Lesarten

Temporäres Archiv | Gedicht des Tages | 22.02.2013

Autor: Christoph Wenzel + Adrian Kasnitz

Westfalen sei „nicht mehr als ein Verwaltungsbezirk“, hieß es 1956 im Zusammenhang des heftig geführten Schmallenberger Dichterstreits, in dem die ältere Generation westfälischer Heimatschriftsteller auf junge Autoren traf, die sich vielmehr der literarischen Moderne verbunden fühlten. Westfalen, sonst nichts? lautet der Titel der Anthologie, in der wir Gedichte von über 30 jungen Lyriker/innen versammelt haben, die wie wir Herausgeber einen (durchaus sehr unterschiedlichen, aber deutlichen) biographischen Bezug zu diesem Teil-Bundesland haben. Entstanden ist dabei ein Sammelband, dessen Titel bereits deutlich machen will, dass es hier keineswegs um die Behauptung einer geographisch gebundenen Poesie geht. Das landschaftlich so heterogene Westfalen war für uns vielmehr die Klammer, der Ausgangspunkt für eine Zusammenschau von Gedichten, die weit hinausreicht über die Grenzen dieser Region, und von Autor/innen, die längst die Regionalliga der Poesie verlassen haben und nun die aktuelle deutschsprachige Lyrik mitprägen.

Gedicht: (*1983)

Autor: Dana Buchzik

Im Berliner Bagdad schießt Großvater

mit schief gelegter Zunge scharf

ins Jetzt, renkt seine Kehle aus und

uns entgegen, nie betrunken genug,

um an den Westen zu glauben. Löffeltreiben

durch Milchnebel, von uns geheim gehaltene

Bundesländer flecken kaffeefarben auf der Batistdecke aus,

zwischen Großvaters Zähnen knirschen Zuckerreste,

am Kinn richtet sich eine Kinnwarzenbeule Hoffnung

auf die Materialsammlung Marx.

Großvaters schellackgefärbtes Haar, Brillenbügel, wie

angewachsen am hinteren Ende des Ohrs, wenden

jedes Widerwort ab, und dennoch: sein Blick bis

zuletzt wie durchschossen.


(aus: Westfalen, sonst nichts? Eine Anthologie. Hrsg. von Adrian Kasnitz und Christoph Wenzel. parasitenpresse + [SIC] – Literaturverlag, 2013. Gefördert durch die Nyland-Stiftung und die GWK - Gesellschaft zur Förderung der westfälischen Kulturarbeit.)

Foto: Dana Buchzik © Schall und Schnabel