Ein spätes Geschenk
Eines der Gedichte von José Emilio Pacheco trägt den Titel Mozart: Klarinettenquintett A-Dur, K. 581, und es geht so:
Die Zeitmusik quillt hervor und besetzt die Zeit.
Sie leiht sich die Form der Luft und besiegt die Leere
mit ihrer unsichtbaren Materie. Sie wächst
zwischen dem Instrument und der Gabe,
ihren Wasserkörper zu erwecken:
jenes Fließen, das den Takt flieht,
jene Quelle, die zu Quecksilber wird,
weil Musik ohne Bewegung Stille wäre.Mozarts Strömen hat die Fülle
des Meeres und rechtfertigt wie dieses die Welt.
Gegen den Untergang und das Chaos, das wir sind,
behauptet sich in konzentrischen Wellen
die Wonne der Perfektion, der absolute Genuß
der unvergleichlichen Schönheit,
unabhängig von Sprachen und Raum.
Seine zarte Kraft spricht von allem zu allen.
Es kommt in die Welt und macht sie zu klingendem Licht.
In Mozart und durch Mozart spricht die Musik:
unsere einzige Möglichkeit, den Schwall
und das Rauschen der Zeit zu hören.
Ich weiß nicht, warum wir dieses Gedicht nicht in die Auswahl aufnahmen, die Alejandra Rogel Alberdi und ich vor anderthalb Jahrzehnten erstellten, übersetzten und unter dem Titel Rückkehr zu Sisyphos veröffentlichten. Vielleicht, weil unsere Aufmerksamkeit auf Mexikanisches und Lateinamerikanisches gerichtet war, auf Geschichte und Gegenwart, auf Tier- und Dinggedichte, aber weniger auf die europäische Tradition, in der José Emilio doch auch wurzelte, und schon gar nicht auf Heimisches, auf unseren Mozart, den Wolferl aus Salzburg.
Im September 2004 begleitete ich José Emilio auf der Lesereise begleitete, für die wir ihn gewinnen konnten. Gewinnen insofern, als er zögerte, die Anstrengung scheute, zuletzt aber nachgab; irgendwo auf der Fahrt sagte er mir, das sei seine letzte Europa-Reise, wenigstens könne er noch das Haus sehen, in dem Mozart geboren wurde. Ich schluckte den Kommentar hinunter, er habe noch genügend Zeit, wir würden ihn gern noch öfter hier bei uns sehen. Seine letzte Reise nach Europa sollte er 2010 machen, um in Madrid den Premio Cervantes entgegenzunehmen. Damals ging er bereits am Stock, aber die Pressefotos zeigten immer noch einen Dichter und Intellektuellen, der sich des Lebens erfreute.
Diese Lebensfreude und besonders der Humor, mit dem er die Dinge nahm, obwohl er für die menschlichen Umtriebe einen unerbittlichen Blick hatte und als Denker zum Pessimismus neigte, sind mir in lebhafter Erinnerung. Ich erinnere mich aber auch, daß es schwierig war, ihn zu treffen, 1994 in Mexiko-Stadt, als er den vereinbarten Zeitpunkt immer wieder verschob. Begegnungen mied er nicht aus Snobismus, wie mexikanische Kollegen wähnten, die sich ihm vergeblich zu nähern versuchten, sondern aus einer tief verwurzelten Scheu. Der von ihm vorgeschlagene Treffpunkt war seltsam, ein Zeitungskiosk in der Nähe von Bellas Artes, unweit vom Palacio de Minería, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Als Kind, erzählte José Emilio, habe er dort mit seinem Vater Kalender mit Drucken von José Guadalupe Posada gekauft, dem sozialkritischen Karikaturisten, dem die Mexikaner das berühmte Bild der Calavera Catrina verdanken. Großzügig lud er uns zum Abendessen im Casino Español, einem riesigen Palast mit imposanter Treppe und barock anmutendem Interieur, wo uns der Gastgeber durch ein halbdunkles Labyrinth zum Restaurant führte. Das Lokal ist bekannt für seine spanische Küche, aber ich erinnere mich, dort zum ersten Mal Mole poblano (mit scharf würziger Schokoladesauße) gegessen und über die Verwendung von Kürbisblüten und Rosenblättern zu Speisezwecken gestaunt zu haben. José Emilio machte kein Geheimnis daraus, daß gutes Essen eine tiefe Befriedigung für ihn bedeutete.
In Österreich waren wir die Gastgeber, und ich bekenne, daß ich mich zuweilen schämte für die Art, wie meine Mitübersetzerin den mexikanischen Dichter behandelte, der zehn Jahre nach unserem Aufenthalt in Mexiko gealtert schien, ein wenig versponnen wirken mochte, eingesunken, unselbständig, wie ein Kind. So behandelte ihn Alejandra, und José Emilio merkte es, sagte aber kein Wort, sondern ließ sie gewähren – nur in bestimmten Augenblicken spürte ich eine Schärfe, mit der er seine Selbständigkeit, die er besaß wie eh und je, verteidigte. Im Gespräch verwies er ihr das in Argentinien geläufige, fast volkstümliche Wort „Yankee“, das in der Gedankenlosigkeit des Sprachgebrauchs eine Beleidigung für ein ganzes Volk war, die er nicht hinnehmen konnte. José Emilio hatte viele Semester an der University of Maryland unterrichtet, und einige seiner schönsten Gedichte haben Orte in den USA zum Schauplatz. Ganz gleich, wie kritisch er sich gegenüber historischen, politischen, sozialen Phänomenen äußerte, die beteiligten Menschen waren stets zu respektieren, als Individuen ebenso wie als abstrakte Größe. Er vertrat und lebte eine Handvoll moralischer Grundsätze, auf denen er niemals herumritt; wenn man ihn reden hörte bei den Gesprächen am Abend, die oft das Scherzhafte streiften und sich in Späßen und lustigen Geschichten ergingen, hätte man ihn für einen verantwortungslosen Gesellen halten können – dabei war er das Gegenteil davon. Besonders erinnere ich mich an das Duett mit Florian Borchmeyer, der in Havanna studiert hatte und mit kubanischem Akzent dahinplauderte, in bestem Einvernehmen mit dem mexikanischen Dichter, während der österreichische Übersetzer mit seinem vulgären argentinischen Akzent als Stichwortgeber und Zuhörer dabeisaß, in der Kneipe in der Nähe der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg.
Als ich mit José Emilio im Zug von Wien nach Salzburg fuhr, schlug er sogleich vor, in den Speisewagen zu wechseln. Dort blieben wir während der dreistündigen Fahrt, José Emilio betrachtete mit sichtlichem Wohlgefallen die vorbeiziehende Herbstlandschaft, lobte die großen Fenster und den guten Kaffee und hörte mir zu, als ich von meinen Erfahrungen in Japan erzählte, wo ich seit zwei Jahren lebte. Ich erwähnte Octavio Paz, der in den fünfziger Jahren als Angestellter der mexikanischen Botschaft einige Monate in Japan verbracht und später japanische Gedichte sowie die Reiseerzählung Basho Matsuos (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland) übersetzt hatte. Wie überrascht war ich zu hören, daß José Emilio vor wenigen Jahren selbst eine Auswahl japanischer Haiku übersetzt und herausgegeben hatte. Wir sprachen dann über die Frage, ob man übersetzte Gedichte in eine dritte Sprache weiterübersetzen soll (José Emilio konnte nicht Japanisch) – und schließlich über die Freuden und Nöte des Übersetzers generell, seine absurde Herausforderung, Unmögliches zu schaffen. Wie er im Nachwort zu einem Band mit seinen eigenen Übersetzungen geschrieben hatte, verstand José Emilio diese literarische Tätigkeit als „Annäherung“, bei welcher der Übersetzer ein Analogon zum Original schaffe, keine Wiederholung, sondern eine Neuschöpfung. Eigentlich könne ein Gedicht außerhalb seiner Sprache gar nicht leben, wie ein Fisch, wenn er aus dem Wasser gespült wird. Der Übersetzer habe jedoch die Möglichkeit, das expatriierte Gedicht mit den Mitteln seiner Sprache zu beleben. Ohne die Tätigkeit des Übersetzens, so José Emilio, wäre ein Großteil der Weltliteratur niemals zustandegekommen.
In Salzburg nächtigten wir im Hotel Zum Hirschen; nicht im eleganten und sündteuren Goldenen Hirschen in der Innenstadt, sondern im Hirschen (ohne schmückendes Beiwort) in Bahnhofsnähe, einer gutbürgerlichen Herberge. Als kein Zimmer verfügbar schien, in dem man rauchen konnte, reagierte José Emilio ziemlich streng; er sei bereit, jeden Aufpreis zu zahlen. Schließlich hatte man doch ein geeignetes Zimmer für ihn, und José Emilio konnte sich zurechtmachen für seinen Auftritt im Literaturhaus. Für solche Zwecke hatte er dunkle Kleidung bereit, außerdem rasierte er sich jedesmal vorher. Ein entsprechendes Erscheinungsbild, sagte er, sei er seinem Publikum schuldig, das gehöre zum Arbeitsethos.
So ernst er die Sache nahm, so vergnüglich ging sie dann über die Bühne. Wir hatten die zweisprachige Lesung zwar vorher besprochen und einen ungefähren Verlauf ins Auge gefaßt, doch dann setzte er mich ein weiteres Mal in Staunen, als er das Publikum bat, Zahlen zu nennen, von 11 bis 168, er werde dann die betreffende Seite aufschlagen und das Gedicht vortragen. Es ging also zu wie bei einer Lotterie; die Zuhörer fanden Gefallen an dem Spiel, die meisten nannten Zahlen aufs Geratewohl, andere, die die Rückkehr zu Sisyphos bereits erstanden hatten, wählten Gedichte, die ihnen besonders gefielen oder deren Titel sie anzogen. Es war eine der fröhlichsten, zugleich eindrucksvollsten Lesungen, denen ich je beiwohnte. José Emilio verkörperte an diesem Abend das horazische Prinzip des prodesse et delectare: Nutzen – also Erkenntnis – und Vergnügen sollen in der Literatur eine Einheit bilden.
An nächsten Tag besuchten wir die Salzburger Innenstadt. Wir schlenderten ein wenig umher, ich erwähnte Georg Trakl, das Haus in der Judengasse, den Pferdebrunnen, das Föhngedicht (an dem Tag herrschte Föhn), bis ich merkte, daß José Emilio nur ein Ziel hatte: Mozarts Geburtshaus. Ich war tausendmal vorübergegangen, aber nie über seine Schwelle getreten; eine Touristenattraktion, dachte ich, ein Kulissenstück, nichts für Leute wie mich. Als Student hatte ich zwei Semester in einer Wohngemeinschaft schräg gegenüber von dem Haus gewohnt, das die österreichische Fahne wie eine Zunge heraushängen ließ. Die Getreidegasse hatten wir gemieden, soweit dies möglich war. Wir hausten dort zu siebt oder zu acht, die Zahl wechselte, es gab feste Mieter und Besucher, nicht immer war festzustellen, wer in welche Kategorie gehörte. Die verwinkelten Räume fraßen sich tief ins Haus mit den dicken Mauern (so der Eindruck in meiner Erinnerung), Tageslicht drang kaum durch die Fenster im ersten Stock, und in manchen Ecken roch es feucht.
Von alldem erzählte ich José Emilio nichts, ich wollte seine stille Begeisterung nicht stören, die langsam auf mich überging, während wir uns auf den Holzplanken des Bodens bewegten. Die schmale Treppe, die abgetretenen Steinstufen, die niedrige Decke, die alten Möbel, das Cembalo, die Wasserkannen und -schüsseln, die große steinerne Abwasch in der Küche – das alles kannte ich von irgendwoher, aus der Wohnung auf der anderen Seite der Gasse, vom Gasthaus meines Großvaters; sogar Bilder aus dem Haus im heruntergekommenen Barockviertel, das ich einst in Catania bewohnt hatte, belebten sich in meinem Gedächtnis. Und gleichzeitig umfloß uns das Licht im Halbdunkel, das auch hier herrschte, wahrscheinlich, um die Ausstellungsobjekte zu schonen, und wir vernahmen ein Rauschen, obwohl nichts zu hören war, keine Lautsprecher, nichts, nur das Knarren des Fußbodens unter unseren Füßen. Ja, Mozart war in diesen Räumen so gegenwärtig wie wir selbst, Mozart, das ewige Kind, der Komponist von Freude und Trauer (José Emilio kommt in seinem Gedicht ohne Gefühlswörter aus).
Ein solches Kind war auch der mexikanische Dichter, ein Arbeiter, gewiß, kein „immer schon“ Begabter, aber doch einer, der in der Musik der Sprache lebte und daraus schöpfte, um das Geformte an uns, die anderen, noialtri, weiterzugeben. Ein Kind, das keiner Hilfe bedarf, nur der Liebe, und die wird ihm zuteil in reichem Maß, ebenso wie Mozart, dem seinerzeit wenig Geliebten (auch José Emilio hatte Feinde, Anschwärzer). Als er wieder zu Hause war in seinem Mexiko, für immer seßhaft und bis zuletzt ein Freigeist der Sprachen, der Kulturen, der historischen Epochen, nahm ich mir vor, ihm ein Geschenk zu machen: die Übersetzung eines Gedichts, das mir erst nach seinem Besuch in unseren Landen untergekommen war, das ich aber sofort mit ihm und seiner Liebe zu Mozart in Verbindung brachte. Rose Ausländers Salzburg-Gedicht, ins Spanische übertragen von einem, der nur so halbwegs zu Hause ist in dieser Sprache. Ich habe es aufgeschoben, immer wieder, habe das Gedicht oftmals gelesen, auch Notizen an den Seitenrand geschrieben, aber eine Übersetzung, die diesen Namen verdient, ein Annäherung aus der Fremde und Neuschöpfung mit den eigenen, in diesem Fall besonders bescheidenen Mitteln ist nicht entstanden, und auch kein Brief an José Emilio. Jetzt ist es zu spät, aber ich will das Geschenk trotzdem nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben, oder anders gesagt: Der Sankt Nimmerleinstag ist heute, jetzt, tarde e temprano, und José Emilio wird das Geschenk im Himmel der Literatur lächelnd entgegennehmen, denn in die Hölle, wie er ein bißchen aus Jux, sicher aber mit Ironie in seinem Bericht über Juan José Arreola und die Entstehung des Bestiariums zu ahnen vorgab, wird er sicher nicht gekommen sein. Wenn sie einem erspart bleibt, dann ihm, der so oft vor den Höllen gewarnt hat, die sich die Menschen selbst bereiten. Er braucht keinen Trost, der Trost ist für uns hier auf Erden.
SALZBURGO
Vuelas sobre
montañas sonoras
una alondra
en el vuelo de los ojosAves rapaces
sus sombras proyectadas
sobre bellos bastidoresAntes volaban aquí
violines hacia el cielo
pianissimoSalta
sobre las sombras
hasta la luz de Mozart
Bücherliste:
Rückkehr zu Sisyphos: Gedichte 1959-2000 Gebundene Ausgabe – 20. November 2003
von Jose E Pacheco (Autor), Leopold Federmair (Übersetzer), Alejandra R Alberdi (Übersetzer). Nur noch antiquarisch erhältlich
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