Lesarten

Luft einer verschepperten Nacht

Autor: Frank Milautzcki

Während 1846 Dostojewksi gerade seinen „Doppelgänger“ veröffentlicht und die Identitätssuche des Menschen in den Mittelpunkt stellt, bedichten ihn Turgenjew und Nekrassow öffentlich als Pustel auf der russischen Literatur. „Das Phantastische hat in unserer Zeit seinen Platz in den Irrenanstalten, nicht in der Literatur, es sollte unter die Obhut von Ärzten gestellt werden, nicht unter die von Dichtern.“ befindet der Lautsprecher Belinski, der wenige Monate zuvor mit einer positiven Besprechung von Dostojewskis Erstling „Arme Leute“ allerdings auch den Startschuß zu dessen Karriere gegeben hatte. Kritik allenortens nach soviel Lorbeeren zum Start. Und das nur, weil das Ich bei Dostojewski plötzlich zweifelhaft wird, der stramme russische Mann wegkippen kann in Selbstzweifel und psychotische Reaktionen (Nietzsche hingegen hat einmal erklärt, Dostojewski sei der einzige Psychologe gewesen, von dem er habe etwas lernen können). Mann verträgt das nicht.

Dostojewski zieht sich zunächst zurück, sein ehemaliger Studienkollege Beketow in Sankt Petersburg führt ihn in andere Kreise ein, dort trifft sich eine Handvoll Literaten - Pleschtschejew, Grigorjew, Majkow  und andere – alle schreiben sie gerade Lyrik und Pleschtschejews „Vorwärts ohne Angst und Zweifel“ (von den revolutionären Ereignissen in Frankreich geprägt) gerät sogar zur Hymne. Man zieht zusammen auf die Wassili-Insel, an die Kreuzung Großer Prospekt und Repin-Straße und glaubt an das Gute im Menschen. Eine „Assoziation“ nennen sie es, eine Gemeinschaft „humanistischer Kosmopoliten“. "Viel verdanke ich hierin, meinem guten Freund Beketow und anderen, mit denen ich jetzt lebe. Das sind tätige, gescheite Menschen mit vorzüglichem Herzen und von vornehmem und festem Charakter. Sie haben mich durch ihre Gesellschaft ganz gesund gemacht. Endlich schlug ich ihnen vor, gemeinsam zu wohnen. Wir fanden eine große Wohnung und alle Ausgaben, in Hinsicht auf alles Wirtschaftliche, machen nicht mehr als 1200 Rubel für die Person im Jahre aus. So groß sind die Wohltaten der Assoziation. Ich habe mein eigenes Zimmer und arbeite ganze Tage hindurch!"

Ein „Mann von Herz und Gemüt“ (Dostojewski), der in einem der Zimmer nebenan wohnte, war  der gleichaltrige Majkow, der hatte gerade angestrengtes Dichten hinter sich: er war 1843 aus einer längeren Reise durch Italien zurückgekommen mit Gedichten im Gepäck - „Römische Skizzen“. Derselbe Belinski, der eben Dostojewksi gelobt und zugleich wieder vernichtet hatte,  äußerte sich über Majkows Gedichte, „sie stehen den anthologischen Gedichten Puschkins nicht nur nicht nach, sondern übertreffen sie beinahe«. Und weiter - mit einem Seitenhieb auf Dostojewski: „Talent allein reicht heute nicht mehr aus zum Erfolg in der Dichtung: man muss auch mit dem Zeitgeist mitgehen.“ - Was Literaturkritiker alles so schreiben. Es sind oft Hansel, die im Text der anderen ihre eigene Gretel suchen.

Majkow war eher ein „Prophet der Form", der Mann im Frack, und kaum im Freigeist (der schickte sich an Zeitgeist zu sein) verwurzelt,  einer, der „nach seinem eigenen Zeugnis, keine gute Prosa schreiben konnte“. Was die Lyrik betraf, da hielt er sich für formal zuständig und stritt kräftig mit. Als formstreng etablierte er sich und auch in den Themen klassisch. Er besaß „viele Eigenschaften eines echten Dichters, aber ihm mangelte geistige Einheit.“ befand 1899 Otto von Leixner und plapperte nach, was schon Zeitgenossen meinten: Majkow fehle die geistige Tiefe. Vielleicht deshalb wird er von den Nationalisten beansprucht und von den Linken gelobt. Unverbindlichkeit hat keinen hohen Preis.

Er besinge „das Reich der ewigen Jugend, der ewigen Schönheit“, dazu die „himmlische Harmonie“ und das „Überirdische“. Nun – damit war er nicht gerade allein in den russischen Dichterkreisen. Singen konnte man damals. Singsang war üblich. Das Kulturphänomen des Singsangs ist eng verwandt mit dem Kleben und Leben von Etiketten und der Überschätzung des Selbst. Und der Gesang auf die Frau ist eine Art Handkuß, den der nach außen hin seltsam frauenlos und enthaltsam wirkende junge Dostojewski schon damals durchschaut: „Männer, die einer Frau die Hand küssen, betrachten sie als Sklavin und wollen sie dafür entschädigen, indem sie sie als Königin behandeln.“

Hier in Sankt Petersburg lebt Majkow die Mystifikationen um die freie Assoziation wie ein Gentleman, die Parade der Genüsse, die vor dem Ich und seinen Behauptungen herumstolziert, observiert er aus der Distanz - das Politische an Fourier ist nichts für ihn – er arrangiert sich eine Stabilität, die im Persönlichen und dort in der Höflichkeitsform bleibt, und so wird Majkow zum Freund Dostojewskis, am Ende für viele Jahrzehnte, aber nicht zum politischen Weggefährten. Der selbstherrliche, trockene Majkow hat das Wohlgeordnete, das Dostojewski fehlt.

Dostojewski ist enthusiastisch – organisiert sich, wird Teil enthusiastischer Treffen im Dunkel von Sankt Petersburg und muß genau dafür durch eine besondere Hölle. Die revolutionäre Geheimorganisation, der er angehört und die einen utopischen Sozialismus à la Fourier, dem heimlichen Vater des Anarchismus, propagiert, fliegt auf. Der Kritiker Belinski (dem Dostojewski am Mund klebt) hatte ihn dort eingeführt. Ein eingeschleuster Polizeispitzel verrät die Treffen, Dostojewski wird verhaftet und zum Tod verurteilt. Erst auf dem Richtplatz wird er begnadigt und die Strafe in Verbannung nach Sibirien umgewandelt.

Majkow entgeht dem Ganzen natürlich. Er bleibt dem Leben Dostojewskis dennoch deutlich erhalten, nicht wegen seiner Gedichte, sondern als Anlegestelle im Getümmel und Parkplatz von früher.

Majkow schrieb das Lied einer Maid aus der Sicht der Frau, wie sich ein Mann diese Sicht denkt und vorstellt. Er verzierte das und hängte Rüschen dran und Lavendel. Als ich das Gedicht gefunden hatte, in einem alten Buch von 1907, herausgegeben von Hans Bethge unter dem Titel „Die Lyrik des Auslandes in neuerer Zeit“, vergaß ich mir zu notieren, wo es stand, schrieb mir nur die Verse ab und eines Tages während einer Nachtschicht um. Ich genoss es damals, durch die Produktionshalle zu schlendern und etwas völlig Anderes im Kopf spazieren zu tragen, als die Polymersäcke auf meinem Arm. In einem alten Oktavheft stand die  Original-Übertragung links und rechts skizzierte ich eine neue Fassung und ging Majkow auf den Leim: ich brachte das Gedicht in eine leichter lesbare Version und merkte nicht, wie auch ich dabei vergaß, Frau zu sein. Ich erfand Brüste, wo keine waren und zielte auf Wollust, von der ich mir vorstellte, daß sie das Gemeinsame wäre in einem Garten voll blühender Apfelbäume nachts. Es ist also ein Gedicht, wie sich ein Mann hofft, daß eine Frau denkt. Und es ist irgendwie kein Majkow (oder Maikoff – wie er bei Bethge heißt) Gedicht mehr, sondern eine Umdichtung (wie die leichtfüßigen Umdichtungen von Klabund, wenn er ohne Chinesisch zu können „Chinesisches“ schrieb), die kaum Respekt hat vor dem Original. Es ist ein Spiel, mehr nicht. Etwas Leichtes, schnell und daher. Unverbindliche Luft einer ziemlich verschepperten Nacht.


Originalbeitrag

zum Autorenbuch

Gedicht: Lied einer Maid

Autor: Apollon Nikolajewitsch Majkow

Ach gerne würde ich dich küssen,
doch, fürchte ich, der Mond wird’s sehn
und mit ihm werden’s alle hellen Sterne
und wird dann einer aus dem Himmel fallen,
wird’s der dem blauen Meer erzählen,
und das blaue Meer sagts zu den Rudern
und diese flötens dann dem Fischer Jani –
und der Jani liebt so sehr die Mara,
und wenn die Mara ’s wissen kann,
dann weiß es bald die ganze Runde:
wie ich dich nachts bei Mondschein in
die Gärten ließ‘, umringt von Düften,
wie ich dich küßte, und vom Küssen wüßte,
wie der Apfelbaum uns beide
dicht mit Silberblüten grüßte,
dich und mich und jede meiner Brüste.
 


Nachdichtung von Frank Milautzcki 13.11.08