Lesarten

Winterhin verliert sich das

Autor: Andreas Hutt

Beim Lesen des Gedichtes sieht man eine Wiese, das explizit benannte Gartenzelt, Menschen in festlicher Kleidung, die feiern – wahrscheinlich eine Hochzeitsgesellschaft –, und mittendrin ein lyrisches Ich, das seine eigenen und die Gefühle der anderen Gäste benennt, indem es zum generalisierenden man greift. Aber das lyrische Ich versichert sich nicht nur seiner selbst, der eigenen Emotionalität, es versichert sich auch der Grenzen dieses Sich-Selbst-Bewusstmachens. „Man spürt sich gegen den Abend“ ist ein Bild der emotionalen Hermetik. Der Abend wird zu einer Fläche, an der man sich reibt, wodurch das Selbst-Bewusstsein erst deutlich zu Tage tritt. Diese Hermetik wird im nächsten Vers wieder aufgegriffen durch die Erwähnung des Zeltes. Zunächst ist nur von einem Zelt die Rede, der Leser denkt an blickdichte Stoffbahnen, an Ausschluss von der Welt, dann konkretisiert das lyrische Ich, dass es sich um eine Gartenzelt handelt, wodurch die Hermetik im Vorausgriff auf das Ende des Gedichtes kurzzeitig aufgehoben wird. Der Blick auf die Umwelt wird frei: auf den Garten, auf den Horizont, bevor er sich wieder ins Innere des Zeltes zurückzieht und bei der Sommergesellschaft verweilt.

In den folgenden Versen werden die Menschen mit Blumen gleichgesetzt, die verstreut wurden (auf dem Tisch/ beim Hochzeitsmarsch?). Die Zeile „im Winter silbrige Blättchen“ bezieht sich scheinbar nur auf die Blumen, doch beim zweiten Lesen erschließt sich, dass die Gleichsetzung aus Zeile vier fortgesetzt wird. Nicht nur die Blumen werden „im Winter silbrige Blättchen sein“, sondern auch das lyrische Ich und alle anderen Menschen, die mit dem Personalpronomen „wir“ bezeichnet werden. Die räumliche Grenzüberschreitung, die durch das Bild des Gartenzeltes vermittelt wurde, findet ihr Pendant in einer zeitlichen Grenzüberschreitung im Verweis auf den Winter, obwohl im Gedicht dezidiert eine Sommerszenerie beschrieben wird.

In der Schlusszeile werden die räumlichen bzw. zeitlichen Grenzüberschreitungen aus den vorherigen Versen in der Aussage des lyrischen Ichs gespiegelt, dass jegliche Hermetik, auch die Unmöglichkeit, das Innere von anderen Menschen wahrzunehmen, im Winter aufgehoben sein könnte. Die Menschen aus dem Umfeld des lyrischen Ichs werden vielleicht „durchsichtig sein“, sogar füreinander, wie es in der Überschrift heißt. D.h. die Gefühle liegen eventuell offen, sind erkennbar und ermöglichen unter Umständen ein neues, tiefer angelegtes Miteinander.

Interessant ist, dass der normalerweise positiv konnotierte Sommer als die Zeit charakterisiert wird, wo man (nur) sich spürt und Gefühle in der Abgrenzung entstehen, während der Winter für Sensibilität steht, für Öffnung, möglicherweise für eine tiefe Wahrnehmung anderer Menschen.


Originalbeitrag
 

zum Autorenbuch

Gedicht: Werden wir durchsichtig sein füreinander?

Autor: Martina Hefter

Man spürt sich überall gegen den Abend.

Der Zustand ist Zelt, ein Gartenzelt, blauweiß gestreift,
darin eine Sommergesellschaft auf Stühlen, zierlich,

Menschen und Blumen, Blumen und
hingestreut

im Winter silbrige Blättchen
werden wir durchsichtig sein?