Essay

Vereint in Sound und Sache

Hamburg

„Der Ort, die Straße, das Haus, das Zimmer, neulich sagte ich mir, du nimmst jetzt alles, deine Heimat, die ganze Wetterau, deine Familie, deine Geschichte zwischen Grabsteinen und Steinbrüchen, setzt dich ins Zimmer deines Onkels und machst daraus dein letztes Werk, ein Werk, das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist und dieses Werk wirst du Ortsumgehung nennen.“ Seit fünf Jahren befindet sich der Schriftsteller Andreas Maier mittlerweile auf Ortsumgehung. Vor kurzem ist das vierte Buch seines auf elf Bände angelegten Heimatwerks erschienen. Es heißt Der Ort und geht da weiter, wo Die Straße aufhörte. Fünf Jahre, vier Bücher. Dabei ist der Ort, den Maier umgeht gar nicht so groß. Die Wetterau, das sind einige Quadratkilometer nördlich von Frankfurt. Die Wetterau, das sind ein paar Straßen, ein paar Kneipen, ein paar Felder und Bäume. Will man meinen. Für Maier aber ist die Wetterau die Welt. Da ist das Elternhaus in Friedberg, voll von erzählenswerten Erinnerungen. Da ist das Zimmer des geburtsbehinderten Onkels, dessen strengen Geruch Maier auch Jahre nach dessen Tod noch wahrnimmt, wenn er inzwischen darin arbeitet. Da ist die Bindernagel’sche Buchhandlung und die Bindernagel-Tochter, die der junge Maier einst liebte. Da ist das Forsthaus, die Schule und das Kiosk, an dem sich die Wetterauer ihre Heftchen kaufen. Da sind all die unscheinbaren Orte in dieser unscheinbaren Wetterau, „die für die meisten Menschen nach einer Autobahnraststätte benannt ist, A5, Raststätte Wetterau“.

Seit fünf Jahren umgeht Maier diese Orte und erzählt ihre Geschichten – und dabei seine. Er macht das unaufgeregt, aus der Perspektive des Heimischen. Auch in seinem neuen Roman, in dem Maier vor allem sein Wetterauer Aufwachsen rekapituliert. Wunderbar darin beispielsweise seine Beschreibung einer und gleichsam aller Teen- und Twen-Parties, die man so feiert: „Man betrat eine solche Party immer auf eine bestimmte Art. Im Grunde zeigte sich schon beim Eintritt, welche Rolle jemand im Verlauf des Abends spielen würde. […] Natürlich war die Abfolge der Gespräche während unserer Feste auch dadurch bedingt, in welcher Reihenfolge man an wen geriet, also aufgrund der Verteilung der Personen im Raum. Aber auch hier korrigierten wir im Sinne der Choreographie, so daß wir mit den wichtigen Menschen erst nur ganz kurz sprachen. Anschließend ließ man sich wie in geheimer Absprache stehen, um erst später zueinander zurückzukehren und den Rest des Abends gemeinsam zu verbringen.“ Maier wird den Abend mit Katja verbringen. Der abgeklärten Partytypologie folgt ein seitenlanges unerwartet sentimentales Erinnern.

Doch egal wie wichtig oder unwichtig, Maier begegnet den Menschen und auch den Orten immer auf Augenhöhe. Seine Ortsumgehung ist keine Dorfsatire. Hier gibt es keinen Blasmusikpop. Dafür aber den Rudi Weber, die Frau Rauch, die alten Klassenkameraden, Apfelwein und den Filterkaffee der Kittelschürzen-Großmutter. Alle sind an ihrem Platz. Alle werden ernst genommen. Man kennt sich. Man kennt ja auch den Maier. Und wenn der sein Geld mit dem Schreiben verdient, ist er halt ein „musischer Mensch“. Er ist ja immer noch einer von ihnen. Auch wenn er aus ihnen Literatur macht. Maier ist keiner, der sich in einer Metropole den Kleinstadtfrust von der Seele geschrieben hat und damit zum erfolgreichen Schriftsteller wurde, der den Heimatort anschließend aber kaum mehr betreten kann, ohne beschimpft zu werden. Er ist zwar als Schriftsteller einigermaßen erfolgreich, doch hat er seine Heimat selten für längere Zeit verlassen. Immer mal wieder sieht man ihn auf Logbuch mit Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger in Frankfurt beim Apfelwein sitzen. Suhrkamp, sein Verlag, ist inzwischen nach Berlin gezogen. Maier ist da geblieben. Zwar liest er hier und dort und auch in der Villa Massimo war er mal eine Zeitlang, doch „selbst Rom und alle anderen Städte, in denen ich gelebt habe, sind heute Bestandteil der Welt, die die Wetterau ist.“

Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz über den russischen Schriftsteller Nikolai Lesskow einmal den daheimgebliebenen vom weit gereisten Erzähler unterschieden, den „seßhaften Ackerbauern“ vom „handeltreibenden Seemann“. Beide, so Benjamin, haben ihre Geschichten zu erzählen – nicht nur der Herumgekommene. Und auch wenn Benjamin damals das Aussterben des Erzählers befürchtete: Es gibt ihn noch. Andreas Maier ist so ein Erzähler, ein Daheimgebliebener, einer, der die Heimat zur Welt macht und in ihr seine Kreise zieht.

Und auch der amerikanische Singer-Songwriter Mark Kozelek macht sich seine Heimat zur Welt. Seine Kreise zieht auch er unablässig. Auch Kozelek ist ein Erzähler und ein Ortsumgeher – nur mit anderem Radius. Er ist ein Herumgekommener. Der außerhalb der USA beinahe unbekannte Sänger wurde 1967, im gleichen Jahr wie Maier, geboren – in Massillon, einer Kleinstadt in Ohio. Vor kurzem hat er gemeinsam mit seiner Band Sun Kil Moon ein neues Album veröffentlicht. Universal Themes heißt es und erschien einen Monat nach Maiers Der Ort. „I’m a songwriter ‘til the day I die gonna write songs that make people laugh and cry“, singt Kozelek darauf, und das wird er ernst meinen. Denn tatsächlich veröffentlicht auch Kozelek seit mehreren Jahren unbeirrt seine Alben. Universal Themes ist die vierte Sun-Kil-Moon-Platte der letzten fünf Jahre. Die letzte, Benji, war die erste wirklich erfolgreiche. Der Rolling Stone führte sie unter den besten Platten des letzten Jahres, und die Kritiker überschlugen sich in ihrem Lob. In Europa aber kennt Kozelek noch immer keiner. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern, denn seine Musik ist weit davon entfernt, den Geschmack der Massen zu treffen. „Some people love what I do and some get fuckin’ pissy but I don’t give a fuck“, singt Kozelek auf Universal Themes. Allein der Song, aus dem diese Zeile stammt, dauert zehn Minuten. Er heißt This Is My First Day And Im Indian And I Work At A Gas Station. Kozelek, das ist viel Text und wenig Beat – das ist vor allem Melancholie statt Melodie. Noch vor wenigen Jahren wurde seine Musik oft als Sadcore oder Slowcore bezeichnet. Meistens hört man nur ihn und ein paar Gitarrenakkorde. Dann erzählt er von Ohio, von der Mutter, der Schwester, dem Elternhaus, den Freunden seines Vaters, den Weizenfeldern seines Heimatortes, seinem letzten Konzert und davon, was im Fernsehen läuft. Manche nennen das langweilig und dröge. Für andere ist es große Poesie. Ähnliches wird übrigens über Maiers Wetterau-Werk gesagt.

Auch Kozelek ist ein Ortsumgeher. Und doch ist er kein Daheimgebliebener wie Maier. Kozelek ist ein „handeltreibender Seemann“ – mit Heimweh. Er ist im Grunde ein ständig Heimkehrender. Seine Welt, das ist eigentlich der Garten, das Elternhaus, Ohio und die Straßen des Tenderloin Districts San Franciscos, in dem er inzwischen lebt. Doch braucht er die Reisen, um sich das zu bestätigen. Während Maier im Zimmer seines Onkels sitzt und über die Straße, den Ort, die Wetterau schreibt, begegnen wir Kozelek meistens auf der Rückkehr. Dann sitzt er im Flugzeug nach Hause, wie in Garden of Lavender oder Little Rascals, und kann es kaum erwarten anzukommen. Natürlich erlebt er viel. Er ist auf Tournee in Europa, beim Filmdreh in der Schweiz und für Konzerte in New Orleans oder Kanada. Er begegnet vielen wichtigen Leuten, schläft in vielen Sternehotels und sieht regelmäßig die wildesten Dinge. Und doch sehnt er sich dabei stets nach der Heimat, dem Vertrauten, dem Kleinen und Unscheinbaren – egal ob Mensch, Haustier oder Ort. Auch Kozelek begegnet den Dingen auf Augenhöhe. Wenn er verreist, denkt er an seinen Lavendelgarten. Wenn er in einer Sterne-Suite in Malmö sitzt, an seine Cousine in Ohio. Wenn er durch Kalifornien tourt, an einen schwerkranken Schulfreund und die frisch geschiedene, jetzt alleinerziehende Schwester in Massillon.

Melancholie statt Melodie: Manchmal bricht Kozelek seine Songs mitten in der Strophe ab und setzt sie in einem anderen Rhythmus fort. Manchmal verfolgt er ein Reimschema, dann wieder nicht. Manchmal brüllt er nur, dann flüstert er wieder. – Trotzdem erreichen die Songs immer ihren Höhepunkt. In Garden of Lavender setzt irgendwann nach sechseinhalb Minuten ein Banjo ein, und Kozelek beginnt von seinem Garten zu träumen – irgendwo in irgendeinem Hotel dieser Welt, in dem seine Welt auf einmal so nah ist: Gänsehaut.

With A Sort Of Grace I Walked To The Bathroom To Cry hingegen beginnt wie ein klassischer Rocksong: Gitarrenintro, Schlagzeug und Kozeleks Knurren. Doch nach sieben Minuten der Cut, im Hintergrund nur noch ein paar leise Gitarrenakkorde, ein verhaltenes Trommelgewische: der Song wird zur Ballade. Kozelek erzählt immer noch von seiner Schulfreundin Theresa aus Ohio. Doch weicher, fast zärtlich. Wieder erinnert er sich an die Heimat, die Kindheit: „And as I walk around the block you live on / It smells so much like our childhood / It smells so much like our old neighborhoods / I remember when I first heard Led Zeppelin’s Tea For One layin’ by my bedroom window / Soakin’ up the warm afternoon sun rays / And in those minutes I was totally content / And I’ll take that memory to my grave as one of my happiest moments.“ Theresa ist krank, verreisen kann sie nicht mehr. Also kommt Kozelek zu ihr. Dann fahren sie über die alten Ohio-Straßen, die Weizenfelder entlang und erinnern sich an ihre Kindheit in der Provinz, an das Glück.

Immer ist Kozelek ein Heimkehrender und Umkreisender. Ob in Flugzeugen oder in Gedanken. Die Geschichten, die er erzählt, handeln nicht von der weiten Welt, vom „handeltreibenden Seemann“ auf See. Die Geschichten handeln von Zuhause. Von den Straßen, den Häusern, den Orten und Menschen, an die er denken muss, wenn er mal wieder irgendwo Backstage sitzt. Benji zum Beispiel, die hochgelobte Sun-Kil-Moon-Platte des letzten Jahres, ist eine Versammlung von kurzen Porträts der Menschen, die ihm nah sind. Die Tracks heißen I love My Dad, Truck Driver, Bens My Friend oder I Cant Live Without My Mothers Love. Sie handeln von den Eltern, den Kindheitsfreunden, von der Klassenkameradin mit Handicap, einem Kumpel seines Vaters, der inzwischen im Knast sitzt, weil er seine Frau erschossen hat, oder der Cousine, die in ihrem Haus verbrannt ist. Sie handeln von Leuten, die es so auch in der Wetterau geben könnte und mit Sicherheit gibt. Text und Ton der Platte sind oft düster, mehr als melancholisch – und doch schafft es Kozelek zuletzt immer Hoffnung zu schöpfen und versöhnlich zu wirken. Auch weil er über die Menschen nicht urteilt. Mike Powell vom Rolling Stone schrieb über Benji: „Kozelek's digressions aren't dismissals of tragedy; they're reminders that life is too rich to be defined by it.“ Und das stimmt. Trotz oder wegen aller Tragik: Gerade im Kleinen entdeckt Kozelek immer das Große, im Unscheinbaren das Lebenswerte, die Glücksmomente. Dafür muss er nicht rocken – er muss nur erzählen. Von der Bäckerei, den Bienen im Garten, dem Weizen, den Freunden.

Der letzte Track auf Benji heißt Bens My Friend (gemeint ist Ben Gibbard, der Leadsänger von Death Cab For Cutie). Er hat einen unerwartet beschwingten Lounge-Jazz-Sound, zum ersten Mal hört man ein Saxofon im Hintergrund – die letzte Zeile des Tracks lautet: „Passed back to the studio doin’ 12 hour shifts singin’ a song about one thing or an … another … another day behind the microphone this summer this tenderloin summer.“ Und so muss man sich das vorstellen: Kozelek auf dem Weg nach Hause in sein Tenderloin, Kozelek auf dem Weg zurück ins Studio, den nächsten Song auf den Saiten, die Gedanken kreisend, „my head in a bunch of places“, und vor allem doch: Zuhause.

 

 

 

 

„Der Ort, die Straße, das Haus, das Zimmer, neulich sagte ich mir, du nimmst jetzt alles, deine Heimat, die ganze Wetterau, deine Familie, deine Geschichte zwischen Grabsteinen und Steinbrüchen, setzt dich ins Zimmer deines Onkels und machst daraus dein letztes Werk, ein Werk, das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist und dieses Werk wirst du Ortsumgehung nennen.“ Die Heimat, die Familie, die Freunde, die eigene Geschichte zwischen Friedhof, Ohio, Tenderloin und Bühne, auch Kozelek nimmt all das und erzählt darüber, solange er kann. „‚Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen‘, sagt der Volksmund und denkt sich den Erzähler als einen, der von weither kommt“, schreibt Benjamin. Kozelek ist so ein Erzähler. Einer, der von weither kommt. Doch – und das macht ihn so einzigartig – nicht, um von dort zu berichten, sondern um von Daheim erzählen zu können. Seine Kreise sind weiter als die Maier’schen, ihr Mittelpunkt aber ist der gleiche. Vielleicht auch deswegen sind sich die beiden in Sound und Sache so unwahrscheinlich ähnlich.

Ob sich das bald ändern wird? Andreas Maier ist vor kurzem nach Hamburg gezogen. Das hat er beim letzten Logbuch-Apfelwein erzählt. Künftig wird wohl auch aus ihm ein ständig Reisender werden. Dann wird er im Flieger sitzen oder im Zug und sich nach der Wetterau sehnen. Wie das wohl klingt? – Das nächste Buch kommt bestimmt.

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