Essay

Tiersprachen

Die anziehende, herausfordernde Wortlosigkeit der Tiere
Hamburg

Tiere in Gedichten sind ein leidiges und herrliches Thema. Ich denke nicht an Rilkes Panther! Sondern an Gedichte, in denen Tiere selbst sehen, fühlen, sprechen. Nie werde ich vergessen, wie sehr mich Ted Hughes‘ Crow, ein Zyklus von fast 90 Gedichten, innerlich sprachlos ließ vor Aufregung, Staunen und Freude. Die Gedichte fassen das Leben Crows; sie erleuchten, was es heißt, ein Wesen vom Schlag „Krähe“ zu sein.

Oder als ich das Kuhgedicht von Les Murray in Rotterdam hörte. Es nahm mich mit / riss mich hin, wie der australische Dichter das Wortperspektivzoom zunächst in dem schlichten Wort „me“ handhabte, um zum Ende Blick, Kuh und Leben nach oben, geradezu physisch fühlbar über das Dach des Theaters hinaus zu ziehen. Noch nie hatte ich das Wort „sky“ so körperlich begriffen, nie Wolken ohne jede Metapher so verwandelt gesehen.
 

Tiersprache 1

The Cows on Killing Day
(Les Murray: New Collected Poems, 2002)

All me are standing on feed. The sky is shining
All me have just been milked. Teats all tingling still
from that dry toothless sucking by the chilly mouths
that gasp loudly in in in, and never breathe out.

All me standing on feed, move the feed inside me.
One me smells of needing the bull, that heavy urgent me,
the back-climber, who leaves me humped, straining, but light
and peaceful again, with crystalline moving inside me.

Standing on wet rock, being milked, assuages the calf-sorrow in me.
Now the me who needs mounts on me, hopping, to signal the bull.

The tractor comes trotting in its grumble; the heifer human
bounces on top of it, and cud comes with the tractor,
big rolls of tight dry feed: lucerne, clovers, buttercup, grass,
that’s been bitten but never swallowed, yet is cud.
She walks up over the tractor and down it comes, roll on roll
and all me following, eating it, and dropping the good pats.

The heifer human smells of needing the bull human
and is angry. All me look nervously at her
as she chases the dog me dream of horning dead: our enemy
of the light loose tongue. Me’d jam him in his squeals.

Me, facing every way, spreading out over feed.

One me is still in the yard, the place skinned of feed.
Me, old and sore-boned, little milk in that me now,
licks at the wood. The oldest bull human is coming.

Me in the peed yard. A stick goes out from the human
and cracks, like the whip. Me shivers and falls down
with the terrible, the blood of me, coming out behind an ear.
Me, that other me, down and dreaming in the bare yard.

All me come running. It’s like the Hot Part of the sky
that’s hard to look at, this that now happens behind wood
in the raw yard. A shining leaf, like off the bitter gum tree
is with the human. It works in the neck of me
and the terrible floods out, swamped and frothy. All me make the Roar,
some leaping stiff-kneed, trying to horn that worst horror.
The wolf-at-the-calves is the bull human. Horn the bull human!

But the dog and the heifer human drive away all me.

Looking back, the glistening leaf is still moving.
All of dry old me is crumpled, like the hills of feed,
and a slick me like a huge calf is coming out of me.

The carrion-stinking dog, who is calf of human and wolf,
is chasing and eating little blood things the humans scatter,
and all me run away, over smells, toward the sky.

Manchmal gelingt es einem Gedicht, die menschliche Perspektive aufzugeben, obwohl es sich menschlicher Sprache bedient, Gedichtregeln folgt, Erzählregeln, der (menschlichen) Zeit. Es wechselt in ein anderes Lebewesen, überspringt unsere Zweifel, unseren Nichtglauben, indem es an das Menschliche rührt, das wir im Tier ahnen oder befürchten. Gedichte dieser Art sind Fiktionen mit einem kleinen Dreh  – mithilfe des falschen Gebrauchs von „me“, Wahrnehmungssprüngen, fehlendem Vokabular und der Wiedergabe innersten Kuh-Körpergefühls imitieren sie die Wahrnehmung der Kuh so, wie wir uns Kuhwahrnehmung vorstellen. Bald können wir uns, als Leser an Identifikation gewöhnt, ja, darauf ausgerichtet, gegen das vom Gedicht suggerierte Ich-Kuhsein nicht mehr wehren. Dem Übergang über die eine Grenze lässt sich ein zweiter, noch unwahrscheinlicherer anschließen. Auch er gelingt: In Gestalt der Kuh treten wir durch den Tod über das Leben hinaus.

Das Gleiten der Sprache im Gedicht. Wir hören das innere Sprechen einer Krähe, einer Kuh, eines Baums. Romantisch? Nein. Neurologisch-empathisch? Vermutlich. Im Kern aber: Teil unserer eigenen, inneren Verfasstheit in Sprache.  

Wir können uns unser Innenleben nicht anders als sprach-förmlich vorstellen, selbst wenn wir uns vorstellen, dass dem nicht so ist (auch diese Vorstellung vollzieht sich in sprachlicher Form). Zu diesem Ergebnis kommen, wenn auch auf sehr unterschiedlichen Wegen, Jacques Lacan und Ludwig Wittgenstein. Die Struktur unseres Fühlens, Wahrnehmens und Wissens über uns selbst ist, durchaus variantenreich in der Taktung, zumindest in der menschlichen Welt jenseits der Infantilität sprachlicher Art. Das Erlernen von Sprache war kein unschuldiger Akt – nun sitzt sie im Körper. Auch er, indes, sitzt in ihr. Dazu später mehr. Auf dieses Umschlagen, die Sprünge um diese Grenze oder Naht, kommt es mir bei Gedichten an. Immer wieder höre oder sehe ich sie darauf zielen, auch und gerade im Tiergedicht.    

Leichter als Prosa und um vieles leichter als der Film vermag Poesie beides zu sein: irreal und konkret. Tiergedichte geben fremde, immer „nur“ erfundene Sprachkörperlichkeit wieder, verbunden mit realer Menschenkörperlichkeit (Sprechrhythmus, Nervenrhythmus); sie verrücken Sprache zugunsten eines eigentlich unzugänglichen, vorgestellten Erlebens.

 

Tiersprachen „in echt“

Gedichte über Tiere sind Legion, doch auch Tiergedichte im emphatischen Sinn gibt es nicht selten. Die erste Antwort auf die Frage, warum das so sein mag, liegt nahe: das Tier taugt uns als Spiegel so gut. Gedichte spiegeln unser Denken über Ich und Du, Wir und die Bewegungen, Relationen und Nachbarschaften des Menschen zu Dingen und Wesen. Aber das gilt auch für andere Literatur.

Die zweite Antwort trifft genauer. Anziehende, herausfordernde Wortlosigkeit der Tiere. Gedichte unternehmen wenigstens zu einem Teil den Versuch, etwas in Sprache zu übersetzen, was nicht spricht, dessen Sprache wir nicht wahrnehmen – weil wir sie nicht verstehen, weil wir nicht gewohnt sind, sie zu hören, weil wir uns abgewöhnt haben, auf sie zu achten. Stimmen der Vergangenheit, tabuisierte oder unterdrückte Stimmen, Stimmen am Rand. Spannend auch alle unwillkürlichen Ver-Laut-Barungen (Offenbarungen) wie Röcheln, Stöhnen, Schreien. Sie sitzen zwischen Lautgabe und Sprache, sind, wie beispielsweise „au“ oder „ouch“ einer spezifischen Sprache zuordenbar – die unwillkürliche Äußerung erfolgt also sehr wohl in einem codierten Rahmen –, oder treten aus dieser Sprachlichkeit etwa im Aufschrei so weit heraus, wie Kehlkopf und die sprachspezifisch geformte Muskulatur des Mundes es zulassen.

Tiere bringen ein weites lautliches Repertoire ins Spiel: bellen, grunzen, miauen, fauchen, imitieren, singen, gackern, blöken, meckern. Verbunden mit schauen, verstehen. Neben diesen Lautgaben verfügen sie über äußerst spezifische Körpersprachen – eigene und solche, die sie, wie beispielsweise Hunde, durchaus dem Menschen anzupassen wissen.

    Affen, unsere nächsten Verwandten, beherrschen eine einfache, basale Menschengeste nicht: Wenn man für sie auf etwas zeigt, werden sie auf den Finger schauen. Hunde hingegen sind, bei entsprechendem Training, dazu in der Lage, der Zeigegeste zu folgen. Die Sache ist grundsätzlich, schon Kleinkinder entdecken das Spiel „Gezeigtbekommen und Selbstzeigen“ mit Begeisterung. Jüngst wurde sogar die These aufgestellt, das große Augenweiß, das uns von allen anderen Säugetieren unterscheidet, habe sich eben dieses Zeigens wegen entwickelt. So essentiell sei es für den Menschen, mit anderen Menschen zu kommunizieren: das Auge gibt die Richtung an, der Finger hilft - und man teilt sogar, was in der Ferne liegt.

Tierwelt bedeutet, dass wir vielfachen Sprachen und Sprachkompetenzen, Lauten und Anpassungen sowie Formen stummer, aber sehr realer Kommunikation gegenüberstehen. Sie alle sind Nachbarbereiche des Gedichts.

Les Murray übersetzt Menschensprache durch kleine Manipulationen in Kuhsprache. Jeder weiß, dass Kühe nicht so sprechen, jeder glaubt es für die Lektüre des Gedichtes doch, weil er, paradox gerade im Gedicht, die Sprachlichkeit der Kuh in den Versen sowohl fühlt als auch übersieht. Das Paradox gelingt auch deswegen, weil wir von Kindesbeinen an durch Literatur darin eingeübt sind, dass Tiere Menschensprache sprechen, untereinander und mit uns. Im Vergleich zur Sprache der Fabeln und Märchen, der Fantasygeschichten  und Tierwundererzählungen strengt Les Murrays Kuhgedicht Normalsprache und –wahrnehmung an: er dehnt sie, treibt sie über sich selbst hinaus. Doch, meine ich, könnte das weiter gehen.

Müsste das innere Sprechen eines Tiers nicht viel – tierlicher klingen?

Genauer: wie weit lässt die (Menschen)Sprachgrenze sich in diese Tierlichkeit schieben? Inwiefern sich etwas erfassen von der Daseinsanwesenheit oder Lebensform etwa einer Fledermaus und ihres „täglichen“ (dieses Wort ist schon falsch) nächtlichen Fluges durch Gärten (ebenfalls falsch) voller Futter und Sex (Sex?), eines Fluges, fast blind (falsch: sie „sieht“ durch die Taktung ihrer Neuronen, die in Mikrosekundenfenstern zwischen Eigen- und Fremdgeräusch unterscheiden – und wie „fühlt sich“ das an?).

Tiersprache 2, Lebensform

Wittgenstein widmet sich in den Philosophischen Untersuchungen dem Verhältnis zwischen Innerem und Äußerem, von Gefühl und Ausdruck. Wenn wir sehen, wie sich jemand in Schmerzen windet, wissen wir, was „los ist“, ja, „verstehen“, auch wenn wir selbst den Schmerz, den dieser Mensch erlebt, nicht kennen. Natürlich kann uns ein sehr geschickter Schauspieler überzeugend etwas vorspielen – doch dies ist die Ausnahme, sie ruht auf der gelingenden Verständigung in der Grundsituation auf. Ich sehe und weiß, was geschieht. Äußeres Verhalten ist, so Wittgenstein, Teil des inneren Gefühls – und umgekehrt. Als Menschen gestehen wie einander Empfindungen zu, wie wir sie selbst kennen, wenn ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird, das bei uns mit solchen Empfindungen verbunden ist. Dabei „wissen“ wir nicht, was der andere wirklich empfindet, ob sein Schmerz anders ist als der unsere wäre – doch ist das für unser Verstehen und unsere Kommunikation in der Situation (Hilfe leisten) bedeutungslos.

Bei Tieren jedoch stoßen wir, so Wittgenstein, an eine anspruchsvollere Art von Grenze - die von uns unterschiedene Lebensform. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat diesen Gedanken Ende der 70er Jahre in seinem berühmt gewordenen Aufsatz What is it Like to Be a Bat aufgegriffen. Er geht davon aus, dass jedes Wesen mit Körper und Bewusstsein auch über eine bestimmte Weise der Selbstwahrnehmung verfügt. Es besitzt ein eigenes In-der-Welt-Sein, bestimmt (begrenzt und eröffnet) auch von seinen Sinneswahrnehmungen und deren spezifischen Kanälen. Fledermäuse leben in einer anderen Welt, mit anderen Bewusstseinsweisen als wir. Selbst wenn der Löwe Menschensprache spräche, so Wittgenstein, verstünden wir ihn nicht, weil seine Art und Weise, unsere Sprache zu benutzen, eine völlig andere als die unsere wäre. Eine für uns nicht nachvollziehbare Weise. Wir könnten der Art, wie der Löwe Regeln folgt, nicht folgen – und Sprache implodierte. 

    Da wäre er also: ihr harter Rand. Eine prinzipielle Grenze zwischen Perspektiv-Shifting und Unverständigung, Fremdheit und Empathie. Ich empfinde diesen beweglichen, schwammigen, metamorphotischen fizzy fringe als Kern-„Gegenstand“ poetischer Spracharbeit. Aufregend, nervenaufreibend, uneinholbar. Hat man ihn einmal entdeckt, vervielfältigt er sich und kehrt aus dem Tierkörper in den Menschenkörper zurück: wie sind im Tier Homo sapiens Laute mit Körperreaktionen verknüpft? Wo verläuft die Trennlinie zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Stimmgebung, Intonation? Und wo reicht selbst noch dort, wo das ausgebildete Vokabular einer Sprache betroffen ist, der Körper über diese Sprache hinaus – wie etwa bei Geschmacks- und Geruchseindrücken, deren körperlicher Wahrnehmungsvielfalt, die sich auch in der Erinnerung abrufen lässt, unsere Sprache in fünf dürren Grundadjektiven erbärmlich hinterherhinkt (das Kirscharoma von Weinen, rauchig tamarindig mit einer Note Eichenholz, fruchtig in der Zungenspitze etc.,schmecke ich nie).

Gedichte sind auf betonte, exklusive, haarsträubend fanatische Weise Sprachgebilde. Vielleicht eignen sie sich deswegen dazu, an diese A-Reale der zwischen Willkür, Reflex und Muskelspannung schwankenden Lautlichkeit, der schiefen Vernähung von Sensorik, Erinnerung und Sprache zu rühren. Falls es gelingt, einen Bedeutungspfeil so aus ihren Sprachfügungen und deren Elastizität herauszuschießen und im Herausschießen abzulenken, dass er auf etwas zeigt, was der Sprache selbst nur über den Abprall an ihrer Grenze zugänglich ist. Die dritte dieser Grenzen: das „stumme“ Tier.

Schön paradox. Schön schön.
 

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