liegengeblieben #5 [Vom Bemerken und Bewirken]
Sie, mit Ihren Wörtern, das ist wie kleine Spielfiguren, wissen Sie, so kleine Statuetten, jedes Wort dreht sich und hat mehrere Gesichter, und sie beleuchten sich gegenseitig. – Pablo Picasso an Francis Ponge.
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Beim Rezensieren gescheitert: Ein ungemein spannendes, dicht gepacktes Buch liegt bleiern vor mir. Die Macht der Form heißt es, Ferdinand Auhser hat es geschrieben, und es löst von Beginn an die Fragen aus, die ich beantwortet haben möchte und wegen denen ich das Buch bestellt hatte: „Was macht die Form?“ (im Sinne einer Grundbedingung zu ihrer Erzeugung – was führt dazu, dass Form überhaupt vorliegt), „Was macht die Form?“ (im Sinne ihrer Bewirkung). Die Fragen klingen nicht von ungefähr gleich, denn es lässt sich vermuten, dass jener Verhalt, welcher ein Ding formatiert, also seine Beschaffenheit abfragt, einen Sinn für seine Bedeutung schon mitbringt, also dass sich Form nicht aus einem abstrakten topologischen Umreißen am Ding selbst erzeugt, sondern aus seiner realen Bewirkung von Differenz im Zusammenklang von Frager und Antwort. Wer einen Unterschied bewirkt, der gibt Anlass zur Form – der informiert über Differenz. Diese Information trägt Aspektwissen aus der Merkwelt in die Wirkwelt hinein – Begriffe, die zuerst der Biologe Jakob von Uexküll geprägt hat, und die wir hier kurz durchspielen wollen.
Konstruieren wir ein einfaches Beispiel: Ein Apfel liegt im Gras. Das ist zunächst eine Konfrontation, eine Begegnung, aus Erfahrung wissen wir: eine süße Überraschung. Welche Informationen können wir über den Apfel erlangen? Zunächst alle Informationen, für die wir Sinne entwickelt haben: Wir riechen den Apfel – der Apfel riecht nach Frucht. Wir sehen den Apfel – der Apfel ist eine Art rotgrüne Kugel, die rollen kann. Wir spüren den Apfel - der Apfel ist bissfest und vergeht nicht über Tage und Wochen. Wir klopfen Attribute ab, soweit wir des Klopfens fähig sind. Wir „bemerken“ sein Sein. Und zwar auf Menschenart (und nicht etwa auf Libellen- oder Maulwurfart). Mit der Konsequenz, dass wir – den Hochweg über der alten Plantage entlanggekommen im warmen Licht der herbstlichen Buntheit – wissen, dass Oktober ist und damit der Apfel reif genug zum Verzehr (und: aus der Tatsache, dass er im Gras liegt und nicht frei in der Luft schwebt, eine Theorie der Gravitation entwickeln könnten). Die Merkwelt, die wir erworben haben und anwenden, bestimmt über das Aussehen unserer Wirkwelt – die Form, die wir auslesen können, steuert unser Agieren. Wir essen den Apfel, der Saft erfrischt uns, der Magen füllt sich, wir gewinnen Energie, der Apfel ist immer noch Merkwelt, sein Wirken auf uns wird „bemerkt“, bis wir seine Überreste ausscheiden (und sind längst Wirkwelt, weil wir aus uns heraus gehen). Und damit ist ein letzter entscheidender Schritt zu mehr Äpfeln erfolgt: wir haben die Information für neue Apfelbäume mitsamt Vorratsdünger verbreitet.
Dabei waren wir unbemerkt die ganze Zeit über Teil der Wirkwelt des Apfelbaums, er hat uns angelockt mit Farbe und Geruch, hat uns verführt mit saftigem Fruchtfleisch, das vor die Füße rollt, um die in kleinen Samenkapseln gespeicherte Information in die Weite der Welt, zu der er als eingewachsenem Wesen keinen Zutritt hat, zu verfrachten. Er hat unsere Merkwelt bedient, um seine Wirkwelt zu erweitern.
Natürlich hat er das nicht „bewusst“ gemacht, aber die Evolution mit der Cleverness ihrer Immanenz entwickelt erstaunlichste Merk-/Wirkwelt-Verknüpfungen und die Zauberformel dahinter beginnt immer mit dem Auslesen von Information, mit dem „Bemerken“ von Form. Was uns zurückbringt auf unsere Eingangsfragen „Was macht die Form?“
Unsere Vermutung war, dass jenes Subjekt, welches ein anderes Subjekt erfasst/auffasst/umfasst/formatiert, seine Beschaffenheit abfragt, einen Sinn für seine Erfassung schon haben muss und bei der „Bemerkung“ wie im Wittgensteinschen Frage-/Antwortsatz („Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden“) einen Sinn für seine Bedeutung schon mitbringt, also dass sich Form nicht aus dem erwähnten abstrakten topologischen Umreißen erzeugt, sondern aus einer Bewirkung von Differenz im Sinne des Bemerkers. Ein Objekt, das einen Unterschied bewirkt, der „bemerkt“ werden kann, gibt Anlass zur Form – es informiert über Differenz. Diese Information trägt Aspektwissen aus der Merkwelt in die Wirkwelt des Bemerkers hinein, und - so muss man ergänzen - es verwandelt über die Merkwelt des Bemerkers dessen Wirkwelt und so erweitert sich die Wirkwelt des Formers.
Wir haben also kein einfaches Geben und Nehmen vor uns, sondern ein ineinander verstricktes dialogisches Begegnen. Formen sind in etwa das, was stabil genug aufscheint, um eine Rolle zu spielen. Die Formel geht ungefähr so: Wie kann ich in der Welt entdecken, was ausreichend stabil ist, und aus der Welt nehmen, was mich erhält, ohne dass ich (aus)sterbe? Indem ich dafür sorge, dass mein mich Erhaltendes nicht (aus)stirbt.
Das ist ein simples ökonomisches Gesetz, das sich ganz von selbst formuliert, von niemandem bewusst gesteuert, sondern (auch mal drastisch) durch Versuch und Irrtum durchetabliert. Zerstöre ich die Welt, zerstöre ich mich. Das Ich gibt es nur zusammen mit der Welt und im Zusammenspiel von Merken und Wirken.
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Das ist auch das simple Gesetz der Information: Wie kann ich Informationen gewinnen, ohne die Form zu zerstören? Das sicherste Agieren ist dabei ein Agieren mit Licht. Licht ist masselos und unglaublich schnell. Es verheert (in der Regel) nicht das Ziel. Im Falle der Quantenphysik allerdings haben wir das Problem, dass wir uns entscheiden müssen, welches Aspektwissen wir „bemerken“ wollen: Ort oder Impuls, eines von beiden geht uns verloren, wenn wir mit Licht „bemerken“ wollen, weil wir uns dann in Bereichen bewegen, wo der Dialog von Teilchen sich auf Augenhöhe formuliert: Du kannst nicht dort hin, wo ich bin ohne mich zu kicken, du bist so schnell unterwegs, das schubst mich glatt weg und nimmt mir einen Teil meiner Bewegung.
Die „Bemerkung“ verändert dadurch das Dasein des Subjekts. Das nennen wir „Unschärfe“. Unsere Merkwelt ist hier unscharf, aber nicht weil das Geschehen vor Ort etwa ungewiss wäre, sondern weil wir das Formangebot, das wir erfassen wollen, beim Anfassen „zerwirken“, also selbst zur Wirkwelt werden, wo wir Wirken bemerken wollen.
Das hat in diesem Fall viel mit einer Eigenschaft zu tun, die man Energie nennt und die sich grob gesagt im Maß des Bewegtseins aufhebt, um nicht zu sagen versteckt. Wenn ich Dinge verlangsame, werden sie schwer, gewinnen an Masse. Ooops – alle Physiker schreien auf: Es ist aber doch umgekehrt, wenn ich Dinge beschleunige, gewinnen sie Masse. E = mc². Ja, aber nur, wenn sie intakt bleiben. Und das tun sie de facto nicht. Menschen denken sich Ding und Wesen dinghaft konstant, vergessen dabei aber die in anderen Skalen gültig werdenden Bedingungen, wie der Unmöglichkeit einer Formkonstanz in beschleunigten Zuständen. Informationsaustausch, Bemerkung und Wirkung, funktioniert mit Zunahme der Geschwindigkeit nicht mehr und alles muss zerbrechen.
Wenn ich Dinge beschleunige, verliert sich die Masse zwangsläufig – komme ich bei der Lichtgeschwindigkeit an, habe ich nur noch Teilchen am Start. Unausweichlich. Man muss schon enorme Energien aufwenden, riesige Magnete, um bspw. beschleunigte Protonen so kompakt zu halten, dass man sie bei hohen Geschwindigkeiten kollidieren lassen kann. Ohne diese Magnetfelder zerfielen sie sehr schnell in „leichtere“ Teile. Jede andere Materie zerfetzt es sehr viel schneller. Entweder lichtschnell oder massereich. Da gibt es keine Alternative. Wer ins Licht will, muss buchstäblich alles von sich geben und darf nicht mehr sein.
Newton hatte richtig erkannt, Masse macht träge: je „schwerer“ ein Objekt/Subjekt ist, um so geringer fällt seine Beschleunigung bei einer bestimmten aufgewendeten Kraft aus. Dieselbe Energie, die ausreichen würde ein einzelnes Teilchen bis auf Lichtgeschwindigkeit zu katapultieren, reicht bei einer Kugel von der Größe der Erde nicht einmal für einen Schluckauf. Aus der Trägheit eines Körpers können wir Aussagen über seine „Masse“ machen.
Was bedeutet aus dieser Perspektive der Satz E = mc² in letzter Konsequenz? In der Nichtbewegtheit eines Körpers ist Energie gespeichert. Oder: je weniger schnell etwas unterwegs ist, desto mehr Masse muss es gebildet haben. Der Verzicht auf Geschwindigkeit führt zwangsläufig zu Masse.
Brian Greene (einer der führenden Physiker auf dem Gebiet der Superstrings) hat das in seinem Buch „Das elegante Universum“ (Siedler, 2000) im Rahmen der Stringtheorien sehr schön herausgearbeitet, ist aber nicht überall, auch nicht unter Physikern, gut genug verstanden worden. Er offeriert eine Interpretation eines Einsteinsches Postulats, das besagt, „dass alle Objekte im Universum sich stets mit unveränderlicher Geschwindigkeit durch die Raumzeit bewegen – und zwar mit Lichtgeschwindigkeit“. Dieser Satz wird in seiner Folgenschwere nur selten erfasst. Greene führt aus:
Die Geschwindigkeit eines Objekts durch den Raum bringt einfach zum Ausdruck, wieviel von seiner Bewegung durch die Zeit für die Bewegung durch den Raum verwendet wird. … Die Höchstgeschwindigkeit im Raum ist erreicht, wenn die gesamte Bewegung eines Objekts durch die Zeit zur Bewegung durch den Raum geworden ist.
Der faszinierende Gedanke dahinter ist die Aufteilung der Energie in einen „ruhenden“ Anteil und einen „bewegten“. Der ruhende Anteil ist bei Einstein/Greene der Anteil der Zeit, der bewegte Anteil jener des Raums. Da die Höchstgeschwindigkeit im Raum nur von einem masselosen Teilchen erreicht werden kann, ist es erlaubt an dieser Stelle genau diesen Aspekt auf folgende Weise ins Spiel zu bringen: Höchstgeschwindigkeit funktioniert nur ohne Masse – der „zeitliche Anteil“ ist ein Maß für die Masse eines Objekts.
Nun ist der Schritt nicht weit, zu behaupten: Masse erzeugt Zeitlichkeit. Indem ich langsamer bin als die Höchstgeschwindigkeit (einen Teil meiner Energie abzweige „in die Zeit“) werde ich träge = schwer. Weil ich es ermögliche, dass nun Informationen zueinander finden können und das Merk- und Wirkweltspiel beginnen kann. Geschwindigkeit, die ich an eine bemerkbare Eigenschaft verliere, bspw. in eine Rotation, macht aus mir ein schweres, zeitliches Ding. Das ist für uns, die wir von unten nach oben denken, ungewohnt, aber für die einfachsten Dinge des Kosmos selbstverständlich. Sie kommen aus der Unzeit der Schwerelosigkeit (Greene: „Ein Photon, das aus dem Urknall hervorgegangen ist, ist heute genauso alt wie damals. Bei Lichtgeschwindigkeit gibt es kein Verstreichen der Zeit.“) und werden zeitlich in dem Moment, wo ihre Bewegung sich umlenkt in Anwesenheit. Ein Photon ist nicht anwesend, es ist komplett in die Zeitlosigkeit verstreckt und hat nur eine Chance Relationen aufzubauen: indem es langsamer wird. Alles ist Licht, würden die Esoteriker sagen, prinzipiell ist das auch Einsteins Idee: Alles ist entweder lichtschnell oder es braucht Zeit.
Viele Physiker wunderten sich anfangs über die von Einstein postulierte Konstanz und Grenze der Lichtgeschwindigkeit. Man kann es unmathematisch so erklären: Lichtgeschwindigkeit ist gar kein Tempo, es ist eine Eigenschaft. Alle masselosen Dinge sind lichtschnell, nicht weil sie Masse abwerfen müssen, um zu beschleunigen (das ist eine Konsequenz des Späterhin, nicht die Ursache), sondern weil Masse sich nur aufbaut und erhält, wenn man entschleunigt. Was Masse bekommt, verliert die lichtschnelle Eigenschaft in die Materie (um dieses Wort an der richtigen Stelle einzuführen). Das Ausmaß der Bremsung sagt dem Higgs, wieviel Masse das Teil zu tragen hat (um neueste Theoriebilder zu benutzen). Was seine Masse aber wieder abgibt, wird wieder – naturgegeben sozusagen – lichtschnell. Eine Grundeigenschaft des Daseins und damit eine absolute Grenze der Existenz.
Die Abweichung von der zeitlosen Verstrecktheit (da es nicht schneller geht, bleibt nur die Abweichung in die Verlangsamung durch das Ende des Verstrecktseins) erzeugt Energie und damit auch Masse. Gebremstheit erzeugt eine widerständige Form, meinetwegen den Übergang in eine Rotation, einen Drehimpuls, ein Trudeln, das Einschließen der Bewegung in ein Zittern oder Vibrieren, keine Ahnung, wozu die Indizien der Teilchenphysiker am besten passen. Und Gebremstheit erzeugt sich nicht selbst, sondern entsteht. Meinetwegen durch Kollision, Begegnung, Wirkwelt erzeugt Merkwelt. Wirkende Form erzeugt bemerkbare Form. Und bemerkte Form wirkt.
Jetzt sind wir endlich zurück bei unserem Thema und können abschätzen, warum die Frage nach dem Entstehen von Information eine so bedeutende ist. Sie hat zu tun mit den großen Fragen der Physik. Einige theoretische Physiker, allen voran Carl Friedrich von Weizsäcker, haben das erkannt und in diese Richtung geforscht und in einer sogenannten „Urtheorie“ die Verknüpfung der Begriffe Information, Energie, Materie versucht. Hinter der Silbe „Ur“ steckt dabei eine „ursprünglich quantisierte Alternative“ und kein zeitliches Attribut. Wichtig für diese Theorie sind die Begriffe Entscheidbarkeit und Wissbarkeit. Sie korrelieren mit unseren Begriffen Differenz und „Bemerkung“.
Die Schwierigkeit jeder Theorie entscheidbarer Alternativen ist nicht die Grundinformation über die Existenz eines Dinges, sondern ob dieses Ding bereits Eigenschaften hat und welche. Da wir von der Verstrecktheit ins Licht gesprochen haben, liegt es nahe, ein daraus entstehendes Ding als nunmehr unverstreckt, also in irgendeiner Form als endlich geworden zu betrachten, und sei es, dass dieses Ding sich vor „unseren Augen“ unendlich hinfortwindet (wie eine Schraube ins Nichts). Dann ist es immerhin durch seine Rotation ein Ding, das bestimmte Bedingungen stellt, wenn man ihm nahekommen oder bei ihm bleiben will. Es gibt zum Beispiel eine Drehrichtung vor. Während wir entgegendrehend beieinander bleiben könnten und den Raum zwischen uns zermahlen, würden wir gleichdrehend voneinander abgestoßen werden.
Die bloße Variation der Bewegung eines Urs erzeugt also entscheidende Alternativen, die womöglich bemerkbar|wissbar, also entscheidbar sind. Von Parmenides stammt der Ausspruch: „Dasselbe nämlich ist Wissen und Sein.“, aber wir sind auch bei Deleuze, der (in "Differenz und Wiederholung") sagt, es gibt
(…) eine einzige 'Stimme' des Seins, die sich auf all seine Modi, die verschiedensten, verschiedenartigsten, differenziertesten, bezieht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus.
Will sagen: für Deleuze ist die Grundlage des Seins, dass es sich überhaupt unterscheidet, ganz gleich wie. Man muss nur um es wissen können, sagt Parmenides.
Alle miteinander, von Weizsäcker, Parmenides, Deleuze benutzen für ihren Gedanken der Entscheidbarkeit, der Unterscheidung, des Wissens von der Differenz, der an das Objekt und seine Eigenschaften gerichtet scheint, ein dialogisches Prinzip. Es ist immer der Bemerker, der feststellt, dass es einen Wirker gibt. Information ist immer etwas, das aus mindestens einem Zwiegespräch entsteht und niemals ein objektives Gut. Ganz gleich wie sich Dinge unterscheiden, sie sind „da“ nur in dem Unterschied, von dem gewußt werden kann (auch wenn sie darüber hinaus noch mehr sind).
Eliminiere ich das fremde Subjekt, eliminiere ich mit ihm auch die Chance ein Ich zu sein, das von Unterscheidungen weiß. Ich gewinne Identität aus dem Dialog, wenn ich mein Wirken als Merkwelt bereitstelle und das Wirken anderer als Merkwelt erfahre.
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Ich glaube sehr an respektvolle Blicke und weniger an den Wilden Westen. Respekt ist für mich der Blick auf den Austausch der Merkwelten, der keine Wirkung will. Es ist darum ein nackter – um den Wirkungswillen bereinigter – Blick. Aber es gibt natürlich auch Hunger und Gier, wild gewordener Westen und Karate kämpfenden Osten. Wir sind ja auch Maschinen, Körper, in denen Funktionen streiten, die andere Körperlichkeit auflösen und aus ihrer Masse Energie gewinnen wollen. Wir haben einen neuartigen Konflikt auszutragen: unser Bemerken der Welt hat sich über Jahrmillionen derart weit entwickelt, dass es uns befähigt Differenzen so fein zu filtern, dass wir neben dem respektlosen auch den respektvollen Blick aufbringen könn(t)en. Unsere Sinne sind so fein für Einblicke geworden, dass wir Verständnisse entwickeln können, die uns den Status der Maschine nehmen und entscheidbaren Alternativen gegenüberstellen. Diese sind nicht einfach gedacht und beliebig, sondern echte Wirklichkeiten, zumindest liegen in ihnen die Kerne unserer Wirkwelt beschlossen. Einfacher gesagt: je feiner wir bemerken, umso bewirkender werden wir. Je tiefer unser Wissen in die Welt hineinreicht, umso mehr ist es uns möglich sie zu verändern.
Das sind platte Wahrheiten, die aber gerne im Tageshustle verlustig gehen. Und es sind Wahrheiten dabei, die oft nur noch der Spezialist, der Fachmann im Bereich, einschätzen kann. Vom Apothekerdasein müssen wir nichts wissen, wenn wir uns ein Aspirin auflösen. Hauptsache es wirkt. Das Delegieren an die Fachleute schenkt uns Ausreden und spricht uns frei von Schuld. Wir können getrost in Anspruch nehmen, was uns geboten wird. Unser „Bemerken“ verlagert sich dabei vom Wissen über die Natur zum Wissen vom Produkt. Die Weltkörper, denen wir begegnen, sind Produkte, aus Fachchinesisch gekochte Alchemie, und die Menschen, denen wir begegnen sind ebensolche Produkte, sie sind die Schminke von Dehors und das Kleid von Amarillo.
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Die Kurve zurück zum Thema Information führt in die Welt der Körper hinein. Körper konstituieren die Welt, indem sie uns „Bemerkungen“ anbieten, also den dialogischen Moment der Information ermöglichen. Körper sind also die Gegenstände, die es aushalten müssen, befragt zu werden, die dem Licht trotzen. Was wir von ihnen wissen können, hat auch zu tun mit dem, was wir von ihnen wissen wollen. Jean-Luc Nancy schreibt in seinem Corpus:
Die Körper sehen heißt nicht, ein Mysterium zu enthüllen, es bedeutet, das zu sehen, was sich dem Sehen anbietet, das Bild, die Menge der Bilder, das nackte Bild, wobei die Arealität entblößt wird. Dieses Bild ist aller Vorstellungswelt, aller Erscheinung fremd – und gleichfalls aller Deutung, allem Dechiffrieren. Einen Körper kann man nicht dechiffrieren – ausgenommen die Tatsache, dass die Chiffre eines Körpers dieser Körper selbst ist, nicht chiffriert, ausgedehnt. Das Sehen des Körpers durchdringt nichts Unsichtbares: Es ist Komplize der Ausdehnung, die das Sichtbare ist.
Nancy sagt hier in einfache Worte gebracht: Das Betrachten eines nackten Körpers ist die Feststellung, dass er da ist. Die erste „Bemerkung“ ist die der ausgedehnten Existenz. Alles weitere folgt. Corpus sehen ist die Begegnung mit der Sichtbarkeit. Ich würde dieses Wort gerne ersetzen mit „Bemerkbarkeit“. Und wir müssen an dieser Stelle im Gedächtnis behalten, dass wir aus dem dialogischen Apfelgeschehen den ganzen Bereich der Wirkwelten hier ausgeklammert finden.
Der Nancy'sche Corpus ist die bloße Existenz. Doch was will Nancy uns damit sagen? Was steckt hinter dieser nicht ganz so phänomenalen Feststellung. Ferdinand Auhser wagt eine Interpretation:
Corpus meint nichts anderes, als diese Unbefangenheit, das annehmen- und aufnehmen-Können der Existenzen, einen Schriftkörper, in dem Wort für Wort nebeneinander steht, in dem sich Sinnzusammenhänge ereignen, in dem Bezüge stattfinden – der absolut moderne Roman, in dem sich das Weltgeschehen schreibt, in dem Ebene über Ebene liegt, eine Unendlichkeit an Ebenen, die vertikal angeordnet die Tiefendimension erzeugen, das Reich der Metaphern und Trugbilder, die Perversion der Hintergründigkeit in einem Staccato an Präsenzen, Kontakten und Bezügen, ein einziger Tag, der alle Tage umschließt, ein einziger Monolog, der alle Monologe ausspricht, das Zugleich aller Enden einer parabolischen Bewegung.
Nackte Körper, Worthülsen, können/dürfen nebeneinander sein, aufeinander, untereinander, können/dürfen einen weiteren, den Schriftkörper bilden – in dem dann Unglaubliches passiert. O.k. - das sieht fast so aus, als wäre dieser Text gemeint, wo Worte nebeneinander stehen, aufeinander Bezug nehmen, monologisch ausufern, Gleichzeitigkeit suchend, geschickt mit einem „Staccato an Präsenzen, Kontakten und Bezügen“ spielend, na ja, sind wir bescheiden und lassen das „geschickt“ weg. Ich verstehe nicht? Auhser fährt fort:
Corpus – kein Diskurs, keine Erzählung, eher offene, aphoristische, nicht-abgeschlossene Prosa, fragmentarische Schrift, die ihre Wörter, ihre Körper, das Wort „Körper“, wenn man will, nicht einer Überschrift, einem Ziel, einem Ergebnis unterstellt, ein surrealer, dadaistischer Text, in dem die Arealität der Körper, ihre Ausdehnung offenbar wird, in dem sie irgendwie, irgendwo – sich selbst überlassen – an ihren Stätten Kontakt aufnehmen.
Aha – eine zusammengewürfelte Liste? Ein Wörterbuch als Formenkatalog? Auhser weiter:
Ein Corpus, der sich in der ursprünglichen Unmöglichkeit der reinen Auflistung zu einem modernen, offenen Kunstwerk wandelt, der kein Gesetz kennt außer die Gesetze der inneren Differenz, der immanenten Bewegung, Chaos unendlicher Bezüge, die sich jedem Anspruch vorverfügter Identität entziehen, die sich immer als problematisch und fraktal, als undurchdringbar erweisen.
O.k.: Wir sollen Körper erzeugen, die selbst entscheiden, was aus ihnen wird, die keine vorverfügte Identität besitzen! Wir sollen Körper als Kunstwerke entdecken, die noch unentschieden sind, reine Form, reine Struktur, als solche undurchdringbar vom durchbohrenden Verstand. O.k. – und was haben wir damit gewonnen? Was haben wir davon, wenn wir Wortkörper in reichen Kombinationen listen?
Material, um das man sich kümmern kann, weil es nicht vorbelastet ist, weil es nicht missbraucht und womöglich ichlings geprügelt wurde? Wir haben Kontaktflächen, die unverbraucht sind, die wir selbst erst erkennen müssen. Klar, die große Sorge der Kunst unserer Zeit muss sein, die Gewalt, die man den Dingen und der Welt angetan hat, nicht weiterzuführen und zu wiederholen. Der Gebrauch von Worten, angefangen bei der Bibel bis hin zu Pressetexten, die Kollateralschäden verkünden, ist von Missbrauch, von Vergewaltigung geprägt, Sprache hängt am Sabberlatz der Agitation und am Bischofspurpur wie Spucke, in die Welt gehustet, ins innere Auge des Zuhörers. Es ist nicht der Reim, der out ist, sondern das Bemühen zu Reimen, das Bemühen auf den Punkt zu kommen, der Anspruch alles zu steuern, mächtig zu sein. „Der reimt sich das zusammen“ - dahinter steckt das Stimmigmachen für sich selbst. Der Dichter von heute macht sich keinen Reim drauf, er verzichtet auf den Dirigentenstab und lässt sich überraschen, was die Instrumente so können. Er wählt Verfahren aus, die ihm Material zutragen und stellt sich dem Material zur Verfügung. Er arrangiert Produkte.
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Die Lyrik von heute ist nicht weit entfernt von dem, was Jean-Luc Nancy in seinem Buch Corpus anvisiert, einen neuen unvorbelasteten Kontakt zur Welt einzugehen, die Körper der Welt wieder neu gelten zu lassen. Dazu gehört das Entkleiden der Worte aber genauso, wie das Nutzen des Unverbrauchten, aber auch das Wiederbringen: es ist viel schwieriger mit restaurierten Worten im Jetzt glaubhaft neue Körper zu erzeugen, als dasselbe mit frisch erfundenem Jetztsprech zu tun. Üblichkeit gelungen zu extrapolieren, braucht bisweilen mehr Talent als Raffinesse zu pflegen.
Wir wollten uns im Gedächtnis behalten, dass wir in der Nancy'schen Corpus-Sicht den ganzen Bereich der Wirkwelten ausgeklammert fanden. Das Gedicht als Corpus ist zunächst eine bemerkbare Welt und wird nach seinem Lesen zur bewirkenden Welt. Ich frage mich oft, sind wir denn mit dem wirklichen Funktionieren unserer Sprache so extrem unzufrieden, dass wir uns an die Ränder sehnen müssen? Kann man nicht einfach davon ausgehen, dass die Dinge, die man heute sagen kann, ohnehin verschieden sind zu dem, was man „früher“ sagen konnte oder wollte. Sind die heute möglichen Inhalte, die man ansprechen kann, nicht grundverschieden zu Inhalten bspw. der Jahrhundertwende? Ich denke schon. Man ist aus meiner Sicht nicht nur vorne, wenn man formal vorne ist als Designer, sondern auch bereit ist zu wirken. Ich habe nur Identität, wenn ich mein Wirken als Merkwelt bereitstelle und das Wirken anderer als Merkwelt erfahre.
Nancy geht davon aus, dass man einen Apfel isoliert betrachten kann und hofft, dass man ihn völlig neu und bezuglos wahrnimmt. Aber was gewinnen wir, wenn wir den Apfel nicht als Apfel sehen, schließlich ist er genau nach unserer Merkwelt gebaut, um die Wirkwelt des Baums zu erweitern. Er ist nur deshalb fruchtig und leuchtet vom Baum, weil der Baum per Evolution „weiß“, dass wir hier sind. Letzten Endes ist es so auch mit einem Gedicht, es ist nur deshalb ein Gedicht, weil es einen Adressaten gibt. Die Frucht eines Baumes ist der Kern eines Raumes. Drum wissen wir andre Subjekte und bemerken im Licht, u.a. die schönen Effekte im Wamst vom Gedicht.
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Dann kommt die Axt.
Was lesen wir daraus?
Was kann man alles aus einem simplen Baumstumpf im Wald herauslesen?
Der Stumpf an sich kann uns über die Jahresringe sagen, wie alt der Baum war, wir erkennen die Art und schätzen womöglich den Wert ihres Holzes. Wir erkennen an der Glätte des Schnitts die Güte des Werkzeugs des Fällers. Der Stumpf kann uns auch sagen, dass hier Waldarbeiter zugange waren und es in der Nähe einen Weg oder eine Straße geben müsste. Was uns wiederum etwas über die Mobilität der menschlichen Kultur verrät. Er kann noch mehr über die menschliche Kultur verraten, bspw. wenn er der Stumpf eines nicht einheimischen Nutzholzes ist und wir damit Spekulationen über die Art der Nutzung und eine globalisierte Vernetzung formulieren könnten ….. Der Baumstamm an sich ist nur da, aber wenn er uns begegnet, eröffnet sein Dasein Deutungsräume und Zweckabsichten in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein. Der Förster kann den Stumpf als Orientierungspunkt für seine Salzfutterstelle nehmen. Dem Pilz gibt er eine wunderbare Angriffsfläche ab für sein Myzel und einen unsichtbaren Kosmos wuchernden Austauschs, und dem Käfer ein Versteck – bis hinunter in für uns unsichtbare chthonische Ebenen informiert der Baumstumpf und bis hinein in für uns unsichtbare Zusammenhänge: hier ist jetzt Licht für ein paar Jahre roten Holunders, dessen Samen von einer Drossel im Erleichterungskot über die Kante des Stumpfs in weiß verschlierter Wucht gespien wurde, nachdem sie dem Beisturz des Sperbers am Waldrand ins Dunkel der unterwachsenden Eiben entkommen war.
Und so kann man auch Gedichte lesen. Man sieht sich die Worte und Sätze in ihren Kontexten an und entwickelt daraus die Story ihres Raums. Ein gutes Gedicht lädt dazu ein und lässt viel entstehen, ein schlechtes lässt wenig entstehen und/oder weckt schlimmen Verdacht.
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Geteilter noch als bei der Zeder bewundere ich vielleicht beim Asparagus diese Art, durch jede seiner hohen Etagen eine Decke zu bilden, dem Heil des Lichtes (oder nehmen wir an, der weichen Landung der Flugzeuge des Lichtes) nur seine Handrücken in Höhe schwebender Lippen darzubieten; seine Wohltaten, seine Geschenke, seine Großzügigkeit ebenso freigebig auszubreiten – das heißt nicht etwa nur den Schatten, den er spendet, sondern auch seine Regenfälle: feine Regenfälle nicht etwa nur aus Schatten, sondern aus Samenkörnern … ist doch jeder seiner Zweige eine lange zugespitzte Wolke – wie jene, die sich zur Stunde der Dämmerung, der Morgen- und Abenddämmerung, wenn die Winde ersterben, am Horizont über die Ebenen dehnen. So reglos verharren lange Ruder violetter Waggons, die von ihren Lokomotiven verlassen worden sind, wenn diese in ihre Rotunden, ihre verglasten Rosetten, die purpur sich färben und qualmen, zurückgekehrt sind: wahrhaftig die Rosette der Winde, ein Strauß großer, durch Zedernzweige hindurch erblickter Anemonen. So bieten die Zweige des Asparagus der Bewunderung eine größtmögliche Oberfläche dar ...
Fein bemerkt - von Francis Ponge in „Asparagus“ (Walter Höllerer: Ein Gedicht und sein Autor, 1967).
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Dieser Essay entspringt den Notizen während des Lesens von: Ferdinand Auhser: Die Macht der Form. Versuch einer dynamischen Ontologie. Transcript Verlag 2015. Leseprobe Die Fotos entstanden während einem Gang durch die Heidelberger Altstadt im Oktober 2015.
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