Interview

Die Uhr, die nicht tickt

Ein Gespräch

Anja Kümmel: Was hat dich dazu gebracht, „Die Uhr, die nicht tickt“ zu schreiben? Hast du in der Debatte rund um den „Gebärstreik“ bzw. in anderen Büchern zum Thema Kinderlosigkeit Leerstellen gesehen?

Sarah Diehl: Mein Bedürfnis war, eine Gegenposition darzustellen zu den gängigen Klischees von Kinderlosigkeit, eben weil mir klar war: das sind nur Stereotypen. Man hat die Frauen ja noch gar nicht befragt. Es gibt noch total wenig soziologische Studien oder dergleichen darüber, was Kinderlosigkeit eigentlich ausmacht. Für die Frauen, die keinen Kinderwunsch haben, ist es ein nicht existierendes Thema, und deshalb arbeiten sie sich auch nicht unbedingt daran ab. Wenn sie aber darauf angesprochen werden, warum sie keine Kinder haben, müssen sie Begründungen suchen. Deswegen wirkt es so, als würden die Frauen doch wieder nur aufgrund von äußeren Rahmenbedingungen keine Kinder bekommen. Das ist ein bisschen schwer zu formulieren, weil man das ja immer ex negativo darstellen muss. Mein Bedürfnis war auch, klarzumachen, dass es ein Problem der Versprachlichung gibt bei kinderlosen Frauen. Die haben einfach wenige Vorbilder und wenig Sprache, um ein positives Selbstverständnis darzustellen.

Ich muss gestehen, ich war echt ein bisschen entsetzt darüber, dass sogar Frauen wie du und ich – die also schon was von der Frauenbewegung verstehen – diese Selbstzweifel haben. Dass diese Vorstellung von „Du wirst es bereuen“ sie doch noch so packt. Es war auch eine Motivation, diesen Frauen ein Handwerkszeug zu geben, zu analysieren, wie dieser krasse Druck überhaupt aufgebaut wird, und wie dieses Naturhafte gegen die Frau und ihre Freiräume benutzt wird. 
Es geht dabei ja auch um Ökonomie. Es geht darum: Wer macht denn die ganze Fürsorgearbeit, Pflegearbeit? Das macht die Frau, weil diese Arbeit eben über das Mutterideal funktioniert. Und wenn das jetzt wegbricht, haben viele Leute glaube ich auch Angst, dass diese Arbeit eben nicht mehr  unbezahlt, unsichtbar und selbstverständlich von den Frauen gemacht wird. Und darum werden umso massiver die biologischen Uhren wieder rausgeholt. Darüber wird Frauen immer wieder klargemacht, dass sie durch ihre Gebärfähigkeit abhängiger und unfreier sind, auch emotional.
Das finde ich eine richtig perfide Strategie. Und das habe ich so in anderen Büchern über Kinderlosigkeit noch nie gelesen.

AK: Du hast für dein Buch etwa 30 Frauen verschiedenen Alters und aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen interviewt, die sich bewusst dazu entschieden haben, kinderlos zu bleiben.
Woher hattest du den Eindruck kommt der größte Rechtfertigungszwang? Bzw. andersherum gefragt: Welche Frauen in welchen Umfeldern schaffen es am ehesten, sich diesem Druck und diesem Misstrauen der eigenen Entscheidung gegenüber zu entziehen?

SD: Es war extrem unterschiedlich, woher der Druck kam. Es kam öfter von der Herkunftsfamilie, dass dort z.B. gesagt wurde: Wir hätten so gerne Nachwuchs … Dann kam es oft von Freundinnen, die Mütter geworden sind. Da war oft der Eindruck: Ihre Freundinnen sind jetzt gefangen in der Mutterolle und wollen einen da mit reinziehen. Und sind dann auch ein bisschen argwöhnisch, wenn man den eigenen Freiheiten weiter frönt. Was mir massiv auffiel, war, dass dieser Druck auch ganz viel aus dir selbst heraus kommt, weil du immer Angst hast, du verpasst was. Frauen wird das permanent eingeredet. Das muss gar nicht konkret ausgesprochen werden – diese Angst wirkt auch sehr subtil über die Selbstwahrnehmung von Frauen.

Es ist so eine generelle Erzählung in unserer Gesellschaft, dass man es bereut, wenn man keine Kinder hat, vor allem als Frau. Und wenn du dann in ein Alter kommst, wo es immer schwieriger wird, Kinder zu bekommen, arbeitet dieser Zweifel einfach in dir. Ich fand es erschreckend, wie viele ihre eigene Entscheidung, keine Kinder zu wollen, permanent anzweifeln und sich fast schon denken: Stimmt mit mir was nicht?

AK: In der Debatte um den „Gebärstreik“ werden häufig Mütter und Nicht-Mütter gegeneinander in Stellung gebracht. „Selbstgerecht wird die eigene Entscheidung verteidigt, die andere als falsch, egoistisch, vielleicht sogar pathologisch und gleich als Anzeichen für die Verkommenheit der Welt gebrandmarkt“, schreibst du in deinem Buch.
Mir scheint allerdings, dass dies nach wie vor nur in eine Richtung gilt, d.h. auf kinderlose Frauen angewendet wird. Deshalb würde ich gerne den Spieß einmal umdrehen.
Wo könnte man die „pathologischen“ Gründe fürs Kinderkriegen sehen? Oder, etwas abgeschwächt: Worin liegt der Egoismus des Kinderkriegens? 

SD: Eine Sache, die ich gelernt habe bei den ganzen Interviews und die ich wunderschön fand, war die krasse Auseinandersetzung mit der eigenen Liebesbedürftigkeit, mit der eigenen Stabilität, und wie viel das auch mit der eigenen Erziehung und der eigenen Herkunftsfamilie zu tun hat.
Es gibt Leute, die haben eine sehr unschöne Kindheit gehabt. Das kann zum einen dahin führen, dass man selber das unbedingt richtig machen möchte, man möchte diese Liebe, die man nicht bekommen hat, unbedingt selber in einem Kind spüren. Ich würde das nie pathologisch nennen, auch weil ich generell dem Begriff kritisch gegenüberstehe, aber das ist natürlich ein Bedürfnis, wo man was kompensieren möchte. Aber kompensieren tun wir ja alle was. Und es ist dann eher interessant zu sehen, wie diese Kompensation in verschiedene Richtungen geht, auch wenn die Ausgangsposition ähnlich war.  Wenn man eine unschöne Kindheit hatte, kann das auch dazu führen, dass man das auf keinen Fall wiederholen möchte. Ich habe Frauen dabei gehabt, die gesagt haben, sie möchten wirklich diese Linie der Grausamkeit kappen. Ihre Großmutter war schon scheiße zu ihrer Mutter, ihre Mutter war scheiße zu ihnen, und das Ganze aus einer lieblosen Ehe heraus. Dieser ganze Frust trägt sich immer weiter. Und sie möchten das auf keinen Fall an ein Kind weitergeben.
Andererseits – Leute, die eine schöne Kindheit hatten, wollen das eventuell einfach weiterführen. Oder sie hatten eine gute Kindheit, und das ist ein Grund, warum sie keine Familie brauchen, weil sie einfach diese Stabilität in sich selber finden; sie brauchen keinen Anker.

Und das war eine sehr interessante Erkenntnis. Dass man einfach auch respektiert. Und eben nicht pathologisiert. Wir haben alle unsere Hang-ups, und damit müssen wir irgendwie klarkommen. Es muss nicht darum gehen, ob wir das mit oder ohne Kinder machen. Eine Tendenz, die es mittlerweile gibt, wenn Leute Kinder  bekommen, ist natürlich schon: Du willst durch das Kind was darstellen. Gerade wenn Leute das so krass planen oder sehr spät machen, geht es oft um die Idee: Ich möchte auch hier erfolgreich sein. Oder: Ich möchte durch das Kind meine Einzigartigkeit darstellen. Und das überfordert natürlich alle Beteiligten. Aber wir leben nun mal in einer Welt, in der es um diese krasse Selbstdarstellung geht und diese Suche nach Individualität in der Gleichförmigkeit. Von daher finde ich es eher lahm, das Leuten vorzuwerfen. Ich finde es dann eher interessant zu schauen, warum das so ist.

AK: In diesem Zusammenhang fand ich die Aussage einer Interviewpartnerin spannend, die erzählt hat, „dass sie es manchmal als große Herausforderung empfindet, den Lebenssinn aus sich selbst heraus und dem, was man tut, zu schöpfen.“ Und als Kontrast dazu spricht sie von dem „selbstverständlichen Wissen, dass Kinder einem den Takt vorgeben“.
Da klingt durch, dass es auch eine Erleichterung sein kann, die Kontrolle ein Stück weit abzugeben, weil diese Wahlmöglichkeiten, die du tagtäglich hast, auch überfordern können, diese Freiheit auch eine große Herausforderung darstellt. Dadurch, dass du so ein krasses Abhängigkeitsverhältnis eingehst wie mit Kindern, ziehst du dich da auch ein bisschen raus. Und musst nicht immer deinen Lebenssinn neu finden und dich nicht ständig hinterfragen, denn es ist eh vorgegeben für die nächsten 15 bis 20 Jahre.

SD: Das finde ich auch total spannend. Das ist genau das, was ich meinte mit Stabilitätsbedürfnis. Also dieses: Du willst gerne von außen eine Struktur bekommen, damit du diese Unsicherheiten des Alltags nicht mehr so hast.

AK: In den aktuellen Debatten um Kinderlosigkeit wird ja häufig die Spaltung in „Kinder oder Karriere“ aufgemacht. Aus den Antworten deiner Interviewpartnerinnen lese ich aber heraus, dass dieses Argument so nicht unbedingt stimmt. 

SD: Das fand ich auch sehr interessant. Ich glaube, es geht hier wirklich um Freiräume. Und in der Lohnarbeit bzw. wenn du Karriere machen willst, hast du die ja auch nicht. Viele Frauen haben das so dargestellt, dass Mutterschaft und Lohnarbeit oder Karriere im Grunde beides Aspekte einer Leistungsgesellschaft sind. Und sie wollen sich diesen beiden Aspekten entziehen. Ich finde auch super spannend, wie krass dieses Mutterideal hochgehalten wird, und was Mütter alles leisten müssen mittlerweile, dass man Mutterschaft als Teil dieser Leistungsgesellschaft sieht. Ein Kind ist ein Statussymbol, etwas, das man auch noch leisten muss, das man optimal leisten muss, und man muss alles selbstlos dafür geben. Das ist unglaublich krass, was da von Frauen erwartet wird, und das ist bei der Wettbewerbsatmosphäre in einer Karriere ja ganz ähnlich.
Wenn du einmal die Entscheidung getroffen hast, du möchtest eigentlich gar nicht, dass solche leistungsorientierten Strukturen auf dein Leben Zugriff haben, dann ist das halt eine ähnliche Sache.

AK: Eine andere Sache, die ich sehr interessant bis erschreckend fand: In den Antwortartikeln auf Antonia Baum in der FAZ fällt auf, dass die Vorstellungen von gelingender Familienplanung noch immer sehr an die Vorstellung von Kleinfamilie gekoppelt sind. Es wird interessanterweise nicht von „Mann und Frau“ gesprochen, schließt also prinzipiell auch homosexuelle Paare ein. Trotzdem geht es um eine klassische romantische Zweierbeziehung, die von einem Kind „gekrönt“ wird und in der die Hauptsorge für dieses Kind bei den zwei Elternteilen liegt.
Woher kommt dieses unterhinterfragte Beharren auf dem Kleinfamilienmodell?
Hast du den Eindruck, dass sich Regenbogenfamilien diesem Schema der Kleinfamilie anpassen oder auch anpassen müssen?

SD: Im Grunde drehen wir uns im Kreis. Vor 200 Jahren hat sich der Staat ausgedacht: Ok, Kleinfamilie ist jetzt das Ding, wie Menschen am produktivsten sind und wie wir sie am besten kontrollieren können. Und das haben wir so internalisiert, denn so sind wir ja auch großgeworden, das haben wir als  Naturhaftigkeit, als Wahrhaftigkeit total akzeptiert, dass es super schwer ist, andere Konzepte überhaupt zu propagieren oder zu leben. Du wirst von allen Seiten angegriffen, gerade weil du dieses schutzbedürftige Wesen da hast, bei dem immer gesagt wird: Du darfst nicht experimentieren, du darfst nichts Neues ausprobieren, das ist alles schlecht fürs Kind.
Nur, dass das, was wir als „natürlich“ wahrnehmen, gut fürs Kind sein soll, kann auch niemand behaupten. Denn eine frustrierte Mutter zu Hause zu haben, die nichts anderes macht außer Kindererziehung, ist weder gut fürs Kind noch für die Mutter. Die Scheidungsrate spricht auch wirklich gegen die Kleinfamilie. Wenn Leute die Möglichkeit haben – wie in den letzten 30, 40 Jahren – da mehr rauszukommen, dann machen sie das auch. Denn es ist einfach zu viel verlangt für zwei Leute, auf so engem Raum permanent funktionieren zu müssen. Da geht es ja nicht mehr um Liebe, da geht es nur noch darum, füreinander Versorgungsstation zu sein.
Damit will ich nicht sagen, dass das niemals gutgehen kann. Aber Menschen müssen aus freien Stücken zusammenkommen, und andere Konzepte überhaupt als sichtbar und lebbar erfahren, damit sie wählen können, wie sie zusammenleben wollen. Und das Bedürfnis danach ist ja wirklich da. Deswegen ist Kinderlosigkeit auch so interessant, weil sie einen Weg dahin zeigt, wie man Sachen anders machen muss.
In Kanada wurde dieses Jahr ein Gesetz verabschiedet, dass man bis zu vier Personen als soziale Eltern für ein Kind eintragen kann. Das finde ich großartig. Aber sowas ist in Deutschland undenkbar. Deutsche Familienpolitik ist noch so extrem ideologisch. Und das ist genau das Problem, dass Menschen permanent in alte Konzepte von vor 50 Jahren reingepresst werden sollen, anstatt neue Konzepte für neue Menschen zu kreieren.

AK: Du betonst in deinem Buch, dass es für Kinderlose „unzählige andere ,produktive‘ Möglichkeiten gibt, etwas zum Wohl oder zur Stabilität einer Gesellschaft beizutragen“,  dass viele Kinderlose in sozialen oder pflegerischen Berufen tätig sind, und dass die meisten Kinderlosen eine positive Grundeinstellung zu Kindern haben.
Ist Kinderlosigkeit nur dann akzeptabel, wenn eine andere „gesellschaftliche Leistung“ nachgewiesen werden kann? Bzw. ist es immer noch komplett inakzeptabel, einfach nichts mit Kindern anfangen zu können?

SD: Ich hatte schon ein paar Frauen dabei, die ganz klar sagen: Sie interessieren sich einfach nicht für Kinder. Und das wird ja auch als total legitim dargestellt.
Aber du hast schon recht – mein Bedürfnis war es, eine Brücke zu schlagen. Und da muss man gewisse Angebote machen. Es ging mir eher darum, klarzumachen: Durch Kinderlosigkeit hört die Welt nicht auf, sich zu drehen. Und diese ganzen Werte, die man hochhalten will durch Familie – das kriegen wir auch ohne Familie hin. Leute, die keine Kinder haben, sind eben keine Leute, die keine Werte verwirklichen wollen, sondern sie tun das auf ihre Art und Weise. Sie sind genauso wertvoll und produktiv wie alle anderen auch. Viele meinten sogar, sie haben gerade ohne eigenen Nachwuchs mehr Kapazitäten sich gesellschaftspolitisch zu engagieren.
Ich finde das auch schön, wenn Leute sich engagieren. Also nicht unter einem Leistungsaspekt, sondern einfach füreinander. Solidarität hochzuhalten ist mir wirklich ein Anliegen. Und das fordere ich auch von Leuten ein.

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