schwarz die Quelle, schwarz das Meer
fließende Annäherungen an Friederike Mayröcker
„wir kehren immer wieder an jenen punkt
zurück den wir einmal berührt haben.“ (F.M.)
Donaueschingen, Oktober 2014. zu dritt sind wir das letzte Stück Weges gegangen. die schmale Allee regennass und herbstlich; mir ist kalt, die Pause zwischen den Proben ist kurz. Brigach und Breg bringen die Donau zuweg. Daniel, der an diesem Nachmittag unbedingt baden will. also geht's die Böschung hinab und mit grünem Tang, also Haar, wendet er sich uns wieder zu: Ich bin die Donau! ruft er, steht triumphierend da, bis zu den Oberschenkeln im Wasser, einen großen Ast schwenkend, den er aus der Tiefe geborgen hat. gleich wird er das Treibgut von sich werfen, dorthin wo die Beine im Fluss zusammenlaufen. im Grunde ist er mir viel zu nackt, selbst als Nymphe; doch ich lache, will ja nicht spießig wirken.
bin ja selbst nie in Wien gewesen. dennoch habe ich das Gefühl, Wien zu kennen. die Zentagasse, das Kleine Café, die Blumen, die immer im Weg sind. aber es ist alles nur komponiert, einzelne Noten, und obwohl es sehr gut klingt, bleibt der Klang nur der Endpunkt einer Spur, die sich nicht bis zur Quelle zurückverfolgen lässt. habe ein sehr klares Bild von der Stadt, dieser Heiligenanstalt ('78). Juliane, die bei der Aufführung neben mir steht, mit einem Bein auf der Wurzel einer Esche, die tägliche Yoga-Übung. jetzt ist sie selbst ein Baum. jetzt eine Münze in der offenen Hand. ich möchte gern wissen, wie sie das macht, schreiben ohne ein Warum; doch als wir zu den Donauhallen zurückgehen, sind nur zwei von uns gereinigt und ich vergesse meine Frage.
in einem Labyrinth, das weder Ein- noch Ausgang besitzt, spielt es keine Rolle, wo man anfängt. in einem Labyrinth, das keinen Ausgang hat, hilft manchmal nur die Flucht nach oben (im Kaltluftsee baden).
je ein umwölkter gipfel ('73). hier also beginnen die unterschiedlichen Licht- und Wolkenschichten sich zu vermengen, wie man am Beginn einer Reise eine Sprache erfindet, bis es ganz ruhig wird im Bus und man irgendwo zwischen den Autobahnausfahrten in einen trägen Traum fällt, mit Augen wie Schaljapin bevor er starb ('74). das ist schon die Heimfahrt, wir sind um 180 Grad gedreht, und ich lese Mayröcker. ein weiterer Morgen; die Berge brennen noch an einigen Stellen, erkennbar an den hellen Wolken, die sich an Tannen festzurren wie Atemfahnen. wir sind alle müde, die meisten können das Licht in der Landschaft ('75) gar nicht mehr sehen. hätte mich gern auf den Rücken gedreht, mich den Fluss hinabtreiben lassen. am Ende der Reise Wien sehen. aber schon an der ersten Schleuse hätten die Schleuser gefehlt. und die Sprechplastik von Michael Lentz, die wir aufgeführt haben, die ewige Lampe dreht mich durch den Reißwolf. neuer Sinn im Unsinn, im Chor, Buchstabe für Buchstabe. unisono: niemals zurück nach Überall!
Ende Oktober (abends): Stimme gefunden, Riesenrad und Lindenbänke. kann nun erahnen, woher das stammt; dazu zwei verpasste Anrufe aus der Zeit, da ich krank war. ein Gefühl von den Quellflüssen und muss es nur noch notieren. zuerst das Anschreiben an oder gegen die Konkrete Poesie. in den 50er, 60er Jahren: Jandl, Okopenko, die Wiener Gruppe, und sie nimmt dieses Sprachmaterial und die formalen Experimente auf, obwohl niemand es damals so richtig ernst nahm, serielle Variationen, Assoziationen, man schrieb halt so in der Avantgarde auf der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Realität, einer Arie auf tönernen Füszen ('72). da ging schon mal ein Hiob hops. und sie der „Paradiesvogel“, der rote Satz. in Minimonsters Traumlexikon ('68) erprobt sie Vielstimmigkeit, Simultangespräche, Zeichnungen. eine Verspieltheit, die sich im Fantom Fan ('71) in der Beliebigkeit beinahe totfantasiert.
lese ja ein Buch nach dem anderen, während draußen der Herbst zwischen Bäumen und Flüssen eine Verbindung herstellt. dass ich Farben nicht erkenne, ist irgendwie nur ein Versehen. ich möchte schreiben, ohne ein einziges Zitat zu verwenden, doch alles soll Stimmen, mit Verlaub, Welt enthalten. nur Titel von Büchern sollen aufscheinen wie Blaue Erleuchtungen ('73). habe das Gefühl, wer immer zu diesem Werk eine Beziehung aufbaut, wird sich schon darin wiederfinden. ihre Prosa ist alles, nur kein Beiwerk, kein Schmuck, denke ich. Durchhaltevermögen. Ja, genau. den richtigen Ton und genau die richtigen Menschen treffen.
das Autobiographische, die genauen Beobachtungen, die Inquit-Formeln, das Sich-Wehren gegen das Erzählen treten in den 70er Jahren zutage. die Stimme, längst vorhanden, stammt aus dem zweiten Quellfluss: die Stimme der Poesie.
nach dem Krieg hatte Mayröcker zu dichten begonnen, floral, persönlich. dann, ganz Donauversinkung, der Fluss im Karstgestein konkreter Kerle! denen Gefühle zu sentimental waren. in den 60ern und als Gegenkraft zu ihrer enervierenden Arbeit als Lehrerin kehrt es verstärkt zurück, mit Material, das nicht aus der Sprache, sondern aus der Wirklichkeit stammt. Gedichte von ihrem Quartier, vom Fenster, von den Blumen im Hof, sie benutzt wieder Diminutive, Stillleben an der Maschine, und wirft sie in langsamen Blitzen ('74) der Wiener Gruppe zwischen die Beine. es war nur eine Frage der Zeit, bis daraus, flächig im Flussbett, Prosa würde, die ganz versunken war in sich. die sich nach vorne schrieb. die man nur aus großer Höhe als Blitze erkennt.
ihre Gedichte sind Uferlandschaften, ihre Prosa ausufernd. gleichwohl sie es „Erzählung“ nennt, erklärt sie sogleich, sie habe es „Spuren“ nennen wollen. dem Erzählen spürt sie nur nach, durch Decollagen, Demontagen, sie setzt nach und nach alles wieder zusammen, dadurch gelingt es ihr, sich der Wirklichkeit anzunähern. weniger brüchig. doch im zweiten Schritt wird die Sprache, die immer auch biographisch ist, wieder zum Material, und alles, was die Sprache färbt, wird offengelegt: sprachliches Zitat, Aufzeichnungen von Eindrücken und Erlebnissen, imaginierte Wahrnehmungen, Assoziationen. noch das Fernste steht dicht beieinander. das erste Leseerlebnis ist eine Reise durch die Nacht ('84), weil noch so vieles im Dunkeln bleibt. doch von da an wird der Schreibfluss immer sichtbarer, obwohl es immer unübersichtlicher wird, findet seinen Höhepunkt in mein Herz, mein Zimmer, mein Name ('88), ein einziger, über 350 Seiten ausgedehnter nicht enden wollender Satz, den man liest und überblättert und staunt und liest und –
als ich aus der Bibliothek komme, schwirrt mir der Kopf. um Mayröcker zu lesen, muss man Mayröcker gelesen haben. Daniels Libretto habe ich in der Zwischenzeit verpasst, seinen Kurzfilm vergessen. hab auch lang nichts mehr von Juliane gehört. und dann sind da noch diese Buchstaben, die vor meinen Augen umherschwirren. schwarz und in Schwärmen setzen sie sich auf die freigewordenen Plätze an den Ästen und Zweigen. das Laub, längst fortgeblasen (wann ist das geschehen?). die Tiere machen Krakra-krakra-kra, und als ich ganz kurz das Bedürfnis vermeide, sie verstehen zu wollen, habe ich das Gefühl, dass ich sie verstehe. bleibe eine Weile neben meinem Fahrrad stehen, schaue zu ihnen hoch; die Dämmerung färbt die Wolken oder das Schreien der Krähen.
Herr Lentz wird wieder seine goldenen Schuhe tragen. ich erfahre weiterhin, dass in Berlin eine große Gala geplant ist, in der die dann 90-jährige Jubilarin geehrt wird. ganz großer Bahnhof. der Bürgermeister wird sie am Bahnsteig in Empfang nehmen. ein Orchester wird aufspielen. ich sehe es klar vor Augen: die Straßen werden gesäumt sein von Schaulustigen, während eine Limousine sie zum Literaturforum fährt. beim Aussteigen säuselt im Hintergrund ein Männerchor, und mit jedem Schritt, den sie die breite Treppe hinauf schreitet, erklingt lauter und klarer als zuvor jene Stelle aus brütt ('98), in der sie am Vorabend ihres Jubeltages den Glauben an das zu Schreibende hochhält, inbrünstig, ein Wagnis müsse es sein, ein Wahn! und man hört immer deutlicher die Stimmen der Sänger vor Ergriffenheit zittern, und kurz bevor sie das breite Flügeltor endlich durchschreitet, eilt ein Mädchen die Stufe hinauf, eine kleine rosa Motte, und überreicht ihr eine Gloriole aus Staub.
Katharina fragt mich, ob wir wirklich dieses Leben wollen. ist denn tatsächlich schon wieder November? der ewig gleiche Trott oder Blick aus dem Fenster, seit gefühlt 30 Jahren, Nada, Nichts ('91), nur eine schreibende Lebensverrichtung. wie die Zeit vergeht. doch was bedeutet das Verstreichen der Zeit, wenn wir nicht wissen oder sagen können, was in diesem Augenblick geschieht. oder in jenem. wer in diesen Fluss steigt, in diesen Bewusstseinsstrom, dem fließt immer wieder anderes und wieder anderes Wasser zu. und sie hat dieses Zimmer, ist umgeben von ihren Büchern, Zetteln, Notizen, hat ihre kleine Welt, in der alles an seinem Platz ist. ihr literarisches Dasein, das Schreiben & das Schweigen ('08), es ist ja wie das Zurückführen des entnommenen Wassers in einen nicht mehr vorhandenen Fluss. und ich kann ja kaum rekonstruieren, was letzte Woche war oder ob überhaupt etwas passiert ist seit den Donaueschinger Musiktagen. ich habe nur einen kahlen Regenmorgen hinter den Winterzweigen, an dem wie kleine Fledermäuse noch magische Blätter ('83) hängen, eingerollt in meine stumme Morgenzeit, ich habe nur Bücher zum Reden, nur Lyrik zum Wecken, während auf der Kreuzung über das nasse Kopfsteinpflaster in Schleußig zwei junge Leute auf ihrem Zittergaul ('89) fahren – ach, ich ziehe meinen Kopf weiter in mein Herzklopfen zurück usw.
das Leben aufgeteilt in das Ziel und die Landschaft dazwischen. siehst du, schreibe ich Juliane, wir bewegen uns auf etwas zu, wir können die Augen mal schließen, mal wieder öffnen und immer sehen wir etwas, das unserer Aufmerksamkeit würdig ist. die Welt ein Guckkasten, ein Periskop, das tief bis in unser Innerstes reicht. kommunizierende Gefäße ('89). sie hat ja ihre menschliche Existenz mit dieser Obsession ('93) irgendwie verdrängt, irgendwie aufgegeben, findest du nicht? und Katharina schicke ich „Ansätze“, Mayröckers ersten Text (in Anführungszeichen); dieser zeigt eine Autorin, die vor einem weißen Blatt sitzt und sich davor fürchtet, dieses nicht vollends beschreiben zu können. verschiedene Ansätze werden erwogen: von einer Reise könnte berichtet werden, von einer Beobachtung in einer Straßenbahn, von der Natur, vom hingebungsvollen Lesen in Büchern, von Emotionen und Larifari ('56), doch jeder Ansatz verbleibt im Konjunktiv.
heute packt sie alles (und noch mehr) in einen Satz. Künstler, Komponisten, Musiker, Dichter, Philosophen, Freunde – die größte Vielstimmigkeit. ein Hörspiel, wo es leicht ist, die einzelnen Stimmen im Raum zu positionieren und gleichzeitig ertönen zu lassen, ist das Schreiben, ist dieser verfolgte Faden nicht. ein Schwarm Fünf Mann Menschen ('68), chorisches Sprechen, schnelle Sinnmodulationen, absurde Kleinstveränderungen. da werden Krieg, Arbeit, generell das Unglück geboren worden zu sein, durch einen winzigen Kniff zu Sprache, zu Poesie. werden erträglich. später steht die zerbrechliche Sprache im Vordergrund, die fast tonlose Wiedergabe der Worte. die Sprache droht an ihrer Schönheit zu leiden. doch da ist auch diese große Empathie für das zu Sehende, das zu Hörende ('97), diese Nervenausschnitte, die sie aufnimmt, indem sie sich ganz einer Sache an oder in einen Menschen hineinschreibt, mit Worten, die als Echo immer wieder reizen, weil sie nie eindeutig sind. auch die anderen Stimmen, immer ein zerbrechliches Echo. versuche nicht zu sehr wie sie zu klingen.
das Auge, lese ich, ist wie ein Labyrinth geformt; es nimmt Form und Struktur dessen an, was in es eindringt. und als unsichtbare Signale treffen die Wahrnehmungen aufeinander, werden dabei sichtbarer im Kopf, das Couvert der Vögel ('02) im Wiederspiel von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen. was mich umgibt, das bin ich auch. Wolken oder Krähen, die aus der Gegend um Saratow kommen, vom Ufer der mittleren Wolga, so ein Schatten ist der Mensch ('83). ein Kinderspiel. Ich, der Rabe und der Mond ('82), das ist sie als kleines Mädchen, das mit dem großen Nachtvogel spricht. „Krakra-krakra-kra“, sagt er und ohne dass sie seine Sprache übersetzt, versteht sie ihn. gemeinsam klettern sie auf einen Baum, über ihnen der Mond im schwarzen Meer.
es erfordert Aufmerksamkeit in diesem Krähenschwarm etwas zu erfahren, wenn er aufsteigt und fliegt. möglicherweise ist nur ein kleiner Kniff notwendig, die Welt wie sie zu erfahren. es sind nicht nur ihre Kinderbücher, in denen die Aufforderung steht: Weiterzeichnen!
die Poesie, mit der aus einem Wort ein neues Wort entsteht, mit der aus einem Satz ein neuer Satz entsteht, mit der aus Literatur neue Literatur entsteht. heute kam mit der Post Mayröckers neues Buch cahier ('14). das Auf-der-Stelle-Stehen im kleinsten Labyrinth, zugleich alle Orte der Poesie. Quelle und Mündung zugleich. täglich wächst das Labyrinth in der Zentagasse. nicht mehr hinaus finden oder aber handeln. Daniel oder Juliane anrufen. oder das Suchen als Handeln begreifen. Mitte Dezember. ich lese die letzte Seite:
„erinnerst du dich, damals in Donaueschingen
lieszen wir uns die jg.Donau (wie Schwärme
plätschernder Elfen) über die Handgelenke rinnen“ (F.M.)
geschrieben vom 16. Oktober bis 15. Dezember 2014
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