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Glosse
Martenstein’sche Zeitdiagnostik
In der ZEIT vom 6. Juni 2012 versucht sich Harald Martenstein in Zeitdiagnostik. Er beklagt, dass unsere Gesellschaft immer unfreier werde. Noch nie, so sein Urteil, „stand [...] eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so sehr unter Kontrolle“. Mithilfe „von Gesetzen, Verordnungen und medialer Überwachung“ werde eine „moderne Diktatur“ erschaffen. Das ist starker Tobak. Das Stück ist als Polemik ausgewiesen.
Ebenfalls am 6. Juni erschien in der FAZ ein Text des Feuilletonisten Jürgen Kaube, in dem dieser sich mit einem Buch des Berliner Zeithistorikers Martin Sabrow befasst. Sabrow hat wohl behauptet, die Welt um 2000 sei schnelllebiger als die Welt um 1900 und wir lebten heute in einer „Beschleunigungsgesellschaft“. Das will Kaube so nicht gelten lassen und hakt nach: schnelllebiger – „für wen, woran gemessen, in allen Sektoren?“ Dann verweist er auf Max Weber, der mit fünfzig, als Sabrow gerade Professur wurde, „fast schon zu Tode erschöpft“ gewesen sei. Wer wohl, will Kaube wissen, habe „stärker unter dem Eindruck von Zeitdruck und Reizüberflutung“ gelebt?
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Kaube resümiert, dass „kein Segen auf den zeitdiagnostischen Redensarten“ liege. Das möchte man auch Martenstein zurufen.
Martenstein moniert, dass Facebook uns zu „Menschen ohne Geheimnis“ mache. Das mag in Einzelfällen stimmen; aber letztlich hat jeder die Freiheit, das selbst zu entscheiden. Manche Zeitgenossen betreiben öffentliche Nabelschau, andere nicht – das war auch schon vor Facebook so. Und wer nur halbwegs bei Verstand ist, stellt keine Fotos ins Netz, auf denen er, sagen wir mal, einen Joint raucht. Apropos: Selbst wer derlei Bildmaterial der Allgemeinheit nicht vorenthalten möchte, Konsequenzen hat er (oder sie) – trotz Betäubungsmittelgesetz – kaum zu befürchten; das zeigt schon ein Spaziergang durch die Fußgängerzone. Bei Martenstein hingegen gerät die Freiheit dadurch in Gefahr, dass ihm das Rauchen auf bayerischen Ausflugsdampfern untersagt wird. Das mag einen ärgern, ein Indiz für „Tugendterror“ ist es nicht.
Aber nicht nur Verbote, auch die Boulevardmedien bringen Martenstein auf die Palme. Dort werde Verhalten, das nicht der Norm entspreche, zum Skandal stilisiert und angeprangert. Es regiere die Tugendhaftigkeit.
Tugendhaftigkeit? Kann man sich im Ernst vorstellen, dass „Skandale“ à la Harden/Eulenburg (1907) oder Kießling/Wörner (1984), die in ihrer Zeit die Medien über Monate beschäftigten und in regelrechte Hetzjagten ausarteten – beide Male ging es um die angebliche Homosexualität mächtiger Männer –, heute noch möglich wären? Wohl kaum. Dabei mangelt es in den für das Boulevard interessanten Kreisen sicher nicht an skandalträchtigen Geschichten; nur schreibt in der Regel selbst die viel gescholtene „Yellow-Press“ nicht darüber, es sei denn, der Stein wird von außen ins Rollen gebracht oder aber politische Inszenierung und privater Lebensstil klaffen allzu weit auseinander. Davon abgesehen dürfte sich die Mehrzahl der Internet-Skandälchen weniger auf tugendhafte Recherchen als auf PR-Strategien bzw. den Geltungsdrang der Dargestellten selbst zurückführen lassen.
Besonders ärgerlich aber wird es, wenn Martenstein die Totalitarismus-Karte zückt. Das tut er gern, vier Mal verweist der Text auf den Stalinismus und die Nazizeit. Implizit – von einer gehörigen Portion Tugendhaftigkeit ganz zu schweigen! – soll damit wohl angedeutet werden, in welche Richtung uns die Regelwut der Tugendhaften führen könnte. Das ist populistisch. Geht‘s nicht auch eine Nummer kleiner?
Es scheint was dran zu sein, an der Warnung vor den „zeitdiagnostischen Redensarten“.