Interview

Rassismus in Ostdeutschland

"Sie hatten keinen Platz für Empathie"

Nach der Wende wurde das rechte Gewaltpotenzial in den neuen Bundesländern unterschätzt, sagt die Schriftstellerin Esther Dischereit. Was hat sich seither geändert?

ZEIT ONLINE: Frau Dischereit, Sie haben nach der Wende in den neuen Bundesländern Gewerkschaftsarbeit gemacht und sich im Zuge dessen viel mit Fremdenfeindlichkeit beschäftigt. Anfang der neunziger Jahre brannten dort Flüchtlingsunterkünfte. Jetzt geschieht es wieder. Hätten Sie gedacht, dass es noch mal so schlimm wird?

Esther Dischereit: Nein, eigentlich nicht. Wobei: Seit dem Auffliegen des NSU kann ja eigentlich nichts mehr überraschen. Und der hat seine Wurzeln auch in dieser Zeit. Ich kann mich noch gut daran erinnern: dieses Gefühl, dass Rassisten die Straße beherrschen. An manchen Orten ist es heute wieder, an anderen noch immer so. Das rechte Milieu im Osten hat sich außerdem frühzeitig mit Rechtsradikalen im Westen verbunden, was völlig unterschätzt wurde.

ZEIT ONLINE: Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wurden im Osten sozialisiert.

Dischereit: Nach der Wende waren viele junge Leute sich selbst überlassen. Sie wollten ihre Wut irgendwie ausdrücken und fanden Halt in gewalttätigen Gruppen. Für viele Wiederaufbauer galten die Rechten zudem als das vergleichsweise kleinere Übel im Verhältnis zu den alten SED-Eliten und späteren Ostalgikern. In dieser Gemengelage zwischen Leuten, die nicht nur wehmütig zurückblickten, sondern auch alte Seilschaften pflegten, und jenen anderen, die Selbstbestimmung anstrebten, konnten die Rechten machen, was sie wollten.

ZEIT ONLINE: Das heißt, das Thema rechte Gewalt haben viele Linke damals unterschätzt?

Dischereit: Das ist auch eine Hypothek des SED-Staats. Der Rechtsradikalismus wurde ja eher totgeschwiegen. Für viele Menschen, die sich während der DDR als Oppositionelle engagiert hatten, bedeutete die Wende vor allem Meinungsfreiheit. Einige von ihnen waren überzeugt davon, mit den Rechten müsse man reden, man dürfe nicht schon wieder alles verbieten. Ich kann diesen Reflex zwar verstehen, aber damit haben sie die Gefahr von rechts massiv unterschätzt. Insbesondere die etablierten bürgerlichen Parteien haben hier versagt, nach dem Motto "Vorwärts, jetzt ist Einheit". Das rechte Milieu hat das ausgenutzt und sich geschickt mit einer ostalgischen, teils auch demokratiefeindlichen Klientel verbunden.

ZEIT ONLINE: Viele Ostdeutsche sahen mit dem Fall der Mauer plötzlich ihr ganzes Wertesystem verschwinden. Warum aber marschieren heute Tausende auf den Straßen und skandieren Parolen gegen Flüchtlinge?

Dischereit: Damals hatten die Menschen wenig, was ihnen die "Fremden" hätten wegnehmen können. Es gab aber einen großen Frust in der Gruppe der Wendeverlierer, die es nicht geschafft hatten, sich in der neuen Gesellschaft etwas aufzubauen. Die Autoritäten von gestern waren entmachtet. Heute treibt die Leute eher eine diffuse Angst um, dass da Massen von Menschen kommen, die ihnen etwas nehmen. In Deutschland wird seit Jahren ein Einwanderungsdiskurs geführt, der von materiellem Denken beherrscht ist. Jenseits dessen existiert ein Rassismus, der sich aus völkischen Ressentiments speist.

ZEIT ONLINE: Was genau meinen Sie?

Dischereit: Wir haben heute einen "ethnisch-kulturell" begründeten Diskurs, der den Islam verunglimpft. Fremde werden systematisch fremd gemacht, insbesondere Muslime. Das war damals in Lichtenhagen oder Hoyerswerda überhaupt kein Thema. Dort herrschte blinde Gewalt, die nicht nur die Flüchtlinge selbst meinte, sondern die Bundesregierung als neue Obrigkeit, das demokratische System.

ZEIT ONLINE: Was war nach der Wende Ihre Aufgabe als Gewerkschaftsreferentin in den Neuen Bundesländern?

Dischereit: Es ging um elementare Dinge wie fachliche Qualifikation und Arbeitnehmerschutzgesetze. Es gab einen enormen politischen Bildungsbedarf. Insbesondere die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes mussten ja lernen, was unter einer demokratischen Verwaltung zu verstehen ist. Ich habe beispielsweise in Kooperation mit Amnesty International ein Seminar zum Thema "Flucht und Asyl" für Beschäftigte im brandenburgischen Innenministerium geleitet. Wir wollten deutlich machen, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen für die Menschen haben würden. Die Teilnehmenden waren neugierig auf alles, was wir besprachen. Sie hatten täglich mit Fragen zu tun, die sie vorher kaum oder gar nicht berührt hatten. Ich habe aber auch Seminare erlebt, wo die Leute offen fremdenfeindlich waren.

ZEIT ONLINE: Können Sie ein Beispiel nennen?

Dischereit: Als in Rostock-Lichtenhagen 1992 die Anschläge passierten, war ich in Brandenburg mit der Leitung eines Seminarprogramms zu Arbeitnehmerrechten beauftragt. Darin saßen ganz unterschiedliche Leute, auch ehemalige NVA-Angehörige. Ich unterbrach das Seminar mit dem Ziel, darüber zu sprechen, wer die Menschen aus Rostock aufnehmen könnte. Sie waren ja in den Unterkünften nicht mehr sicher und saßen zum Teil bereits in Bussen. Ich hatte vorgeschlagen, ihnen die Schulungsräume zur Verfügung zu stellen und das Seminar abzubrechen. Die Teilnehmer fanden das unverschämt.

ZEIT ONLINE: Mit welcher Begründung?

Dischereit: Ich sagte ihnen: "Bis vor Kurzem gab es die deutsch-deutsche Grenze, und Menschen sind aus der DDR geflohen. Wahrscheinlich kennen Sie selbst Flüchtlinge und wissen, wie sich Flucht anfühlt." Die Teilnehmer waren empört: Wie ich denn das vergleichen könne? "Wir sind schließlich Deutsche!" Das Seminar nahm seinen Betrieb wieder auf. Ich ging hinaus. Die Teilnehmer hatten offenbar keine Angst vor einer anderen Kultur oder vor finanziellen Einbußen. Sie pflegten ein Deutschtum, das zwar nicht unmittelbar militant und terroristisch war. Aber Gewalt konnten sie billigend in Kauf nehmen.

"Einer Bürgerpflicht nachzukommen, war ein Wagnis und keine Selbstverständlichkeit"

ZEIT ONLINE: Woher kam diese Stimmung? So etwas wie Deutschtümelei war den Menschen im Osten doch jahrzehntelang abtrainiert worden.

Dischereit: Naja, die deutsche Einheit hieß für viele: Wir Deutschen sind wieder wer. In den Jubel über den Mauerfall mischten sich viele nationalistische Bilder und Parolen, die heute gerne vergessen werden. Ich hatte schwarze Freundinnen, die trauten sich in den Tagen nach dem 3. Oktober nicht aus dem Haus. Nicht irgendwo in Brandenburg, sondern mitten in Berlin.

ZEIT ONLINE: Trotzdem gab es doch aber viele, die sich gegen die Rechten stellten.

Dischereit: In bestimmten Gegenden galt schon als "Linker" oder "Anderer", wer keine Bomberjacke trug. Ich habe viele Gespräche mit Menschen geführt, die gar nicht bewusst gegen Rassismus protestierten, sondern die etwas für sie Selbstverständliches taten. Sie nahmen beispielsweise Kinder aus Flüchtlingsheimen mit in den Fußballverein. Dafür standen sie dann auf der Todesliste von Rechtsextremen. Eine Zeugin eines rechtsradikal motivierten Mordes wurde dafür ausgezeichnet, dass sie bereit war, vor Gericht auszusagen. Einer Bürgerpflicht nachzukommen, war ein Wagnis und keine Selbstverständlichkeit.

ZEIT ONLINE: Wenn Sie zurückblicken, welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen rechten Gesinnungen heute und damals?

Dischereit: Auffällig ist, dass auch jetzt gegen Staat und Medien gehetzt wird, beispielsweise von Pegida. Als ich 1992 in einem Seminar das Gespräch über die Ereignisse in Lichtenhagen zu führen versuchte, hieß es: "Warum sprechen wir überhaupt darüber? Das ist doch bestimmt eine Verordnung von ganz oben." Dass es eine solche Verordnung gar nicht gab, wollten die Leute nicht glauben. Für sie war klar: Da wollte jemand ihnen etwas aufzwingen, und darauf reagierten sie nach Jahrzehnten der SED-Herrschaft über die Maßen empfindlich. Sie hatten keinen Platz für Empathie.

ZEIT ONLINE: Heute ist die SED aber lange Vergangenheit.

Dischereit: Die Skepsis ist geblieben. Auch die Haltung vieler im Osten, immer zu kurz gekommen zu sein, hat sich auch gut 25 Jahre nach der Wende nicht in Luft aufgelöst. Viele Menschen fühlen sich noch immer nicht geschätzt. Die Mutter des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt ist ein gutes Beispiel dafür. Sie hat diese Opferhaltung regelrecht kultiviert. Das ist übrigens ein typisch kleinbürgerliches Attribut, im Westen und Osten.

ZEIT ONLINE: Steht das nicht aber im Widerspruch zu dem, was Sie vorher sagten – nämlich, dass viele sich mittlerweile etwas aufgebaut haben, um das sie jetzt fürchten?

Dischereit: Nein. Diese latente, völkische Fremdenfeindlichkeit, die den Ressentiments zugrunde liegt, hat mit Wohlstand erst mal gar nichts zu tun. Mit Rassismus kämpfen wir ja schon viel länger als seit dem Mauerfall. Es gibt Narrative, die sich seit vielen Jahrzehnten vererben. Umgekehrt glaube ich, dass auch diese starke Motivation vieler Helfender und Demonstranten gegen rechte Gewalt in einer Zeit lange vor den neunziger Jahren begründet liegt. Engagement gegen Rechts ist auch Ergebnis von Bewältigungsdiskursen, die seit Jahrzehnten über den Nationalsozialismus geführt wurden. Die Shoa hat niemand in der Bundesrepublik je "wiedergutmachen" können. Aber jetzt kann jeder handeln.

ZEIT ONLINE: Inwiefern? Was ist heute anders?

Dischereit: Ich nenne ein Beispiel: An der Rettung eines einzigen Angehörigen meiner Familie waren während des Dritten Reichs insgesamt 38 Menschen beteiligt, aber Fluchthilfe bedeutete Lebensgefahr. In Ostdeutschland der neunziger Jahre war es nicht ganz so gefährlich, aber  Aktivistinnen gegen Rechts waren weitgehend allein. Heute haben sich Helferstrukturen etabliert – starke Netzwerke, die manchmal wie erfolgreiche Unternehmen operieren, getragen von sehr vielen, sehr entschlossenen jungen Leuten. Eine Revolte gegen Kleinmut und Angstgeschwafel.
Im Osten gibt es heute zudem Opferberatungsstellen und Antirassismus-Initiativen, die sehr genau beobachten, was geschieht, und das auch öffentlich machen. Es kommt etwas in Gang: Ich kenne eine jüdische Gemeinde, die zu Channukka muslimische Flüchtlinge einlädt. Sogar neue Fluchthelfer gibt es: Sie nehmen einfach jemanden im Auto mit über die Grenze. Ich finde, das ist ein Wagnis, das man eingehen können sollte.

Dieses Interview erschien am 19.November 2015 in der ZEIT online
Wir danken Esther Dischereit, Johanna Roth und ZEIT online

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