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Schreiben in Istanbul
Notizen aus Istanbul, Teil III von Gerrit Wustmann
Als ich hier in Istanbul, in Beyoglu, vor knapp eineinhalb Jahren den Gedichtzyklus „Beyoglu Blues“ schrieb, war ich zum ersten Mal in der Stadt und hatte gar nicht beabsichtigt, überhaupt zu schreiben. Eigentlich wollte ich nur meine liebe Kollegin Marie T. Martin besuchen und durch die Stadt streunen, neue Eindrücke gewinnen und auf mich wirken lassen. Ich dachte über das Schreiben damals gar nicht weiter nach, es geschah einfach. Morgens las ich Gedichte von Sait Faik, Nazim Hikmet, Orhan Veli, tagsüber besuchte ich die Orte, über die sie geschrieben hatten, abends und nachts verwob ich meine Erlebnisse mit ihren.
Es war ein innerer Drang, der diese Texte entstehen ließ, und dass sich das Buch seither gut 500mal verkauft hat ist für mich nach wie vor etwas Besonderes. Es gab nahezu keine Besprechungen, aber die erste Auflage war schon vor Erscheinen ausverkauft. Ich weiß bis heute nicht, was da genau passiert ist, aber irgendwie schien ich einen Nerv getroffen zu haben. Es ging weiter, als mich Menschen, denen ich zuvor nie begegnet war, nach Lesungen spontan umarmten und mir dankten – Menschen, die wussten, worüber ich geschrieben hatte, die einen Bezug dazu hatten, vor deren Augen Beyoglu lebendig wurde, während sie lauschten.
Ein türkischer Lesungsgast fragte mich, wieviele Jahre ich in Istanbul gelebt hätte, ob ich gar dort aufgewachsen sei. Nein, bin ich nicht, die Gedichte entstanden tatsächlich innerhalb von knapp zehn Tagen (Überarbeitungsphase nicht eingerechnet) bei meinem ersten Besuch in der Stadt am Bosporus. Das ist ein sehr angenehmes Feedback, zumal ich darauf nicht vorbereitet war. Es wird nicht mit intellektuellem Tenor über die Gedichte diskutiert, sondern sie werden vor allem emotional aufgenommen, und genau darum geht es mir. Ich mag Gedichte, die mich berühren, etwas in mir auslösen, und wenn mir selbst das bei dem einen oder anderen Leser gelingt, weiß ich, dass ich meine Sache zumindest nicht allzu schlecht mache. Der Zweifel und Selbstzweifel ist immer da. Er sorgt dafür, dass ich hungrig bleibe.
Beim jetzigen Aufenthalt ist die Schreibarbeit kalkuliert. Der zweite Teil soll entstehen, unter dem Arbeitstitel „Istanbul Bootleg“. Es soll über Beyoglu hinaus gehen, diese gigantische Stadt von fast 17 Millionen Einwohnern in Gedichten erfassen. Ein unmöglicher Wahnsinn. Meine Heimatstadt Köln passt hier locker in die Eingangshalle. Nein, man kann Istanbul nicht gerecht werden. Man kann sich der Stadt nur annähern, Tag für Tag, Schritt für Schritt ein Stückchen näher.
Natürlich begleiten mich die Zweifel jeden Tag. Gelingt das Unterfangen? Funktioniert es auch ohne die ursprüngliche Spontanität, kann man so etwas planen? Ist Literatur überhaupt planbar? Ich glaube nicht. Ich bin das Risiko eingegangen, mit leeren Händen zurückzukehren, und in den ersten zwei Wochen hier hatte ich die Befürchtung, dass genau das geschehen würde. Ich schrieb keinen einzigen Vers, nichts fiel mir ein. Ich kümmerte mich in den ersten Stunden des Tages um meinen Brotjob (die Betreuung von zwei Onlineredaktionen) und ließ mich dann bis zum Abend durch die Gassen treiben, verlief mich, fand nach Galata zurück, verlief mich erneut, war wie erschlagen von den unzählbaren Eindrücken, die auf mich einprasselten, aus allen Richtungen.
Ich kenne keine Stadt, die mit Istanbul vergleichbar ist. Ich kenne bloß Hunderte, die schon genau diesen Satz geschrieben und veröffentlicht haben, aber seine Bedeutung kann man nur erfassen, wenn man länger hier ist und sich auf die Stadt einlässt, wenn man zulässt, dass man von ihr einverleibt wird. Ich habe mich in Istanbul auf Anhieb heimisch gefühlt, ob trotz oder wegen all der Widersprüchlichkeit, weiß ich bis heute nicht genau.
Es brauchte eine Weile, aber Istanbul hat mich, wie erwartet, nicht enttäuscht. Für das erste Gedicht, das ich hier schrieb, brauchte es nur einen winzigen Auslöser. Ich spazierte nachts durch die Gassen von Cihangir. Es war windig, am Himmel grollte es seit geraumer Zeit, und schließlich kam der Regen. Regen heißt auf Türkisch „yagmur“, was zugleich ein Mädchenname ist. Ich spazierte weiter, unter den im Wind schaukelnden Straßenlaternen hindurch, die zwischen den Häusern über die Straße gespannt sind, und beobachtete, wie sich andere einsame Nachtstreuner in Hauseingänge zurückzogen und das Ende des Unwetters abwarteten.
das stete rauschen des regens
in beyoğlu der nasse glanz
auf leeren straßen und katzen
die wie du in hauseingängen
sitzen im widerschein der lichter
in den fenstern in den augen
der nacht der nachtgesänge
der stadt in deiner stimme
yağmur in deinen augen