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Monatskolumne
Point of no return
Ich stand vorm Glashaus und rauchte. Da fragte mich eine junge Frau, die eben herausgekommen war: Sie würde das sonst nie fragen, aber hätte ich vielleicht eine Zigarette für sie? Worauf ich fragte: Ich würde das sonst auch nie fragen, aber hätte sie morgen Abend vielleicht ein bißchen Zeit für mich, so nach zwanzig Uhr?
Wenn man sich den Ladenpreis von Zigaretten vor Augen hält, verliert die Gegenfrage einiges von ihrer Anstößigkeit. Man kann danach zum Geschäftlichen übergehen. Genau weiß ich nicht mehr, was sie geantwortet hat. Vermutlich gar nichts, was noch das Harmloseste ist, was Frauen antworten, wenn ich sie anspreche.
Ich muß auch gar nicht sprechen. Neulich nachts bin ich über eine Kreuzung gegangen. An der Ampel stand ein Kleinwagen mit einer hübschen Frau am Steuer. Es trafen sich unsere Blicke. Plötzlich langte sie zur Beifahrertür rüber und drückte den Verriegelungsknopf runter. Sollte ich doch mal wieder meinen Bart kürzen oder lieber gleich Gesichtschirurgie?
Das Glashaus zu Leipzig muß vermutlich mal ein angenehmes Ausflugslokal im Clarapark gewesen sein, ich stelle es mir zumindest so vor, bis drinnen nicht mehr geraucht werden durfte. Der oder die Inhaberin mütterlichen Geschlechts stellte eine Kiste mit Bauklötzchen, ein Feuerwehrauto und ein paar Puppen in die Ecke. Im Toilettenbereich wurde ein beheizter Wickelraum eingerichtet. Was folgte, war unvermeidlich. Freilaufende Kinder, die Bauklötzchen in den Weg legen, währenddessen Mütter ein Stück Kuchen, oder gleich mehrere, ihrem Körper hinzufügen, obwohl sie noch gut von sich selber zehren könnten.
Bevor es auf diese Weise mit dem Glashaus bergab ging, mußten Mütter, wenn sie ausgehen wollten, ihre Kinder zu Hause lassen, weshalb sie meist nicht ausgingen und keine Probleme bereiteten, weder ihrer Umgebung noch ihrer Figur.
Betrete ich jetzt diesen Ort, der immer mehr einem Gewächshaus ähnelt, allein, ohne weibliche oder kindliche Begleitung, versuche ich wenigstens verabredet zu sein. Zum Beispiel mit meinem Freund Carl, der einen kleinen Sohn hat und sich deshalb gern mit mir dort trifft. Was mich in Verlegenheit bringt, sollte er noch nicht dasitzen, wenn ich auftauche. Ich komme mir plötzlich wie ein Pädophiler vor, wenngleich ich mich gar nicht für Kinder interessiere. Aber was hat ein einzelner Mann, der sich niedersetzt, Reudnitzer Bier statt Rooibostee bestellt und sich nervös umschaut, sonst im Glashaus verloren. Mißtrauisch werde ich von den Müttern taxiert. Auch von den dort immer häufiger wie Mütter herumsitzenden Vätern. Und zweien von solchen saß ich gegenüber. Dem einen, der endlich auch mal ein Stück Möhrenkuchen in aller Öffentlichkeit genießen kann. Dem anderen, der dazu einen Capuccino trinkt und den Schaum mit dem kleinen Löffel aus der Tasse nascht und vorwurfsvoll Sätze sagt wie: Das müsse man den Kellnerinnen als Erstes beibringen, dem Kind immer vor den Erwachsenen das Essen zu servieren. Der permanent die Handlungen, die er am Kind durchführt, kommentieren muß. Komm, der Papa möchte dir mal den Mund abwischen. Ein Vater, der wie gewisse Mütter glaubt, die Welt drehe sich nicht um die Sonne, sondern um seinen Sohn. Der dann: Komm lieber von der Küchentür weg, die Kellnerinnen passen nämlich gar nicht auf dich auf, sagt, obwohl natürlich die Kellnerinnen die ganze Zeit aufpassen, nicht auf seinen herumkrabbelnden Nachwuchs zu treten. Der schließlich die vermanschten Essensreste seines Kindes ohne Ekel aufißt. Magst du nicht mehr den Apfelstrudel, darf der Papa den aufessen? Der es doch schon die ganze Zeit auf den besabberten Apfelstrudelrest abgesehen hat!
Das Thema Zeugungsfähigkeit wurde von den beiden gewälzt, als ginge es um etwas Wichtiges (wäre das nicht Fußball oder wenigstens ein Exkurs über Arno Schmidt gewesen). Die Maria habe den Oliver verlassen, weil er nicht zeugungsfähig sei, meinte der eine. Ach was, das hätte ich ja nicht gedacht, meinte der andere, während er versonnen den letzten Rest des Capuccinoschaums aus der Tasse kratzte. In stolzer Gewißheit seiner Vaterschaft (der man sich nie so sicher sein sollte). Wer im Glashaus sitzt, sollte mindestens einmal seine Zeugungsfähigkeit bewiesen haben, schienen sie mir sagen zu wollen. Was habe ich hier also zu suchen?
Als meine katholische Freundin, die gleichzeitig meine oberste Zensurbehörde ist, diese Kolumne Korrektur las, meinte sie, daß ich mich doch nicht unsympathischer darstellen solle, als ich bin. Außerdem sei ich nicht sehr originell, weil andere so etwas Kinderfeindliches und Anti-Emanzipatorisches auch schon zum Thema gemacht haben. Vielleicht hatte sie recht. Ich war aber mit diesem Text am Point of no return angelangt. Ähnlich wie eine Lokomotive, die den Selbstmörder überrollen wird, obwohl die Bremsen gezogen sind, oder eine außer Kontrolle geratene Kettenreaktion im Reaktor, ging der Text seinem unvermeidlichen Ende entgegen.
Irritierend, wie ein abrupter Übergang, ist auch die Tatsache, daß vorn am Eingang des Glashauses, in einem Humidorschränkchen[1], dicke Zigarren angeboten werden, obwohl ja nicht geraucht werden darf. Holen sich die Mütter, bevor sie mit dem Kinderwagen durch den Park zurück nach Hause schlendern, noch was Kräftiges zu rauchen, weil das auf die Nichtraucher unter den immer mal wieder auftauchenden Vergewaltigern abschreckend wirkt? Oder ist die Zigarre im Mund einer Mutter das folgerichtige Symbol einer gelungenen Emanzipation?
[1] Ein guter Humidor zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er eine konstante (tropische) Luftfeuchtigkeit im Inneren halten kann.