Monatskolumne
Als ich in Den Haag las
Mein Urlaub stand dieses Jahr unter keinem guten Stern, vielmehr unter einem direkt auf die Erde zurasenden Asteroiden. Ich hatte eine Zahnfistel, die allerdings niemand außer mir ernsthaft als Bedrohung wahrnahm. Wäre ich Lars von Trier, hätte ich einen Weltuntergangsfilm gedreht, um allen Menschen die Möglichkeit zu geben, an meiner depressiven Stimmung teilzunehmen. So leuchtete ich nur mit einer Taschenlampe regelmäßig in meinen Mund und fragte meine katholische Freundin, ob sie sich den Stand der Dinge auch mal selbst ansehen wolle. Sie wollte nicht. Die Menschen verschließen gern die Augen vor der nahenden Katastrophe. Der Untergang von Pompeji ist das beste Beispiel dafür. Auch meine Zahnärztin meinte verharmlosend, damit würde ich durch den Urlaub kommen. Ich hatte eher den Eindruck, als würde ich durch den Urlaub umkommen. Immerhin wäre die Rückführung durch meine Reisekrankenversicherung abgedeckt. Nachdem sich meine Zahnärztin in den unverdienten Urlaub verabschiedet hatte, ging ich zu ihrer Urlaubsvertretung. Sie meinte, der Zahn müsse wohl raus, aber sie wolle nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Was ich an der Wand sah, hätte Hieronymus Bosch nicht besser hingekriegt. Mit leichten Sommersachen im Gepäck, dem „Tod in Venedig“ als Reiselektüre, sowie einer Reiseapotheke, deren Inhalt gegen das Betäubungsmittelgesetz verstieß, ging es auf nach Italien. Eine Woche im Karst von Triest, nicht weit von Schloß Duino, wo wir auf Rilkes Pfaden wandelten, und eine in Venedig, Brodskys gedenkend. Im Sprachführer schlug ich erstmal nach, was Zahnschmerzen auf Italienisch heißt. In Triest fielen mir besonders die Schilder mit dentiste an den Häusereingängen ins Auge. In Venedig sah ich mich in einer düsteren Seitengasse verschwinden, um in den Amalgamkammern des Palazzo ducale wieder zu mir zu kommen. In einem hohen, holzverkleideten Raum wartete ein Herr auf mich mit einem Schnurbart wie auf den Flaschen von Birra Moretti, meiner allabendlichen Lethe gegen den Zahnkummer. Sein Assistent hielt den Keilriemen einer kostbaren Antiquität von Zahnbohrer mit Hilfe eines Schwingbretts, gleich dem einer Singernähmaschine, unermüdlich in Gang. Von irgendwo klangen dumpfe Schmerzenslaute zu mir. Ich wurde gebeten, mich in den Stuhl zu setzen, der mich mit seinen Verzierungen an das Chorgestühl von San Zaccaria erinnerte. Dann wachte ich neben meiner katholischen Freundin auf.
Jeden Tag rechnete ich mit dem Ausbruch der Zahnschmerzen. Die Zeugen Jehovas hätten den Jüngsten Tag nicht gläubiger erwartet. Aber sie blieben aus. Vermutlich war der Zahn bereits abgestorben und streute sein Gift still. Meine Laune im Karst von Triest war nun äußerst karstig. Meine Freundin nahm es heiter und nannte mich nur noch Seniore Grollo. Denn ich bin ja schon ohne Zahnfistel im Ausland eher ein Globetrottel. Mit meinem Urlaubsitalienisch scheitere ich schon, wenn ich den Busfahrer nach einer Haltestation fragen will. Obwohl man da auch bei deutschen Busfahrern scheitert. Der Busfahrer ist ein überall gleich auftretender Archetypus von Verkehrsteilnehmer. Er ist mürrisch, er versteht dich nicht und er dreht das Radio an. Ob auf Rügen oder im Karst von Triest. Falls mich ein Franzose kurz hinter Leipzig fragen würde, wo es nach Allé, nach Alle geht, würde ich ihn nicht nach Magdeburg schicken. Das täte ich meinem ärgsten Feind nicht an.
Als wir eines Abends mit dem Vaporetto nach Cimitero übersetzten, sah ich mein bisher äußerst risikoarmes Leben vorüberziehen, das ich nun mit diesem unbehandelten Zahn riskierte. Meine Freundin wollte zum Grab von Joseph Brodsky. Auf dem Grab von Joseph Brodsky saß allerdings schon ein russisches Pärchen. Die beiden tranken Wodka und rauchten. Aus einem Beutel steckten sie sich Häppchen in den Mund. Picknick am Grab scheint ein russischer Brauch zu sein. Ich sah mich um, ob noch irgendwo eine Grabstelle frei wäre. Dort würde demnächst meine Freundin sitzen müssen, mit einem Topf Spaghettibolognese, die ich immer so gerne gegessen habe, und einem Glas Rotwein. Ein Birra Moretti könnte sie mir auch noch mitbringen.
Natürlich war der Urlaub im Nachhinein sehr schön. Und weil Triest und Venedig so schön gewesen waren, hatte ich über tausend Fotos geschossen. Ich hätte meinen Freund Peter auch sehr gern alles, was ich in diesem Urlaub gesehen habe, erzählt. Doch Peter will nicht. Ihm fehlt die Geduld, um sich stundenlang zusammenhanglose Urlaubsimpressionen anzuhören. Deshalb wird Peter auch niemals Ulysses lesen oder ein vergleichbares Meisterwerk des modernen Romans.
Wie zermürbend der Urlaub war, merkte ich ein paar Tage danach. „Denn das Schöne ist nichts/ als des Schrecklichen Anfang“ heißt es ja bereits in den Duineser Elegien. Wir waren im Anschluß zweimal in Halle baden, wo sich Altnudisten gerne nackt machten, am Heidesee. So alt fühlte ich mich zwar noch nicht, doch kurz darauf hatte ich eine Art Blasenentzündung, die sich für mich anfühlte, als hätte ich gleichzeitig Hoden- und Prostatakrebs. Ich erbat von meiner Hausärztin eine Überweisung zum Urologen. Nun war ich oben und unten defekt. Ein multimorbider Zahn- und Blasenkranker, was womöglich erst der Anfang war. Wer weiß, was der Urologe feststellt. Irgendeine Krankheit, die gar nicht zu meinem adrenalinabstinenten Leben paßt. Meine katholische Freundin, die mich bisher Seniore Grollo genannt hatte, nannte mich nun liebevoll „kleine Gurke“. Zu einer solchen geschrumpft, mußte ich auch noch die seit langem geplante Lesung in der Botschaft von Den Haag absagen. Unter diesen Umständen wäre mir höchsten eine Lesung im Klo der Botschaft von Den Haag möglich gewesen. Selbst wenn die Klos in der Botschaft von Den Haag groß genug wären, sind meine Texte dafür nicht experimentell genug. Konzeptkunst hat mich auch nie interessiert. Ganz stolz war meine Mutter gewesen, als ich ihr erzählte, daß ihr Sohn in Den Haag liest, und nun mußte ich ihr sagen, daß er dort nicht gelesen hat. Wegen einer Blasenentzündung. Als meine Mutter anrief, sagte ich ihr, Den Haag sei eine wunderschöne Stadt. Der deutsche Botschafter habe sich durch meine Texte sehr unterhalten gefühlt. Nach der Lesung hätten wir noch ein Glas Sekt getrunken und ein bißchen geplaudert. Meine Mutter wollte natürlich noch mehr wissen. Aber ich mußte schon wieder zur Toilette. Das sagte ich auch, ich müsse jetzt mal zur Toilette, alles Weitere würde ich ihr später erzählen. Ich hatte Zeit gewonnen. Bis es soweit war, konnte ich mich im Internet ausführlich über Den Haag informieren. Meine Mutter sagte, daß ihr übrigens schon seit Längerem aufgefallen sei, daß ich sehr oft zur Toilette renne. Und ich solle das unbedingt mal untersuchen lassen, Krebs liege schließlich in der Familie.
Zum Glück hatte ich bereits einen Termin.