tony und Al, die sich bald danach vice versa verhalten. Ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit scheint durch den Gedanken zu entstehen, dass sie inzwischen genug gelernt hat, um ohne die Gruppe jemanden ausnehmen zu können, wodurch sie den Gesamtgewinn behalten kann. Dafür scheint sie eine besondere Fähigkeit zu haben, die ihr ein gewisses Charisma oder zumindest erotische Anziehungskraft zugesteht. Wie geschickt sie sich an Situationsänderungen anpasst, zeigt Tralala, als sie einem betrunkenen Matrosen scheinbar sein ganzes Geld abnimmt und daraufhin ihren Begleiter wechselt. Von dem Matrosen wechselt sie zu einem betrunkenen Offizier, den sie in einer Bar kennenlernt und in der Hoffnung an sein Bargeld zu kommen auf zwei Gläser Whiskey in sein Hotelzimmer mitgeht. Als er sie am Morgen noch begehrenswert findet und ihr anbietet mehrere Tage bis zu seiner Abreise mit ihm zu verbringen, wägt Tralala statt Gefühlen die Vorteile ab. Sie braucht keine Betrunkenen mehr zu prügeln und zu plündern, hat die Aussicht noch ein bisschen Bargeld von dem Offizier zu bekommen und fühlt sich wohl bei ihm. Seine Worte prallen so wie ihre möglichen Gefühle an ihr ab. Ihr sollten aber keine Empfindungen untergeschoben werden, die sie vielleicht nicht hatte.
Ihr Eindruck auf andere wird kurzzeitig aus der Perspektive des namenlosen Offiziers wahrgenommen: Tralala wirkt auf ihn hübsch und unschuldig, wobei ihm ihre Energie beim Aussuchen verschiedener Geschenke für sich besonders gefällt. Was am Ende der paar Tage passiert, die mit Ausflügen, Koffer voll neuer Kleidung für sie, Kino- und Restaurantbesuchen gefüllt sind, trägt zu dem Rätsel um Tralala bei. In der Erwartung Geld von dem Offizier zu erhalten, begleitet sie ihn zum Bahnhof. Geld erscheint als ihre konstante Gedankenbeschäftigung. Bei Restaurantbesuchen mit ihm versucht sie sich zu merken, in welchen sie die nächsten Offiziere finden können wird. Als ihr Liebhaber ihr am Bahnhof einen Brief gibt, küsst sie ihn anstandshalber während sie überlegt, ob, weil sich der Inhalt dünn anfühlt, er einen Scheck in das Kuvert gelegt hat. Nicht für einen Moment scheint sie zu erwägen, dass diese Bekanntschaft eine Veränderung in ihrem Leben bewirken könnte. Als sie nach seiner Abreise sofort das Kuvert öffnet und statt einem Scheck einen Brief an sie findet, in dem eine verunsicherte Liebesbekundung und seine Adresse aufgeschrieben wurde, in der Hoffnung auf zukünftige Treffen mit Tralala, wirft sie den Brief wütend fort und fährt zurück zu ihrem gewohnten Umfeld, Willie’s Bar, wo sie sich in der neuen Kleidung präsentiert und mit Erzählungen über ihren „Freier“ Aufmerksamkeit erhält. Vielleicht ist diese Freude an Aufmerksamkeit insgeheim ein Ausdruck ihrer Einsamkeit und ihres Bedürfnisses, ein bisschen Anteilnahme, vielleicht sogar Empathie, zu erhaschen. Statt die Möglichkeit einer Beziehung mit dem in sie verliebten Offizier wahrzunehmen, die ihr längerfristig finanzielle Sicherheit zu
bieten scheint, verfolgt sie ihr gewohntes Jagdmuster weiter. An diesem Verhalten zeigt sich ihre zentrale Motivation: Das unsichere Einkommen wird zugunsten des sicheren Einkommens aufgegeben. Das erinnert an die Figur Daisy Buchanan aus Fitzgeralds „Der große Gatsby“. Obwohl Daisy im Gegensatz zu Tralala zur Oberschicht gehört, lässt sie sich bezüglich der Sicherheiten von einem ähnlichen Ansatz leiten. In ihrem Verhalten wird Tralalas Können als Überlebensmeisterin enthüllt, die sich an das Jagdmuster hält, das sie bisher durch das Leben geführt hat.
Da niemand weiß, was sie erlebt hat, bis sie 15 wurde, kann diese biografische Leerstelle durch ihr Verhalten rekonstruiert werden. Zumindest finanzielle Konflikte scheinen sie geprägt zu haben, weshalb sie ihre Bemühungen ausschließlich auf schnelle Sicherheit lenkt. Durch dieses Ziel und die gesellschaftlichen Bedingungen versinkt sie in einem Verhaltensdilemma, in dem sie, statt wie zuvor Betrunkene in einen Hinterhalt zu locken, zu verprügeln und auszunehmen, dazu übergeht als Sexarbeiterin „für ein paar Doller“ und spendierte Getränke mit einem oder mehreren Männern zu schlafen. Ihre Unzufriedenheit, die nur durch ihr Gekeife in den Bars sichtbar wird, ersäuft sie in Alkohol. Nicht einen Gedanken verschwendet sie an ihre Gesundheit. Ihr Frühstück wird nur einmal, abgesehen von dem Frühstück mit dem verliebten Offizier zuvor, erwähnt aus Kaffee und einem Korinthbrötchen zu bestehen. Inzwischen scheint sie ihre Wohnung verloren zu haben, falls sie eine hatte, weil sie mit allen Männern mitgeht, die „eine Bleibe zum Pennen“ zur Verfügung stellen. Schließlich vergisst sie sich zu waschen oder überhaupt einmal in einen Spiegel zu sehen. Ihr Körper wird schmutzig, was ihr scheinbar nicht auffällt, und ihre Kleidung zerschlissen, sodass sie sogar aus den schäbigen 8th Avenue-Bars rausgeworfen wird, in der sich eine mitleidlose Unterschichtsgesellschaft aufhält. Dass sie aus den Kneipen rausgeworfen wird, kann sie nicht nachvollziehen, indem sie sich als „nettes junges Mädchen“ gegenüber den „räudigen Nutten“ versteht, die im Gegensatz zu ihr Zugang erhalten. Durch diesen Gedanken zeigt sie eine gewisse Unfähigkeit zur Selbstreflexion, die auch den Figuren der anderen Kurzgeschichten zugeschrieben werden kann.
Bei Willie’s glaubt sie sich nach dem Rauswurf als einzige Bar gut aufgehoben, wo sie ihrer Vorstellung nach von einer respektvollen Gesellschaft umgeben wäre. Als sie dort sturzbetrunken ihre Brüste als das einzige entblößt, auf das sie an sich stolz ist, wird ihr dadurch implizierter Wunsch nach Anteilnahme oder einem Minimum an Freundlichkeit von der Gesellschaft mit unübertrefflicher Grausamkeit beantwortet. Indem sie ihre Brüste vor allen zeigt und sie die schönsten Brüste der Welt nennt, ruft sie ihre verschwundene Schönheit als letzte Machtressource in der Hoffnung auf deren Rückkehr an. Außerdem wies der verliebte Offizier sie scheinbar als Erster auf ihre Schönheit hin, indem er ihr nach einem Kuss ein Kompliment zu ihren wohlgeformten Brüsten gab, eine selten angenehme Erinnerung.
Tralalas Bemühung richtet sich in der Bar an Jack, der scheinbar ein Freier von Tralalas Bekannter Annie ist, aber in ihrer Betrunkenheit wird sie von anderen Männern in der Bar abgelenkt, auf die sie immer provozierender wirkt. Dieses Verhalten scheint mit ihrer verlorenen Schönheit verbunden zu sein, indem sie versucht einen Beweis dafür zu bekommen, dass sie noch anziehend wirken kann. Als ein paar Männer sie an den Armen packen und aus dem Lokal zerren, scheint sie die Situation zuerst nicht genau begreifen zu können. Sie ruft Jack ein erotisches Angebot zu, was als Einladung für alle verstanden wird und die Anwesenden zum Mitmachen animiert. Gezeigt wird, wie die Männer mit ihr umgehen, erst etwas verzögert wird Tralalas Verhalten sichtbar. Das impliziert ihren Zustand von Desorientierung. Offensichtlich hätte sie einer Orgie nicht zugestimmt ohne einen Vorteil für ihr Überleben geboten zu bekommen.
Diese Nachkriegsgesellschaft hat sich misogynes Verhalten aus dem Krieg angeeignet: Wie dokumentierte Fälle zeigen, wurde zur Kriegszeit nach einer Vergewaltigung öfters die Vagina mit einem Gegenstand eingerammt, wie beispielsweise einer Flasche, bei Tralala einem Besenstiel. Manche Gründe dafür sind offensichtlich: Vergewaltigungen zielen nicht nur auf Lustbefriedigung des Angreifers, sondern vor allem darauf ab, sich an einem Dominanzgefühl zu berauschen. Das Einrammen wirkt wie ein von Verachtung und Entmenschlichung der Betroffenen geprägter Dominanzrausch.
Die umstrittene Definitionsmacht ist unter diesen Umständen schwierig Tralala zu übertragen. Sie ist die Macht eine Situation und Handlung als Übergriff zu definieren. Sie kann über Verurteilung und Strafmaß entscheiden, weshalb die Gerichte diese Macht für sich beanspruchen, um sich als Institutionen zu etablieren und ihren Zweck rechtfertigen zu können. Dieses Zugeständnis will einen Windschutz bieten in dem Sturm aus Anzweiflungen im Bekanntenkreis oder in den Verhören. Die angeklagte Seite ist vor Gericht im Vorhinein durch die Unschuldsvermutung geschützt. An der Definition wird das Machtverhältnis sichtbar, wessen Wahrnehmung Priorität bekommt. Selbstverständlich kann das Konzept keinen allgemein gültigen Konsens über eine Situation herstellen, weil es das subjektive Erleben geltend macht. Diese Macht berücksichtigt die Grenzen, die unter anderem wegen vorhergehenden Erfahrungen individuell gesetzt wurden.
Das Zustimmungsprinzip verhilft dazu individuelle Grenzen zu verstehen. Wie Tralala den Übergriff anfangs einschätzt, ist schwierig nachzuvollziehen, vor allem, weil sie durch ihre Betrunkenheit desorientiert wirkt. Offensichtlich ist aber, dass sie durch den Übergriff gedrängt wird ihren Körper zu teilen, indem sie verschleppt und ihre Kleidung heruntergerissen wird. Sie fügt sich dem Geschehen schließlich durch Biertrinken und der Beschäftigung mit ihren Brüsten, wobei ihr mit Bierdosen ein paar Zähne abgeschlagen und die Lippe aufgerissen wird, bis sie das Bewusstsein verliert.
Das Sahnehäubchen bildet das Verhalten von Tralalas Bekannten, die sie kurz zuvor noch in der Bar trafen, auch wenn sie scheinbar nur Antipathie für sie empfanden: Die Bardame Ruthy, Annie, Jack und sein Freund Fred sehen von einem Taxi aus, wie Tralala nackt und bedeckt mit Samen und Urin, die Brustwarzen von Zigaretten verbrannt, mit einem in die Vagina gerammten Besenstiel, wo sich eine Blutlache ausbreitet, auf dem unbebauten Grundstück liegt. Obwohl Ruthy und Annie wahrscheinlich ähnlich unsichere finanzielle und soziale Umstände wie Tralala durchleben, entwickeln sie auch bei diesem Anblick nicht den Gedanken sich mit ihr zu solidarisieren. Annie sah sie wahrscheinlich seit dem Moment als Belästigung, als Tralala ihr einen Matrosen ausspannte, um ihn auszurauben während er schlief. Ruthy wurde von Tralala genervt, als sie mit den Geschenken des verliebten Offiziers angab. Das erklärt vielleicht vage ihre Gleichgültigkeit gegenüber Tralalas Leiden. Alle lachen beim Vorbeifahren, dass Tralala niemanden aus ihrer Gruppe mehr belästigen kann.
In der Erzählung verursacht Tralala vielen Menschen Leid und Verlust bis sie abschließend lebensbedrohliche Grausamkeiten erlebt, die auf niemanden Eindruck zu machen scheinen. Deshalb wirkt sie nicht wie ein durch Zuschreibungen festgesteckter Ort, sondern wie ein komplexes Lebewesen mit einer dynamischen Beziehung zu sich und zur Welt. Selbys Sprache drängt zu selbstständigen Überlegungen statt eine Moral aus den jeweiligen Erzählungen aufzuzwingen. Durch diese literarische Darstellung von Leiden ohne Pointe statt Moralisierung kann eine ambivalente Empathie entstehen. Mit dieser Empfindung verliert das Argument, die Betroffenen hätten die Vergewaltigung durch ein Fehlverhalten provoziert, seine Glaubwürdigkeit und wird als Rechtfertigung zur Vergewaltigung gezeigt.
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