Kolumne
Geschmackssache
Daß ich zu Weihnachten krank werde, entwickelt sich inzwischen zu einer Tradition. Mein Körper hat diesem Fest nichts mehr entgegenzusetzen. Jahrelang gab es einen erbitterten Kulturkampf mit meiner Mutter auszustehen, weil ich den heiligen Abend, der aufgrund dieser andauernden Auseinandersetzungen eher ein unheiliger Abend geworden ist, nicht mehr bei meinen Eltern in Bernburg verbringen wollte, sondern bei meiner katholischen Freundin, die irgendwann im Laufe des Abends in die Kirche geht. Das ist dann für mich der Moment, in dem ich mir in aller Ruhe eine weitere Flasche Wein öffne, und auf RTL II „Stirb langsam, Teil I“ anschaue. Wenn Bruce Willis auf blutigen Füßen, mit höchstens zwei Patronen im Magazin durchs Hochhaus schleicht, schalte ich ab, weil meine Freundin gerade von der Weihnachtsandacht zurückkommt. Bruce Willis kann sie mit Weihnachten nicht vereinbaren. Meine Mutter kann wiederum Weihnachten ohne mich nicht vereinbaren, was ich ihr ja auch nicht antun will, weshalb ich am ersten Weihnachtsfeiertag in der Früh, oder was ich aus meiner freiberuflichen Sicht für früh halte, aufstehe, um rechtzeitig den Zug nach Bernburg zu erwischen, wo ich zu Mittag erwartet werde. Spätestens jetzt fühle ich mich etwas fiebrig. Als ihrem einzigen Sohn lastet auf mir nun der gesamte Erwartungsdruck, den eine Mutter haben kann, wenn die Ehe nicht mehr so gut läuft. Ich soll dann ihren Gesprächbedarf befriedigen, der sich über das Jahr angesammelt hat. Leider erzählt meine Mutter kaum etwas von sich, sondern stellt ständig Fragen nach meinem Leben. Mein Leben ist aber gar nicht weiter interessant. Und das Interessanteste am Leben, will man vielleicht auch nicht unbedingt seiner Mutter erzählen. So wird das Gespräch schnell einsilbig, weil ich die Fragen meiner Mutter nur noch mit ja oder nein beantworte. Ich wollte meiner Mutter schon vorschlagen, als ehrenamtliche Helferin bei der nächsten Volksbefragung teilzunehmen. Aber da man seine Mutter, auch wenn sie nervt, doch irgendwie gern hat, läßt man solchen Kommentar bleiben.
Wäre ich dieses Jahr nicht krank geworden, ich hätte es wohl vermißt. Vor allem habe ich auf diese Weise einen guten Grund, mich dem mütterlichen Verhör zeitweise zu entziehen. Ich kann sagen, ich fühle mich fiebrig, ich müsse mich jetzt mal hinlegen. Und so investierte ich einen Teil meines Weihnachtsgeldes wieder in meine Nase, in Form von grünen Pillen gegen Nasennebenhöhlenentzündungen. Sie kosteten ungefähr soviel, als hülfen sie gegen Nasennebenhöhlenkrebs, und helfen soviel wie ein homöopathisches Präparat. Meinem Apotheker helfen sie bei der Finanzierung seines Eigenheims. Meine katholische Freundin, die ich aufgrund von Zärtlichkeiten, die ich mir nicht abgewöhnen kann, mit meinem Schnupfen angesteckt hatte, sagte im Laufe ihrer Leidensgeschichte einen ganz süßen Pleonasmus, den man eigentlich nur von Kindern oder geistig Zurückgebliebenen hört: „Kannst Du mir ein Taschentuch gegen Nasenschnupfen geben.“ Nasenschnupfen, ich hätte ihr daraufhin vor Rührung fast eine Rolle Nasenpapier zu Füßen legen mögen. Überhaupt neigt meine Freundin dazu, Dinge mit Worten zu bezeichnen, deren Sinn nur knapp danebenliegt. Zum Beispiel: „Der Schallplattenspieler funktioniert nicht mehr richtig“.
„Wir haben doch gar keinen Schallplattenspieler.“
„Ach, du weißt doch, was ich meine“.
„Den Leierkasten?“
„Du bist doof, den CD-Player natürlich.“
Manchmal spricht sie mich auch mit dem Vornamen ihres Exfreundes an. Mir bleibt dann leider nichts anderes mehr übrig, als etwas verschnupft zu reagieren, und sie dann so zu nennen, wie ich die Frau in meiner bisher längsten Beziehung immer genannt habe, nämlich Mutti.
Mit meinem Weihnachtsschnupfen hatte ich zumindest etwas, womit ich die Erfahrung gemacht habe, daß ich es überleben werde. Denn wie alle aufgeklärten Hypochonder kann ich zum Glück noch ganz gut zwischen einer Erkältung und Krebs unterscheiden. Meine katholische Freundin unterstützt mich dabei. Besonders in den Momenten, wenn mir plötzlich wieder einfällt, daß auch schon Menschen an Nasennebenhöhlenentzündungen gestorben sind. Denn es gibt ja nichts, woran Menschen noch nicht gestorben sind. Für diesen Adrenalinschub, der mich bei diesem Gedanken heimsucht, müßte Reinhold Messner in eine Lawine am Nanga Parbat geraten. Andere versuchen es mit Bungee Jumping oder ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Ich könnte schon aus rein hypochondrischen Gründen nicht fremdgehen. Der achtjährige Neffe meiner Freundin ist gegen mich jedoch ein Hochbegabter, was die Kunst der Hypochondrie betrifft. Neulich soll er gesagt haben: Er glaube, er habe Asthma. Gefragt, ob er denn wisse, was Asthma überhaupt sei, überlegte er ein Weilchen, und schüttelte dann traurig mit dem Kopf.
Mein uneingebildeter Schnupfen wurde am Weihnachtsabend bereits so stark, daß ich von den aufgetischten Speisen fast nichts schmeckte. Hier drängt sich mir nun der Vergleich mit Tantalus auf, wenngleich mythologische Rückbezüge immer etwas Prätentiöses haben, und ich sie meistens durch andere sprachliche Mittel zu ersetzen trachte. Gleichwohl haben mich meine Qualen an die des Tantalus erinnert. Den liebevoll von meiner katholischen Freundin gefüllten Weihnachtsteller vor Augen, voll mit Nougat und Krokantkugeln, einem Weihnachnachtsmann aus Kinderschokolade, und was ich sonst noch an regressiven Genüssen liebe, schmeckte ich nur noch süß, bitter, sauer und salzig. Verzweifelt biß ich immer wieder in den Weihnachtsmann, und fragte mich, wie es wäre, wenn ich jetzt dauerhaft geschmacksbehindert bliebe. Im Restaurant hätte ich beispielsweise keine Probleme mehr bei der Auswahl der Gerichte. „Als Vorspeise bitte das Saure, zum Hauptgang würde ich gern das Salzige nehmen, und zum Dessert einfach etwas Süßes.“ Aber das Leben wäre nur noch bitter für mich.
Nachdem ich am ersten Weihnachtsfeiertag der Befragung meiner Mutter standgehalten hatte, besuchten wir das reichsdeutsche Überbleibsel unserer Familie: Die Oma. Die meinte gleich, ich müsse mich abhärten. Ich hätte ja andauernd einen Schnupfen. Wie komme das denn? Ich sagte, daß ich zu Weihnachten immer einen Schnupfen habe, daß sei ziemlich normal, aufgrund der durch ständige Nachfragen geschwächten Abwehrkräfte. Sie habe nie einen Schnupfen gehabt, meinte Oma, so was kenne sie gar nicht.
Nach dem Kaffee wollten wir eine Runde spazierengehen. Mein Vater setzte seine neue, etwas zu klein geratene schwarze Wintermütze auf, die Oma, mit ein bißchen brauner Phantasie, sofort und lauthals als Judenkäppi entlarvte.
„Wie kommst Du denn darauf, das ist eine normale Wintermütze“, sagte meine Mutter.
„So, so,“ meinte Oma, daß sei aber eine komische Wintermütze, die wie ein Judenkäppi aussehe.
„Hast Du was gegen Juden,“ fragte ich Oma, obwohl ich natürlich weiß, daß Oma seit den Dreißigern was gegen Juden hat. Deshalb schenkte ich ihr zu Weihnachten oft, als Gegengift, Gedichte, zum Beispiel von Erich Fried. Ich habe allerdings den Eindruck, daß sich Omas Antisemitismus in der letzten Zeit eher noch verschlimmert hat. Woraus keine Schlußfolgerung über die Wirkung von Erich Frieds Gedichten zu ziehen sei.
„Ich würde so eine Mütze jedenfalls nicht aufsetzen,“ sagte Oma. Man sei hier schließlich immer noch in Deutschland. Daraufhin hätte ich meinem Vater am liebsten vorgeschlagen, das nächste Mal einen Stahlhelm aufzusetzen, damit sich Oma nicht so aufregt. Doch weil Oma Ironie im Grunde für etwas sehr Undeutsches hält, und man eine alte Frau zu Weihnachen auch nicht ärgert, ließ ich es sein. Mein Schnupfen war schon undeutsch genug. Anstatt hart wie Kruppstahl und zäh wie Oma zu sein, erwies ich mich mal wieder schwächlich wie ein armer Literat, dem sie zum Abschied eine gute Gesundheit und für das neue Jahr endlich eine ordentliche Arbeit wünschte.