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Interview
Sprechen wir über "Sexophismen"
Entlang der lebendigen Linie. Sexophismen. Ein lyrischer Zyklus, erschienen im Passagen Verlag, Wien 2010. Das Gespräch mit Swantje Lichtenstein führte Karin Hartmeyer, zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiterin des Verlages (2010). ...
KH: Wie entstand dieses Projekt, welche Ideen gingen ihm voraus?
SL: Das Verhältnis von Autor/in und Text ist immer ein intimes und erotisches. Auf diesen Kerngedanken antiker Texttheorien fußten die ersten Überlegungen dieses Buchs. In dem Moment, in dem der Text nicht in irgendeiner Form als Ausdruckswelt oder innerer Stimmung oder Weltwahrnehmung des Subjekts betrachtet wird, ist der erobernde und erfassende Fortlauf des Entstehens von Texten und dem, was beim Entstehen von Texten passiert, der Teil, der reflektierte, zu dem ein sehr intimes Verhältnis entstehen kann. Dann gibt es die sehr offensichtlichen erotischen Momente zwischen Autor/in, Text und Leser/in, die anreizenden Elemente, die den Leser/in anziehen wollen, den Blick, der Flirt beider Seiten: Die Autorin, die den Leser oder die Leserin sieht oder die Lesenden, die der Text sieht, der ein sensuell, emotional, seelisches oder sonst wie geartetes Verhältnis eingeht sowohl mit dem Autor als auch mit dem Leser. Es ist immer eine ménage à trois, mit all ihren komplexen Dynamiken. Und natürlich geht es um eine Emotion, ein Liebesverhältnis, das jeder der drei Involvierten beim Schreib- und Leseakt mit den anderen Beteiligten eingeht. Der Zyklus ist dabei eine Annäherung und Abschweifung und entwickelt kein explizites, wortwörtliches Verhältnis der Anziehungskräfte, die man erotisch oder intim, scham- und furchtlos bezeichnen könnte.
KH: Die "lebendige Linie" lässt eine potenzielle Grenzlinie anmuten entlang derer sich ihre Gedichte ansiedeln. Wird die lebendige Linie überschritten?
LS: Es handelt sich um eine Grenzüberschreitung, genau in dem gerade beschriebenen Sinne. Dem Überschreiten der Grenze zwischen innen und außen, nah und fern etc.. Dabei wird immer eine Linie, eine Zeile überschritten, muss überschritten werden. Wie das Buch aufgeklappt werden muss und vielleicht sein Einband ausgezogen wird. Dadurch kommt Leben in den Prozess. Die Linie oder der Strich deuten auch auf die vielschichtige Konnotation der Worte im Text und im Titel, die Zeichenhaftigkeit ebenso wie die Grenzüberschreitung, die Begehrlichkeiten, dem Streben nach dem Schönen, der Aspekt, den Platon dem Eros anhängt. Eros ist ja in der Antike nicht nur der schöne Junge und Sohn der Aphrodite, sondern auch eine der drei Grundkräfte und Streitgegenstände, der grenzenlosen Sehnsüchte. Und ja, diese schreiben sich potentiell und potent an einer Grenze entlang, sei’s der Sprache oder entlang der Verhältnisse.
KH: In Ihren Texten ist "dem Text" als Solchem eine Hauptrolle eingeräumt und seine divergente Rolle bezüglich einer vorbehaltlichen "Sprachverwirrung" diskutiert. Inwiefern kann auch ein Text betrügerisch sein?
SL: Ich arbeite viel mit dem betrügerischen Teil des Textes, der unsere Lesegewohnheiten und unser inneres Lexikon herausfordert, beim Verlesen, bei den semantischen und syntaktischen Erwartungshaltungen, die häufig genug in die Irre führen, auch wenn wir glauben, sie zu beherrschen. Genau auf dieser Ebene spielt sich der erotische Teil dann auch ab und es beginnt der Betrug, ohne den die Dreiecksbeziehung von Autor/in, Leser/in und Text nicht auskommen kann und die den Teil des Sprachspiels (be-)deutet.
KH: Wie bewusst erleben Sie selbst Ihre Beziehung zu Texten, zu "eigenen" und zu "fremden"?
SL: Wie viele Schreibende lebe ich ein Leben in Texten und die eigenen Texte wirken manchmal fremd und fremde innig vertraut. Ich habe aber großen, vielleicht zu großen Respekt vor Texten anderer, darum fällt es mir manchmal schwer einzelne Worte nur zu benutzen, denn es ist als ob manche Worte so sehr anderen Autoren zugeordnet sind in meinem Kopf, dass ich sie nicht wage wieder zu verwenden.
KH: Wie intim ist diese Beziehung?
SL: Sehr intim.
KH: Sprechen und Schreiben bedeutet jeweils bereits eine Interpretation der ursprünglichen Worte. Ohne von Wahrhaftigkeit zu sprechen, was ist unmittelbarer – sprechen oder schreiben?
SL: Von Unmittelbarkeit zu sprechen scheint mir hier ein Phantasma zu sein. Es ist wohl eher so wie Wittgenstein schreibt, die Unmittelbarkeit zeige sich und spreche aber nicht. Vielleicht könnte man die Hegelsche Konzeption der "vermittelten Unmittelbarkeit" zu Rate ziehen, dies würde dann aber für Sprechen und Schreiben gelten.
KH: Die ideale Beziehung zwischen AutorIn und LeserIn ist in einem postmodernen Diskurs unmöglich geworden. Teilen Sie diese Meinung?
SL: Mir ist nicht ganz klar, was diese ideale Beziehung sein soll, "ewigklar und spiegelrein", wie bei Schiller? Sollte sie nah sein und Raum lassen, dann wäre sie ideal für mich. Ich glaube, das ist auch im postmodernen Diskurs durchaus möglich. Wenn es diesen denn als solchen überhaupt noch gibt.
KH: Wie gehen Sie in Ihrem lyrischen Schaffen mit dieser Gegebenheit um?
SL: Ängstlich und nach Möglichkeit produktiv.
KH: Intim sind ihre Gedichte in jeder Hinsicht. Erotische Konnotation erhält Ihr Zyklus bereits im Untertitel – es handelt sich um "Sexophismen". Die sexuelle Spannung Ihrer Texte entlädt sich in sprachlicher Präzision und oftmals schließlich erst zwischen den Zeilen. Um welche Art von "Erotik" handelt es sich in Ihren Texten?
SL: Um die Verführung oder wie Sie sagten die betrügerischen Händel von Texten. Intimität wirkt eben auch auf verschiedenen Ebenen. Die Kontaktflächen können zart sein, sollten sie jedoch berühren, die Texte den Leser/die Leserin, die Autorin/den Autor oder sich selbst, wäre es ein guter Anlass. Es geht auch um sexuelle Intimitäten, jedoch nicht auf der direkten Ebene, sondern mit den Kontextualisierungen und den Semantiken dieses Bereichs. Es ist ja so wie Karl Kraus schrieb: "Sie sagte sich: Mit ihm schlafen, ja - aber nur keine Intimität!": Die professionelle Sexualität und die Pornographie bedienen und bilden spezifische Sprachmuster aus, die "Hurensprache", auch um diese geht es in den 69 Texten. Pornographie ist dann wieder eine Grenzüberschreitung des Sittlichen. Die Darstellungsebene und das Intentionale verschieben sich dabei, wie sich auch das Verständnis der Intimität gewandelt hat und zunächst in der Neuzeit vom öffentlichen Raum in die Privatheit verschwunden ist. Jedoch ist sie auf dem Weg zurück in die Öffentlichkeit und sei es nur virtuell.
KH: Gegenwärtiger Lyrik ist im heutigen literarischen Diskurs meist ein Randplatz zugewiesen und oftmals ist sie einem sehr skeptischen Blick unterworfen. Haben Sie das Gefühl Ihre lyrische Produktion nach außen rechtfertigen zu müssen?
SL: Lyrische Produktion ist nicht zu rechtfertigen. Entweder man meint es ernst damit und dann ist die Suche nach einem künstlerischen Weg, einer Poetologie, einer Art zu Schreiben im Genre Lyrik etwas, das man nicht rechtfertigen kann. Was nun noch nichts darüber aussagt, wie weit der Begriff "Genre" gefasst wird oder sich überhaupt noch rechtfertigen lässt. Was ich bezweifle. Das heißt nicht, dass es nicht Menschen gibt, die sehr verwundert sind darüber, dass man das ernst meinen kann und so viel Arbeit und Zeit hinein investiert oder seine Kräfte nicht anderswo einbringt. Ich schätze den hohen Grad der Komplexität des Lyrischen, die komplexen Zeiten und Zusammenhängen entspricht, diese fortführt und Anschlussdrähte und Verbindungskabel, vielleicht auch Lüsterklemmen anbietet. Natürlich kann man aber auch eine Reihe anderer Dinge im Leben tun. Die Rechtfertigung sich selbst gegenüber ist schwieriger, aber da ich jahrzehntelang alles weggeworfen habe, was ich schrieb, habe ich diesen Teil schon vorgezogen und zwar lange und intensiv.
KH: Haben Sie selbst ein Lieblingsgedicht aus Ihrem aktuellen Zyklus?
SL: Nein, sie gehören ja zusammen.
Swantje Lichtenstein: Entlang der lebendigen Linie Sexophismen. Ein lyrischer Zyklus//80 Seiten. 11,00 EUR, ISBN 9783851659306// Passagen Verlag Wien 2010