Die Waldregel – Gedanken zu Tradition und Originalität

Kurze essayistische Arbeit

Autor:
Ulrike Draesner
 

Kurze essayistische Arbeit

Gedichte dienen nicht dem Selbstausdruck, sie dienen überhaupt nicht.

Mehr noch: wir sind in diesem Bereich gerade was die Verteidigung von Originalität angeht, extrem empfindlich geworden. Unser digitales Luxusleben des kostenlosen, raschen Zugriffes bietet extreme Möglichkeiten der „originellen“ Kombination (und damit verbundener Leistungserschleichung). „Plagiat“, „geistiges Eigentum“ heißen die Stichworte. Zu Recht. Sie zeigen, wo wir stehen: Die Rechts- und Geldordnung des postrevolutionären 19. Jahrhunderts, die das Individuum zum Subjekt aller Handlungen erhob und in der Kunst das inspirierte Genie feiern wollte, stößt heute an eine technisch induzierte Bruchlinie, an der neu zu verhandeln sein wird, was wie viel Geld wert sein soll, was welche Verantwortung nach sich zieht und welche Bedeutungen es trägt.

Jeder wird sich die für ihn relevante Schreibtradition nach Ansprachemöglichkeit (wo liegt sein inneres Gehör), nach Kanon (was ist wie übersetzt), Zufall (was entdecke ich) und Neigung zusammentragen. Halb sucht man, halb findet man, halb geht man absichtlich vor, halb lässt man geschehen und auf sich zukommen – vielleicht auch den ein oder anderen Gedanken darüber, wie man als Autor spricht: als wer? Und womit? Wie ‚individuell‘ und wo von den eigenen kulturellen Prägungen bestimmt – und auch eingeengt?

Die ‚Waldregel‘ (der Anspruch an Literatur, neu und vertraut in einem zu sein) ist selbst ein Stück Tradition. Im vierten Kapitel seiner Anleitung Zur Deutschen Poeterey von 1665 fasst August Buchner ihn in einen wunderbar verdrehten Satz, der auf reizende Weise den Selbstgebrauch des Poeten streift:

WAs sonst ferner ein Poet bey der Rede zufoderst in acht zu nehmen / und worinnen etwa die Art / derer er sich zugebrauchen / welche oben angedeutet ist / von der gemeinen nicht wenig unterschieden ist / bestehe / wollen wir mit wenigen andeuten / und anfaÆnglichen zwar / weil sein Zweck zubelustigen ist / und aber solches zu foderst erhalten wird / wenn man immer etwas neues hervorbringet / so hat er dahin fleissig zu sehen / dass er eine Rede auf viel und mancherley Weise abwechseln und verÆndern kŒnne /damit ob er gleich von einer Sache rede / dieselbe doch immer eine neue Gestalt gewinne / und also ausser allem Eckel seyn mŒge.
 

 

zurück