Lesarten

Der Kuss am Schluß – ein Herbstgedicht von Sergej Jessenin

Autor: Frank Milautzcki

Mir hat es die letzte Strophe angetan. Sie spielt mit Positionen und Bezügen und dem, was man landläufig von Poesie immer erwartet: mit der veränderten Sicht auf Dinge. Dass der Herbst ein Küsser ist, der selbst vor dem Bewirker der Welt nicht Halt macht und ihm rote Wunden in den Lauf der Dinge zwingt mit einem bloßen, sanften Lippenbekenntnis (oder auch: mit leidenschaftlichen windigen Bissen?). Der Herbst – eine Macht, die unbeeinflusst ist vom unsichtbaren Lenker. Das ist so typisch eine poetische Erhöhung, eine Pathetisierung der sonst handelsüblichen Verhältnisse, wie sie nicht bildhafter ausgemalt sein kann in der Lyrik der großen Worte und großen Gedanken, zu der man sich jahrzehntelang berufen fühlte lange vor und lange nach der Jahrhundertwende 1900. Der Herbst ist der King im Ring, wenn er zuschlägt, wankt selbst der Gesalbte. Nicht ganz so: eine Umarmung geht voran, er ist der Bestimmer im Bett, es ist sein Bett, er küsst und verwundet durch seinen Kuss. Der Herbst, als alte Potenz noch aus Urzeiten, macht, dass das Blühen und Wachsen, Werden und Gedeihen umgelenkt wird in Reife und Frucht. Der Beleber, der alles erzeugt hat, leidet unter der Umarmung des Herbstes, dem Mantel des Mönches und kriegt rote Pickel mit fruchtbarem Eiter.

Mindestens zwei Mächte begegnen sich hier – die Natur und ihr unaufhaltsamer Lauf und der unsichtbare Christ, der in Jessenins Sichtweise der Lebensspender ist. Erst war die Natur, das große felshafte  Wirken, das nicht veränderbar ist (und das fängt nicht erst bei den Jahreszeiten an), dann kam der Christ und hat alles belebt und zur Reife gebracht unter der marternden Geißel der Natur (die hier immerhin Küsse verteilt). Jessenins Christ ist weder ein Christ im lexikalischen Sinne noch der Christus selbst, er ist der Lebensgeist, der griechische Chréstos, der Beseeler des sonst toten Dings.

Die Natur kann machen und lassen was sie will, sie kann uns beißen, treten, küssen, wir werden dank Christus unter der Wunde der Berührung (!) nur stärker, fruchtbarer, allmächtiger. Wir, dass sind die Christgläubigen, die einen Menschensohn als Gottessohn anbeten (keine Libelle und keine Giraffe). Drunter oder drüber ging es nicht – ein Mensch musste es sein, der ans Kreuz genagelt wird, der blutet unter der Welt. Aber er steht auf, man kommt ihm selbst mit dem Tod nicht bei, weil es das „Mehr als ihn selbst“ gibt, eine göttliche Quelle, und so transformiert das gotthafte Wesen auch in Jessenins Gedicht die Umarmung und den Kuss zur roten Frucht des Lebens. Das Göttliche erst macht die Natur lebendig. Gott ist mit den Lebenden.

Und was ist mit dem Stein? Und mit dem Atom in dem Stein. Was ist mit dem Mond, der hilft, dass es Herbst gibt, Sommer und Winter. Was ist mit der Sonne, die hilft, dass die Wunden im Frühjahr grüne Blätter sind und blühende Zweige. Et cetera. Immerhin sind bei Jessenin die natürlichen Umstände wirkmächtig genug, das Göttliche in Notwendigkeiten zu zwingen. So spricht die Welt mit dem Leben, es soll sich Mühe und Raffinesse in seinen Loslösungen geben.  Natur ist nicht Kreatur, sagt Jessenin. Natur macht, dass Kreaturen sind, wie sie sind. Dass aber Kreaturen sind, das kommt von Gott.

Jessenin kitzelt die romantische Vorstellung das Geschöpf und also aka der Mensch sei etwas von Gott Erschaffenes und die Restnatur, die vorkreatürliche, unbelebte Natur nur eine Bühne.

Jessenin liebt die Bühne. So bewegt er sich selbst durch die Welt: „Augenzeugen schildern die Erscheinung des Zwanzigjährigen als die eines Helden aus einer Märchenoper, bald in rosaseidener, bald in hellblauer Bluse, in Samthosen und Saffianstiefeln, mit aufgedrehten Locken und gerougeten Apfelwangen, ein Kornblumensträußchen aus Papier in der Hand. Seine Ausstrahlung muß unwiderstehlich gewesen sein. Mehrfach wird das Epitheton frühlingshaft gebraucht. Immer und jederzeit wußte er, welche Register zu ziehen waren, um sich jemanden gewogen zu machen.“ schrieb Karla Schneider in ihrer Jessenin-Rezension 1995 in der FAZ. Er weiß von den Mitteln und Regeln der Bühne, die nur seinem Wachstum zu dienen hat. Sein engster Freund Anatoli Marienhof sagt: "Jessenin hat niemanden geliebt, und alle liebten Jessenin.“

Wie und warum kam dieses Herbstgedicht zu uns?

Ich fand es beim Trödler, in einem schmalen Bändchen „Russische Gedichte – Eine Auswahl älterer Lyrik“, Übertragungen von Wanda Berg-Papendick, das 1946 im Verlag Böhlau (wohl als eine Art Willkommensgeschenk an die russische Besatzung) in Weimar erschien. Ein ganz schlichtes Paperback ohne Vor- oder Nachwort, das eigentlich eine Wiederveröffentlichung ist einer noch älteren Publikation aus den Jahren des Dritten Reichs, nämlich des Heftes 4 der Feldgrauen Reihe (die nicht lange existierte, man gab sechs Hefte heraus), 1939 ebenfalls in Weimar bei Böhlau veröffentlicht, Jessenin neben Turgenev, Deutschen Gedichten für die Kriegszeit und Lyrik von Hölderlin. Die Lektorin für russische Literatur an der Universität Bonn in Godesberg Wanda Berg-Papendick (1890-1970) stand seinerzeit in Verhandlungen mit dem Verlag über ihre bis 1943 dann dreimal aufgelegte „Einführung in die russische Sprache“ und hatte immer schon russische Lyrik nebenher übersetzt. Vom WS 1935/36 ab ergänzte sie von Zeit zu Zeit ihre Russisch-Kurse durch Übungen über russische Literatur, vornehmlich über die Lyrik Alexander  Bloks, von ihr selbst übersetzt. Sie hatte also etliche Manuskripte bislang unveröffentlichter russischer Gedichte in ihrer Schublade, als sie mit Böhlau in Verhandlungen trat und dort die 1937 neu als Lektorin eingestellte Leiva Petersen kennenlernte, welche ihrerseits gerade Gedichte von Hölderlin für die Feldgraue Reihe zusammenstellte. Irgendwie so traf es sich, bei einem Gespräch über Poesie oder einem Austausch über schlafende Projekte – jedenfalls fanden die selbst übersetzten Zettel aus Bonn sich zu einem 50-seitigen Heft zusammen und alle darin präsentierten Dichter rutschten 1939 unter den zensurgierigen Naziblicken hindurch: Batjuschkov, Puschkin, Baron Delwig, Lermontov, Tjutschev, Foeth-Schenschin, Balmont, Blok, Koljzov, Jessenin. 1939 – das Jahr des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes.

„Wie … ist unter den gegebenen Umständen die Edition Russische Lyrik in Übersetzungen von Wanda Berg-Papendick unter Einschluss von acht Jessenin-Texten als Heft 4 einer Feldgrauen Reihe 1939 in Weimar zu erklären?“ fragt Leonhard Kossuth im Vorwort der 1995 erschienen „Gesammelten Werke“ und schielt nach einer Beantwortung durch eben jenen Pakt. 

Eine realistischere Antwort  läßt sich aber auch aus den Umständen und den beteiligten Personen herausrecherchieren und ist gewiß auch aus der Berg-Papendick’schen Dichter- und Gedichtauswahl herleitbar. Noch dazu war Jessenin bei den Machthabern in der Sowjetunion nicht hoch angesehen (wohl aber im Volk), ein Russe, den die Russen mögen und die Mächtigen dafür totschweigen. „Nur häppchenweise und in großen Abständen durften seine Gedichte erscheinen, doch zirkulierten stets Kopien seiner Manuskripte, zumal unter der Jugend.“ berichtet Karla Schneider. Insbesondere während der Stalin-Ära waren große Teile seines Werkes verboten. Jessenins leiblicher Sohn Juri wurde 1937 während der Stalinschen Säuberungen erschossen und der Schriftenbann erst nach Stalins Tod 1953 aufgehoben.

Jessenin war also aus mancherlei oberflächlichen Gründen im Deutschen Reich „publizierbar“. Schon 1935 erschien ein Essay zum 10. Todestag des Dichters in der Zeitschrift Osteuropa: „Sergej Jessenin, der letzte Sänger des russischen Dorfes“ von --- Dr. Wanda Berg- Papendick. Kossuth erwähnt in seinem Vorwort Gedicht-Veröffentlichungen von 1933 (durchgeschlüpft in der „Kölnischen Zeitung“ –der Nachdichter, ein frisch gebackener Germanist aus München, Rolf Grashey , wird 1937 ins KZ Buchenwald verschleppt  und ermordet – nicht wegen seinen Gedichten und Nachdichtungen, da gibt es versteckte Hinweise auf ganz andere Neigungen) und 1934 (in einer Anthologie  der Greifswälderin Dorothea Hiller von Gaertringen: „Russische Dichter“, die neben Blok und Jessenin auch die unbekannte Petersburger Lyrikerin Myrrha Lochwizkajafeatured – HvG fand bei ihrer Zusammenstellung Unterstützung im Slawinisten Max Vasmer, selbst ein Petersburger, der 1923 nach Deutschland gekommen war und sich standhaft einer Politisierung „seiner Wissenschaften“ am von ihm aufgebauten Slawischen Institut verweigerte).

Jahrzehntelang hatte es ohnehin kaum Vorweisbares gegeben. Ebensolche Tröpfchen.

1927 erschienen posthum Gedichte aus dem „Tryptichon“ in der Anthologie Europäische Lyrik der Gegenwart 1900-1925 (in voller Länge bereits 1920 im Berliner Skythen-Verlag, allerdings auf russisch – damals war es der Thomas Mann-Übersetzer Jewgeni Germanowitsch Lundberg, der, nach dem Weltkrieg nach Deutschland emigriert, Literatur der russischen Literatengruppe Skythen verbreiten wollte, neben Jessenin, auch Blok und Brjusov, Ivanov-Razumnik und Kusikov – zumeist ohne große Wirkung), 1929 „Die Pferde“ übersetzt vonSigismund von Radecki  - immer wieder fand sich was, aber letztlich kein echtes Buch. Einzig die erwähnte russischsprachige Ausgabe aus Berlin. Was seinerzeit Sinn machte, da russische Intellektuelle das Berlin jener Zeit ausgiebig belebten. Theodor Segal schildert: "Man geht im Westen spazieren und es flimmert vor den Augen vor lauter Aushängen und Reklamen: Buchhandlung Rodina, Restaurant Medwed, Cafe Moskwa. Und an den Kiosken die Zeitungen Dni, Nakanune, Rul … Eine friedliche Eroberung! Die Deutschen haben sich daran gewöhnt. Und zum Jux sogar Charlottenburg in Charlottengrad umgetauft." Beziehungen und Vitamin B mag es gegeben haben, in Deutsch Gedrucktes fehlt. Jessenin selbst hat einige Vorstöße unternommen mit eigenen Werken präsent zu sein, die alle nicht fruchteten.

Umso erstaunlicher also, so Kossuth, die plötzliche Präsenz von Jessenin-Texten im Dritten Reich.

Der Gesang übers russische Dorf traf sich hier vielleicht auch an der Oberfläche mit den Posaunen der deutschen Scholle, was die Verherrlichung des Bauerntums und eine antikommunistische Haltung anbelangte. Ein im stalinistischen Russland verbotener Jessenin,  der sich, so  erzählt es Karla Schneider, in dem Band Anderland selbstals Verheißer stilisierte, „als Prophet, der das postrevolutionäre, neue Russland als ein Bauernwalhall mit zu Gottsymbolen erhobenen Dorftieren malte“, konnte  mit einigen seiner Gedichte wohl auch im nationalsozialistischen Deutschland durchschlüpfen, und nichts anderes hat Berg-Papendick übersetzt. Gedichte, die selbst direkt nach dem Krieg wieder erscheinen konnten , diesmal in der SBZ: Gedichte übern Herbst, die Kuh, den Faulbaum und die geliebten Äcker.

Über die Übersetzerin Dr. Wanda Berg-Papendick weiß die Literaturwissenschaft nicht viel. Sie ist, wie Jessenin, in St. Petersburg geboren und hat 21 Jahre lang am Ufer der Neva gelebt. Sie besuchte eine der deutschen Kirchenschulen dort und ist 1925 – im Todesjahr Jessenins, als er erhängt im Angleterre in Leningrad gefunden wird – ins Deutsche Reich emigriert. Natürlich hat sie das schillernde literarische Petrograd der zehner und zwanziger Jahre erlebt, vielleicht nur vom Rande her, aber nicht ohne Faszination und Prägung. Mag sein, dass sie Blok oder Jessenin sogar begegnet ist und seinerzeit auch eigene Gedichte geschrieben hat.

Sie nimmt das mit und es ist ihr Schatz. Von 1935 bis 1951 ist sie Lektorin für Russisch an der Bonner Universität. Lückenlos durch verschiedene Zeit. Wie ihre Lektoren-Kollegin Leiva Petersen übrigens auch (die direkt nach dem Krieg in der nachfolgenden SBZ den Böhlau Verlag weiterführt mit teils identischen Projekten oder Büchern) – beide Zeuginnen innerer Emigration.  Mit Jessenin und Blok übersetzt Berg-Papendick zwei ihrer Petrograder, das ist ihre Poesie, ihr literarischer Atem. Das bisschen was geht, versucht man zu tun, und glaubt sich am Ende das glückliche Überleben.

Nach einer weiteren Anthologie (1947 sind es russische Liebesgedichte) meldet sich Berg-Papendick erst spät in Sachen Literatur wieder zu Wort – 1967 mit ausgewählten Dichtungen des dunklen Bilddenkers Blok, wobei die Kritik ihr Verständnis der Rhythmen und der Bilder lobt. Gerade das Dunkle sei ihr verständlich, sagt sie, während „diejenigen, die im Banne der materialistischen Weltanschauung stehen und den Geist negieren“, nicht „um den geistigen Ursprung alles Irdischen wissen“.

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Nevsky Prospect Petrograd 1917 Quelle: Wikipedia

Jessenin  hat sein Gedicht  Herbst R.V. Ivanov-Razumnik gewidmet, der zur Entstehungszeit des Texts (zwischen 1914 und 1916) in Petrograd unterwegs ist mit Blok und Brjusov als Symbolist skythischer Träume. Skify nennt sich die Gruppe und galoppiert voran – Dichter, die von der Revolution erhoffen, das russische Bauerntum werde errettet und die Skythen reiteten wieder in ihren Hirtenpelzen aus gegerbter Kopfhaut.  Dagegen war Jessenins Freund Nikolai Klujev fest davon überzeugt, dass die Zeit des echten Christentums gekommen sei: „Christus wird sich von den Schlehennadeln erholen, und das Volk wird erleichtert aufatmen können“ – denn er wird aus Russland wiederkehren, dem neuen Russland und die Welt wird „erzittern unter den Sternenschritten des Feuer-Zars“. Christus war rund um Jessenin und für ihn selbst ein Thema, Jesus schien über Jahrhunderte vom europäischen Klerus missbildet hin zum Anti-Christ, unkenntlich gemacht, vergewaltigt: „Ich will eine Erlösung durch seine Qualen und das Kreuz nicht annehmen. Ich bin zu einer anderen Lehre gelangt. … Selbst den Bart Gottes werde ich ausrupfen. An seinem weißen Haar werde ich ihn ziehen und sagen, ich gestalte dich um, Gott!“ Schon von Kindesbeinen an schaukelt Jessenin zwischen bösen Lästereien und inbrünstigem Glauben durch die Lüfte, die es nicht gibt. Und doch entdeckt er alles in diesen Lüften, schließlich sind es Wind und Herbst, die in Zwiesprache stehen mit Christus. Es ist ein umgestalteter Gott, einer der auf die Welt reagiert, reagieren muss, wie der Bauer auf Frost und Gewitter, so ist Gott gezwungen Naturgeschehen zu assimilieren. Es gibt keine Erlösung und damit auch keine Loslösung. Man kann sich nicht wegducken. Es kommt auf den Tisch, was auf den Tisch kommt. Es ist der Tisch, an dem auch der Tischler aus Nazareth sitzt, ein Tisch für alle, den Mutter Natur gedeckt hat.

Ich kann den russischen Urtext nicht lesen. Ich dachte zunächst den „Christ“ gäbe es hauptsächlich um des Reimes willen, weil der Wind küsst – oder umgekehrt. Aber man versicherte mir, es steht beides im Urtext. Es gibt eine Übersetzung von Celan (besten Dank an Ute Eisinger für das Zuspiel), dort heißt es „Wind, er weht zur Staude mit den Vogelbeeren / Christus, deine roten küsst er, deine Schwären.“  Das ursprüngliche poetische Meinen scheint hier von sprachlichen Assen überstochen. Aus Wunden sind Abszesse geworden, aus einem Baum eine Staude und dass der Wind (mit Bissen?) küsst, was lebt und Leben will, liest man nur sehr zerbrochen. Reim ich mir hier selbst zusammen.

Originaltext hat Michael Gratz ausgegraben
Beitrag 20: Lyrikzeitung

zum Autorenbuch

Gedicht: Herbst

Autor: Sergej Jessenin (1895 - 1925)

Im Wacholderdickicht an der Schlucht ist Stille.

Herbst, der Rotfuchs, kratzt sich an der Mähne.

 

Übern Fluß hinweg und steiles Ufer

Klingt der blaue Aufschlag seiner Hufe.

 

Und der Wind, der strenge Mönch, tritt leise

Auf das welke Laub am Weggeleise.

 

An der Eberesche reifem Zweig er küßt

Wunden, blutigrot, dem unsichtbaren Christ.

 

 

Übertragung von Wanda Berg-Papendick (1939)