Absicht und Form
Vor gut einem Jahr bekam ich innerhalb einer Woche zwei Anfragen nach Texten zum Thema ‚Essen‘. Auch ein nachkochbares Rezept sollte jeweils beigegeben werden - und wenigstens dabei will man sich nicht blamieren! Der erste Text gelang immerhin einigermaßen rasch, dann wartete ich auf kulinarische Erleuchtungen. Nachfragen der Herausgeber beantwortete ich beschwichtigend, derartig verlockende Gerichte stellte ich in Aussicht, dass ich bald nicht mehr zurück konnte – und hatte noch immer keinen Geschichtenplot gefunden, der ein brauchbares Rezept enthielt. Im Gegenteil: je länger es ging, umso mehr Kontraproduktives fiel mir ein. Bald war es so weit: dachte ich an Essen, sah ich nur noch schwellende, wabbelnde Bäuche! Und eine Abmagerungsgeschichte sollte ich bestimmt nicht abliefern…
Völlig unerwartet kam mir eine Gedichtidee zu Hilfe. Das war besonders seltsam, weil ich noch nie auf einen Auftrag hin ein Gedicht geschrieben und es auch in diesem Fall nicht in Erwägung gezogen hatte. Gedichte folgten bei mir, dachte ich, anderen, inneren Notwendigkeiten.
Doch die Welt erwies sich als bunter als gedacht. Meine Gedichtidee war zugleich naheliegend (zumindest in meiner „ich sehe nur Bäuche“-Verfassung) und abstrakt. Ich gab nach, was die Bäuche anging. Wenn sie mir unbedingt vor Augen schwebten: sollten sie ins Gedicht. Ein Bauchgedicht, ein Bauchpreisgedicht. Der abstrakte Teil betraf die Form des Gebildes: alkäische Ode, in der Silbenzahl streng, bei den Metren manchmal absichtlich „verwackelt“, jede Strophe ein wabbelndes Bäuchlein für sich. Und noch etwas anderes, „Odisches“, passte: das Oszillieren dieser Form zwischen Wachstum und Schrumpfung, zwischen Kontrolle und Chaos.
Ich schrieb und begann, noch einmal über Absichten beim Dichten nachzudenken. Normalerweise habe ich sie nicht oder hoffe, sie nicht zu haben (schon gar nicht „gute Absichten“ – 1. sinnlos, 2. geht daneben, 3. schaden dem Gedicht, weil es von vornherein beschnitten wird). Ich habe Vorstellungen, eine, wenn auch diffuse “Idee“- etwas Verknotetes, bunt gemischt aus Wortstücken, Wortzusammenhangsstücken, Gefühlen, Aufrauhungen, Bildern, Erinnerungen etc. Es wird begleitet von einer Absicht. Sie grundiert das Gedicht am Ende vielleicht sogar, entsteht aber, so unsinnig das aufs erste auch klingen mag, erst mit ihm.
Seltsame Absicht. Reduziert auf: „ich möchte ein Gedicht schreiben (bin schon dabei), ich habe einen Beginn: ein Bild, eine Wortfolge, einen Rhythmus (und dies alles nicht geordnet oder in Alternativen, sondern ineinander), und ich habe im günstigen, einfacheren Fall eine Form.
Traditionelle Formen können allerdings tückisch sein. Eine Art Dichter-Glatteis! Manchmal sehen sie wie eine Lösung aus, lassen sich aber nicht mit Leben füllen. Es hilft ja nicht der leere Vorsatz, „schreib‘ ein Sonett“, „eine Villanelle“, „ein Pantum“, was wiederum nicht heißt, dass man dies niemals schreiben könne oder gar „dürfe“: In der angloamerikanischen Lyrik geht man vergleichsweise selbstverständlich mit diesen Gedichtkörpern um - wenn es sein muss. Auf dieses „muss“ kommt es an.
Und darauf, was ‚Form‘ ist. Begreift man sie formal, verfehlt man sie. Form ist eine Idee, verkörpert in eine Struktur. Ein Gestalt gewordener Gedanke.
Passt der Gedanke (die Interpretation des Gedankens) zu einer Gedichtvorstellung, lässt die Form sich zur Absicht des Gedichtes machen. Das ist von großem Vorteil: die Absicht kann als Form den Entstehungsprozess begleiten, ja sogar vorantreiben – und nicht erst nachträglich eingreifen (in Korrekturen, beim Selbstinterpretieren). Sie wird eine Art Leitplanke: zeigt die Richtung an, die Streckenlänge, orientiert das Auge. Und das Schönste: inhaltlich ist sie nichts – das Paradox einer absichtslosen oder blinden Absicht, die erlaubt, sich dem Weg zu überlassen, stärker auf anderes zu achten.
Form also wäre nicht jener selbst formalisierte und entleerte Schulbegriff, der Form als Abzählen von Hebungen und Senkungen, Silben und Strophen missversteht, sondern eine Art und Weise, die Sprachgedanken anderer Menschen aufzugreifen – sich einzuklinken und selbst zu gebrauchen. Poetische Formen, verstanden als erprobte Erscheinungsweisen poetischer Absichten, „orientieren“ die Worte. Sie geben ihnen zu ihren vielfältigen anderen Werten eine Position hinzu, drehen ihre Kräfte und verbinden sie auf subkutane Weise. Form, verstanden als Absicht, ist eine Art Licht (ein Scheinwerfer, wenn man es technischer mag), den man dem ungebundenen Wort zuschaltet.
Beim Malen als Kind ging es mir regelmäßig so: nie erschien auf dem Papier das Bild, das ich im Kopf hatte, stets erschien auf dem Papier ein Bild des Bildes mit etwas anderem hinzu, das manchmal gut tat, und manchmal alles zerstörte. Ich verstand den Vorgang nicht, begriff aber, dass die gesamte Materie (meine Hand, mein Körperzustand, die Farben, Pinsel, das Papier, der wievielte Versuch es war) ein Wörtchen mitredeten. Heute bin ich froh, wenn es beim Ansehen des Gedichtes nach dem Schreiben auch so ist. Die Absicht wurde aufgelöst. Oder: die Absicht der Form und die Gedichtvorstellung stritten miteinander. Exakt dies ist das Geschenk der Form: sie treibt voran und zwingt zu Gedanken, die zumindest ich ohne sie nicht einmal geträumt hätte. Sie ist eine leere Sprache, die den Kopf wie ein Helm noch einmal umschließt, für die Sprache im Kopf. Wobei „Kopf“ nicht nur das Gehirn, sondern das ganze fühlende Wesen meint, das schreibt.
Ist das Gedicht (so gut wie) fertig, trennen Form und Absicht sich wieder. Die Form steht auf dem Papier, in aller Absicht, und kann auf verschiedene Weisen gelesen werden. Die andere, eher inhaltliche „Absicht“ (Vorstellung) hingegen ist idealerweise verschwunden - überholt von ihrem eigenen Gedicht.
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