Gespräch: Elisabeth Grün redet mit Fatma Aydemir
„Wir leben in einer Zeit, in der viele verschiedene Erzählungen nebeneinander stehen sollten“
Hazal lebt in Berlin unter chaotischen Verhältnissen: Ihr Vater hängt der Vergangenheit in der dörflichen Türkei nach, ihre Mutter übertüncht psychische Probleme mit Tabletten, soaps und Spielsucht, der Bruder dealt. Ihre Freundin Elma jobbt an der Bar eines Bordells, während Tante Selma, Hazals familiäre Vertraute, eine diplomatische Distanz zur Familie pflegt, in der Männer und Frauen ungleich behandelt werden: „Solange man ehrlich ist zu sich selbst, ist alles okay. Es geht nur darum, den anderen überzeugende Lügen zu erzählen.“ Hazal, die zwei Selbstmordversuche hinter sich hat, flüchtet sich in eine skype-Fernbeziehung, jobbt ohne rechte berufliche Ambitionen in der Bäckerei des Onkels, die auf den Namen ihrer Mutter läuft, während der Onkel Insolvenz angemeldet hat.
Wut, Frustration und Lebensdrang sind die vorherrschenden Gefühle in diesem coming-of-age-Roman, der die Protagonistin just an der Schwelle zum Erwachsensein, dem achtzehnten Geburtstag, krass im Leben aufschlagen lässt: Hazal bringt mit zwei Freundinnen einen Studenten in der U-Bahn zu Tode und flüchtet nach Istanbul.
Wenn man die Biografie Deiner Protagonistin Hazal passieren lässt, sind darin quasi prototypisch alle Schwierigkeiten, alles Scheitern, alle Zerrissenheit des türkisch-migrantischen Lebensmilieus versammelt. Hast Du beim Schreiben eine Art "Sog" gespürt, diese Figur so in die Enge zu führen?
Es war gar nicht der Plan, eine Figur zu schaffen, die ein so schlimmes Leben hat, in dem sich Dinge versammeln, die so sonst nicht zusammenkommen. Die Engführung war der Plot.
Diese Verdichtung ist ja ein Stilprinzip: sowohl für das der Protagonistin als auch für die Beschreibung dessen, was Hazal in Istanbul erlebt. Das Ganze wirkt sehr realistisch, zugleich übersteigert – und sehr schnell.
Ich wollte, dass es ein schnelles Buch ist, was sich schnell liest, wo schnell etwas passiert und, bevor man es erwartet, wieder zuende ist. Und ich fasse es als Kompliment auf (lacht), dass sich Menschen davon erschlagen fühlen.
Du hast selber auch türkische Wurzeln. Aber im Gegensatz zu der Protagonistin Deines Buches gelungenes Leben, Studium absolviert, Autorin für Spex und Missy Magazin, taz-Redakteurin, jetzt ein Buch, das in bedeutenden Medien rezipiert wird.1 Was war Deine Motivation für dieses Buch?
Es gab viele Motivationen, die mich gemeinsam zu der Geschichte geführt haben. Am Anfang stand das Thema Gewalt, bewusst gewählt: Das erste Bild, das ich für das Buch hatte, war die U-Bahn-Szene – und die musste ein Vorher und ein Nachher haben. Ich wollte diesen physischen Gewaltausbruch zum Anlass nehmen, über Gewalt zu sprechen. Gewalt auch in anderen Kontexten und auf anderen Ebenen: strukturelle Gewalt, die Beziehung zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft, Frau-Mann-Beziehung ... Die U-Bahn-Schlägereien waren ja vor einigen Jahren sehr aktuell, und die werden ja eher mit männlichen Gewalttätern assoziiert. Ich habe bewusst eine weibliche Protagonistin gewählt: Damit kehre ich das weit verbreitete Bild um, Gewalteskalation sei eine Sache von Männlichkeit.
Migration und Identität sind weitere Themen, die ich aber gar nicht bewusst wählen muss, die beschäftigen mich als Mensch sowieso, seit dem Kindergarten. Meine Eltern sind eingewandert aus der Türkei. Und Hazals Lebenswelt ist mir sehr nah – übrigens auch einigen Lesern und Leserinnen, die ich gesprochen habe. Andere Leser fragen: Oh Gott, so viel Drama, muss das sein?
Auch Emine Sevgi Özdamar bspw. erzählt von Fremdsein und den Schwierigkeiten des Ankommens, schon seit den 90ern. Aber mit viel Humor und in melancholisch-poetischer Sprache. Kann man heute noch von gelingendem Leben der Migranten(kinder) erzählen?
Doch, kann man; es ist eine Entscheidung, die der Autor oder die Autorin trifft. Ich habe nichts gegen Geschichten, die das gelungene Migrantendasein thematisieren oder von gut integrierten Gastarbeiterkindern erzählen.
Die Gastarbeiter der 60er Jahre aber – Özdamar arbeitete 1965 in einer Fabrik in West-Berlin – sind eine anderen Generation mit einer anderen Erfahrung. Da habe ich manchmal das Gefühl, dass dieses Gastarbeiterleben sehr nostalgisch romantisiert wurde. Ich kenne auch andere Darstellungen in Film und Literatur, die nicht so populär sind.
Mir war wichtig, eine andere Geschichte zu erzählen. Diese feelgood-Geschichten à la „Hach, kulturelle Differenz ist doch total interessant und super-exotisch“ sind nicht nur überkommen – es ist langweilig, wenn nur das da ist. Wir leben in einer Zeit, in der viele verschiedene Erzählungen nebeneinander stehen sollten. Und ich empfinde das individuelle Lob gelungener Integration als Vergleich gegenüber Menschen, die eine andere oder keine Ausbildung haben oder woanders stehen, immer als etwas abwertend.
Wenn man an weitere Bücher deutsch-türkischer Autoren denkt, bspw. "Selam Berlin" von Yadé Kara, fällt auf, dass Berlin zum Kondensationsort für die schwierige Integration und Heimatfindung stilisiert wird. Warum spielt Dein Roman nicht in Deinem Studienort Frankfurt / M., wo Jakob Arjouni – kein Türke – seinen underdog-Detektiv Kayankaya gegen allerlei Fremdenhass laufen ließ?
Um ehrlich zu sein, habe ich zwischen Berlin und Frankfurt geschwankt, weil ich Frankfurt von meinem Studium her sehr gut kenne. Ich würde nicht per se sagen, dass „Ellbogen“ nicht auch in Frankfurt hätte spielen können. Aber Berlin ist schon ein interessanter Ort, weil dieser Themenkomplex Heimat, Wurzeln, Herkunft hier etwas anders verhandelt wird: Die Stadt ist international, nicht nur wegen der Gastarbeiter-Community, sondern weil es so viele andere Leute hierher zieht; die Expats2 zum Beispiel sind eine ganz andere Nummer als die die türkischstämmigen Menschen in Neukölln oder im Wedding.
Man kann das Buch auch ohne den Bezug Deutschland/Türkei lesen: als Sinnbild für eine hochkomplexe Gegenwartsstruktur, die kaum noch Bewegungsfreiheit zulässt. Dann stellt sich die typische coming-of- age-Frage: Wie kann man diese enge Welt aushalten, und wie findet ein Mensch dort seinen Platz?
Das ist ganz wichtig. Vieles von dem, was Hazal erlebt, hat nichts damit zu tun, dass sie aus einer migrantischen Familie kommt, sondern einfach mit ihrem Alter. Sie befindet sich noch in der Pubertät bis Spätpubertät, da ist es normal, Probleme mit der Familie zu haben und sich von den Eltern entfremdet zu fühlen. Das ist ein wichtiger Prozess. Wenn der nicht stattfände – egal ob es sich um Deutsche, Türken oder andere handelt – wäre es schwierig, sich zu einem unabhängigen Individuum zu entwickeln. Mir war sehr wichtig, über dieses Alter zu sprechen: Wie existenziell werden auf einmal Probleme, die für mich mit dreißig keine Rolle mehr spielen?
Ich finde das Alter zwischen 16 und 19 sehr grundlegend dafür, wie der Rest des Lebens verläuft; dagegen halte ich die Kindheit für etwas überbewertet. Wichtiger: Wie werde ich erwachsen, welche Entscheidungen treffe ich währenddessen? Ich denke, in diesem Lebensabschnitt wird festgelegt, was richtig ist und was falsch. In dem Buch geht es ja auch um Moralvorstellungen und wie flexibel die noch sein können. Hazal ist da teilweise noch sehr offen ...
In dem Roman finden sich konkrete Bezüge zu Ereignissen in der heutigen Türkei. Hazal wird Zeugin des Anschlags am Sultan-Ahmat-Platz vom Januar 2016 und der „darbe“, des Putschversuchs vom Juli 2016. Das ist sehr aktuell.
Ich habe schon vor dreieinhalb Jahren begonnen, an dem Buch zu schreiben und war dafür in drei aufeinander folgenden Sommern in Istanbul. Im vergangenen Jahr war ich für sechs Monate dort, als gerade sehr viel passiert ist. Ich hatte eigentlich nicht vor, so viel Zeitgeschehen einzubringen. Aber wenn Hazal 2016 in der Türkei ist, müssen diese Dinge – unabhängig, wie Hazal selbst gerade „tickt“ – ihren Alltag und ihr Leben beeinflussen. In Istanbul ist keiner davon unberührt geblieben.
Der Anschlag am Sultan-Ahmat-Platz ist etwas verfremdet und beruht nicht auf einem konkreten Ereignis, der Putschversuch schon: Ich kam gerade aus einer Bibliothek, war dabei, das Buch zu beenden, und so floss es mit ein, Metapher für die Situation von Hazal: der Umsturzversuch, das Nicht-Glücken, nicht zu wissen, was passiert wäre, wenn alles anders gelaufen wäre …
Wie reagiert Dein Publikum auf diese krasse Schilderung einer durchaus nicht unsympathischen 18-jährigen Deutsch-Türkin, die sich so eingeengt fühlt, dass sie ihre Fesseln mit Gewalt sprengt?
„Ellbogen“ ist, soweit ich das bisher mitbekommen habe, auch für deutsch-türkische Leser manchmal ein bisschen too much; nach Meinung einiger lässt sich die Geschichte auch instrumentalisieren; manche denken, man solle doch gerade jetzt von gelingenden Migrantenleben erzählen. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir uns angesichts des AfD-Einzugs in die Parlamente nicht anbiedern müssen.
Lesetermine von Fatma Aydemir finden Sie hier!
Buchdetails: Ellbogen, Fatma Aydemir, 272 Seiten , Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-25441-1, 20 Euro
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http://www.spiegel.de/kultur/literatur/fatma-aydemir-roman-ellbogen-ueber-18-jaehrige-tuerkin-im-wedding-a-1131653.html,
http://www.sueddeutsche.de/kultur/deutsche-gegenwartsliteratur-diese-wut-gehoert-ihr-1.3362316,
http://www.deutschlandradiokultur.de/autorin-fatma-aydemir-ja-ich-bin-wuetend.2156.de.html?dram:article_id=377697 - 2.
Expatriate (abgekürzt Expat): Arbeitsfachkraft, für ein internationales Unternehmen für eine begrenzte Zeit im Ausland / einer ausländischen Dependence tätig
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