Monatskolumne
Der Weg zur Fettleber, Teil 1
Letzten Sommer war ich einer von sieben Freßsäcken, die auszogen, um die Weine und Spezialitäten des Südens zu kosten. Wir schlemmten uns von Norditalien über Südfrankreich bis zur elsässischen Stopfleber durch. Nun hoffe ich, daß niemand von meinen Gefährten an Glossophobie leidet, also der Angst, in einer Glosse verwurstet zu werden. Denn dann sollten sie das hier lieber nicht lesen. Aber sie können sich trösten. Leicht fiel es mir nicht
- mich überhaupt in ein Auto zu setzen (Thanatophobie)
- zusammen mit einem anderen Mann in einem Hotelzimmer zu schlafen (Zoophobie)
- oder in einem gemeinsamen Hotelbett (Phallophobie)
- dann meinen Stuhlgang rechtzeitig vor der Weiterfahrt erledigen zu müssen (Kakophobie)
- und falls nicht, ihn auf Toiletten zu vollziehen, wo ich mir möglicherweise eine Schmierinfektion einhandelte (Schmierinfektionsphobie).
Meine katholische Freundin begrüßte diese Fahrt aus purem Eigennutz. Aufgrund ihrer besonderen Wärmebedürftigkeit hoffte sie, daß ich auf dieser Reise nachhaltig desensibilisiert werde, so daß ich in Zukunft häufiger mit ihr in den Süden fahre. Denn sie meinte, ich würde mich immer so ängstlich benehmen, als erwarte mich hinter dem Brenner nicht Italien, sondern bereits Indien.
„Ich habe keine Hepatitis A und B-Impfung.“
„Du brauchst keine Hepatitis A und B-Impfung.“
„Na gut“, sagte ich kleinlaut, und packte meine Reisetasche.
Erster Tag.
Die erste Etappe im Kleinbus war von Hagen nach Chiuduno (Kiuduno ausgesprochen), in die Nähe von Bergamo. Übrigens, weil ich chronisch monoglott bin und deshalb unter Blamierphobie leide, sobald ich einmal in fremder Zunge reden muß, werde ich hier viele italienische Worte einbauen, um mich einer sprachlichen Konfrontationstherapie zu unterziehen.
Christoph (Namen wie immer leicht geändert), unser Reiseleiter und kugelrunder Weinkenner (mit durchtrainierter Zunge) meinte, daß diese Gegend die Lombardei sei. Da ich aus der ostdeutschen Walachei stamme, ist es ein großer Schritt aus den Grenzen heraus, die ich gewöhnt bin. Das kann dazu führen, daß ich mich wie ein Huhn fühle, das sich zu weit aus seinem Stall hervorgewagt hat, aufgewühlt und orientierungslos, in der Angst, von einem Fuchs erwischt, das heißt, von einem italienischen Taschendieb beklaut zu werden (Kleptophobie). Die Italiener mögen mir verzeihen, aber jedesmal wenn ich nach Italien fahre, und inzwischen bin ich schon sehr oft von meiner katholischen Freundin liebevoll dazu gezwungen worden, fürchte ich, von einem italienischen Taschendieb beklaut zu werden, obwohl ich noch nie in Italien beklaut worden bin, sondern immer nur in Halle. Trotzdem habe ich mir letztes Jahr eine Tasche zugelegt, die man am Bauch, unter dem T-Shirt tragen kann, um Geld und Papiere aufzubewahren. Bei meiner ersten Italienfahrt hatte ich noch nicht so eine Tasche, sondern verbarg vorsichtshalber im Schlüpfer eine größere Menge Bargeld, die mir im ICE kurz hinter Frankfurt fast ins Klo gefallen wäre. Deshalb war ich nun froh, diese Tasche zu besitzen. Ich habe jedoch feststellen müssen, daß sie gewisse Nachteile hat. Man schwitzt beispielsweise am Bauch, und die Erhebung erweckt den Eindruck, als hätte man einen Anus praeter. Eine Bella Figura macht man damit nicht. Die Geldscheine sind auch nicht sofort zum Bezahlen verwendbar, sie sollten vorher getrocknet werden.
In Chiuduno hatte Christoph für uns ein Hotel gebucht. Zwei Zweibettzimmer und ein Dreibettzimmer. Hauptsache, ich habe ein eigenes Bett, dachte ich. Ich fand mich in dem Dreibettzimmer wieder, was dunkle Erinnerungen an meine Bundeswehrzeit wachrief (Olfaktophobie). Wenn sich nämlich drei beim Stoffwechseln versammeln, bin ich mitten unter Euch, sagte die Flatulenz, denn zu unserer ersten Weinprobe, die wir noch am selben Abend absolvierten, gab es eine luftgetrocknete Salami, einen selbstgemachten Reissalat und leider auch sehr wohlschmeckende, eingelegte Zwiebeln, denen wir zusprachen. Nicht nur den Wein, sondern auch das Essen hatte uns der Winzer spendiert, sodaß Christophs Ermahnung, lieber etwas zurückhaltender zu essen, spätestens in dem Moment vergessen war, als die riesige luftgetrocknete Salami angeschnitten und scheibchenweise auf einem Brett reihum gereicht wurde. Das Brett kreiste die ganze Weinprobe lang und immer wieder schnitt der Winzer in aufopferungsvoller Gastfreundschaft von der herzzerreißenden Salami ab.
„Schlucken oder Spucken?“ war nicht der Titel eines Pornofilms, den wir uns nachts über den Pre-tv-Kanal des Hotels ansahen, sondern die quälende Frage, ob man etwas von diesen Rebenköstlichkeiten, die das Val Calepio hergab, einfach ausspucken könne, wie es bei Weinverkostungen üblich ist. Wir probten zuerst den Valcalepio Bianco. Und Christoph, der Weinkenner, fragte mich, ob mir etwas an diesem Wein auffalle. Er sei jung, sagte ich, im Grunde noch minderjährig, habe jedoch schon sehr ausgeprägte Pfirsichnoten. Das mit den Pfirsichnoten hatte ich schon mal irgendwo gelesen, und ich dachte, das kann man bestimmt zur Charakterisierung eines Weißweins sagen. Auf jeden Fall schmeckte er gut. Ich ließ mir nachschenken, um noch ein paar Schlucke lang diesem jungen, schlanken Wein nachzustellen. Dann kam der Rosato Della Bergamasca auf den Tisch, ein Roséwein, und ich erkannte, daß er köstlich war oder einfach nur „superlecker“, ein von Roman Turban, meinem Freund und Schriftstellerkollegen, heute schon zum x-ten Mal gebrauchter Ausdruck. Es folgten der Valcalepio Rosso und der Pilendri Valcalepio. Und als Enkel und Urenkel einer Generation, die noch einen Angriffskrieg führen und einen Hungerwinter erleben durfte, sagten wir uns, Salami vertilgt man bis zum letzten Zipfel und Alkohol spuckt man nicht aus, es folgten der Valcalepio Riserva und der Valcalepio Moscato, und irgendwann war der Tisch leer und die Flaschen ausgekostet, es folgten im Hotel noch ein paar Bier und die letzten Zoten des Tages, was unseren Därmen in der Nacht entwich, hätte für die Erhitzung des morgendlichen Duschwassers gereicht.
Zweiter Tag.
Nach dem Duschen gab es das berühmte italienische Hotelfrühstück, zu dem wir Toastbrot bekamen, das sich wie ein antikes Artefakt ausnahm, hart und staubtrocken. Um elf hatten wir bereits den nächsten Termin in der Villa Crespia, gelegen in der Franciacorta, wo es frischen Gaumens an die Verkostung eines Spumante gehen sollte. Am Bus warteten schon alle. Ich hockte noch auf dem Klo, wo ich inzwischen das biologische Alter eines Siebzigjährigen erreicht hatte. Mehr will ich dazu nicht sagen.
Das Anwesen, das wir nun ansteuerten, war beeindruckend. Die gesamte Fabrikation und Lagerung waren zwanzig Meter tief in den Weinberg hinein gebaut worden. Darüber erhob sich ein moderner, jedoch mit den Materialien der Gegend errichteter Prachtbau, was die Moderne etwas erträglicher macht. In einem Nebengebäude führte die Tochter des Besitzers die Verkostung durch. Sie hatte lange schwarze Haare und überhaupt einiges zu bieten. Das Bouquet ihrer Weiblichkeit beseelte uns. Hartgebackenes Pane lag ebenso bereit wie eine Platte mit grob zerbröseltem Pecorino, der mich das Frühstück schnell vergessen ließ. Wir kosteten einen Novalia[1] Brut aus den Trauben des Chardonnay. Es folgte ein Miolo Brut, dann ein Numerozero, o-oder nein, wahrscheinlich eher ein Cisiolo oder ein Cesonato, aber, aber sicher kein Brolese Millesimato, oder doch. Am Ende war die Platte mit dem Pecorino jedenfalls leer. Und wir hatten leider keine Zeit zu verlieren, denn es wartete schon die Langhe mit seinen piemontesischen Eierstöck … äh Weinstöcken und Haselnußbäumen auf uns.
In Bra nahmen wir Quartier. Unterhalb von Bra, im Ortsteil Pollenzo, besuchten wir die Università di Scienze Gastronomiche, wo Christoph seinen Bachelor in Geschmackswissenschaft erworben hat. Ach ja, welch wunderbares Bra, wo die Slow-food-Bewegung ihren Ausgang nahm. In diesem Moment dachte ich, ob ich meine Studienzeit, anstatt über soziologischen Theorien, nicht lieber über Spucknäpfen verbracht hätte, zwecks umfassender Gaumenbildung. Ich könnte ja noch ein Drittstudium dranhängen (wer wie ich, und das ist keine kolumnistische Übertreibung, siebenundzwanzig Semester lang immatrikuliert war, kann die dreißig ruhig vollmachen). Bei Studiengebühren von ca. 19000 Euro im Jahr müßte ich allerdings jemanden finden, der in meinen Gaumen zu investieren bereit ist. Ich gebe zu bedenken, es schlummert ein Rohdiamant in meinem Mund, der auf seinen Feinschliff wartet.
Im Anschluß besuchten wir eine Osteria in Castello di Verduno, wo es ein Propädeutikum in dieser Wissenschaft gab. Es wurde zuerst ein Spumante studiert, auf ihn folgte ein frischer Vino Bianco zu einer erlesenen Ansammlung diverser Antipasti. Hauchdünne Rinderzunge in Tomatensoße, eine Thunfischpastete auf Salatblättern, geröstete Auberginen, gekochte Salami, dann der erste Gang (obwohl ich mich fühlte, als sei es der fünfte) Tagliatelle ragout carne, es wurde ein Dolcetto d’Alba gereicht, der zweite Gang, gebratenes Kaninchen und in Rotwein gesottenes Rinderragout, es wurde ein Nebbiolo gereicht und auch ein Barbaresko, und dann gab es Panna cotta, zu dem ein süßer Moscato gereicht wurde, und dann einen Espresso, und dann einen Grappa di Nebbiolo, die Flasche blieb gleich stehen, sie wollten uns anscheinend zum Liegen bringen. Eine anstrengende Wissenschaft.
Der Besoffenste von uns traute sich, den Bus zurück nach Bra zu lenken. Kröchi sang dabei das Lied: „Denn wer sich Allianz versichert, der ist voll und ganz gesichert“. Der ganze Bus stimmte mit ein. Kurz vor Bra wurden wir von der Polizei angehalten.
Wie das ausgeht, ist in der nächsten Kolumne zu lesen.
[1] An dieser Stelle schlug mir die Rechtschreibprüfung Novalis vor, was ich von ihr nicht erwartet hätte.