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Rede
Topografie eines verregneten Sommers
Hamburg | Dezember 2012
Meine Damen und Herren, liebe Freunde der Kunst,
ich möchte mit einem Satz Walter Bauers beginnen, der mich berührt hat, so, wie mich die Vergabe des Walter-Bauer-Preises an mich, auch im Hinblick auf die ehrfurchtgebietende Reihe meiner Vorpreisträger, berührt und bewegt. „Wenn man lebendig ist, wird alles, was man berührt, lebendig“ – diese Maxime, denn das ist sie, spricht von der Beseeltheit, die man durch das Schreiben möglicherweise erfährt.
Ich habe in den neunziger Jahren, als ich meinte, es mir leisten zu können, die Hälfte meiner Studienzeit für Gedichte ‚dranzugeben‘, in seltenen Momenten, in einer versifften Butze im damals noch bröckelnden halleschen Paulusviertel, einige meiner lebendigsten Augenblicke erlebt. Das Wort, das vom Blatt aufsteht, die Geborgenheit in Sprache – beides waren Dinge, die mir damals heilig und unabdingbar vorkamen. Und ich hatte in Halle gottlob Verbündete gefunden, die meine Obsession als normal ansahen, nicht als die Krankheit, für die ich mein Schreiben zeitweise hielt. Alles, was man berührt, wird lebendig – ich ahnte seinerzeit wenig von der Kraft, die in dieser Vorstellung wohnt.
Sie ist Anmaßung und Demutsübung zugleich, der Funke der Beseelung steckt in ihr wie die Erkenntnis, daß eben dieser Funke längst in allem vorhanden sei. Und selbst heute, wo wir in nahezu scheintoter Raserei diesen schönen und wohl zum Verlöschen verdammten Planeten umtorkeln, gibt es diesen Moment noch, er hat sich rar gemacht wie der tiefere Sinn, der sich aus dieser Welt beherzt davonstiehlt, aber es gibt ihn noch, zwei-, dreimal im Jahr, und es lohnt sich um ihn. Was man berührt, gerät in Bewegung – ich liebe diesen Gedanken, weil er der Mühsal des Schreibens eine Würde verleiht: man tritt für den Moment des Schreib-Akts aus dem Schatten, ungehindert der Schwächen und Traumata, die so ein Schriftsteller mit sich herumschleppt und die zum festen Bestand seiner Tätigkeit gehören. Ja, gehören müssen, wenn es ihm ernst um seine Kunst ist.
Die andere Seite, mit der lebendige Dichtung auftritt, ist der Glanz – und es ist nicht von ungefähr, daß Bauer, bei allen Zweifeln an dem Land, das er verließ, um in Toronto bei Null zu beginnen, Goethe als Lebensrichtschnur nie aufgab. Es gibt ergreifende Zeugnisse in Walter Bauers heute so wenig gelesenem Werk mit einer nicht kriecherischen, nein, Goethe sich freundschaftlich nähernden Wertschätzung des Großen; der Dichter, in die Fremde verlegt, steht vor dem Werk des Altvorderen und staunt über dessen Läßlichkeit: „Übrigens: Goethe / Erwartet keinen. / Er drängt sich nicht auf …“, und er bescheidet sich schließlich, ehe er weiterziehn muß: „Ich verließ die Quelle, / Die mich erfrischte. / Ein Trunk mit gewölbter Hand genügte / Für den ferneren Weg.“
Die Ahnung vom möglichen Leuchten der Dichtung und die Aussicht, nach einem harten und zusetzenden Tag doch noch zum Schreiben zu kommen, das ist es, was die ‚verlorene Kaste‘ der Dichter antreibt. Einer der Bauer-Preisträger, der große Hilbig, war in diesem Schreiben viel mehr zuhause als in seinem durchstolperten Leben, die Gebresten und Zumutungen dieses Lebens gerannen zu einer Kolonne Texte von unglaublichem Schimmer, Nacht für Nacht hervorgebracht, unter Auszehrung aller Kräfte … ich weiß, ich weiß, ein romantisches Bild. Aber es war wohl so; und ich stelle mir nach der Beschäftigung mit ihm Bauer in Kanada in ähnlicher Versenkung vor, schreibend, um sich zu ermutigen, vorhanden, letztlich lebendig zu sein, die Gedichte und Tagebuchkladden notdürftig unter den Vorlesungsskripten versteckt. Was ihm zunehmend abhandenkam, das Gespräch mit der Herkunft im Leiser-Werden seiner Stimme in Deutschland, kulminierte in leidenschaftlichen Ansprachen an Europa, Erinnerungen an die mitteldeutschen Gegenden – diese Sehnsucht konnte ihm offenbar kein Freund und keine Reise lindern.
Mit dem Schreiben, die Menschen in meiner Nähe können einen Sermon davon singen, habe ich es mir nicht leicht gemacht. Dabei ist der Grund für all dies höchst einfach: ich schreibe, um mich meiner Anwesenheit zu versichern. Dieser Weg aus dem Schatten war lang und schwierig, mein Schreiben gründete anfangs in diesem Gefühl des Nichtvorhandenseins, und es mündete nur zaghaft und spärlich ins Licht.
Ja, denn ich mußte mich befleißigen, gegen die Trauer anzuschreiben, und gegen das Nichts, das die Verluste der Kindheit in mir hinterließen. Ich habe viel darüber nachgedacht, was mich sonst retten könnte, ich bin darüber Rinderzüchter, Archäologe, Germanist geworden – aber das Hinterlassen von Buchstaben auf dem Papier erschien mir als das Triftigste, der wichtigste Grund, sich eines wie auch immer gearteten Anwesendseins bewußt zu werden. Ich habe das in der Jugend dringend gebraucht, um einige Schatten zu überwinden: die Schatten, ohne die ich heute kein Schreiber wäre. Es gab diesen Punkt, von dem an ich wußte, von diesem gefährlichen ‚Hobby‘ nicht mehr zurücktreten zu können, und ich spürte zugleich den Zustand des Trosts und des Idylls, den ich im Schreiben erreichen konnte. Und ich war bereits in Hoffnung genug, zu verstehen, daß darin ein Ausweg für mich liegt – kein leichter, aber ein Weg. Ich wußte zu der Zeit noch nicht, daß sich einmal Grundschüler klassenweise über einen „Wolkenzirkus Knatterhose“ kaputtlachen könnten, und daß dieser zaubrische Mumpitz von mir stammen sollte …
Vor die Fleischtöpfe des Schwelgens haben die Götter Eskaladierwände aus Fleiß und, in die Künste gedreht, Größenwahn gestellt; beides Dinge, die einen Lyriker erschrecken, wenn er darauf angesprochen wird und die seiner Arbeit aber selbstverständlich sein müssen. Ich habe für meinen Teil lange gebraucht, für diese Obsession, die mich seit nun etwas mehr als zwanzig Jahren an einem verregneten Diwan aus Versen und Wortgeflacker, Zweifeln und Sich-behaupten-Wollen fesselt, überhaupt in die Rolle eines Arbeitssamen zu schlüpfen: ich habe mich wie gesagt im Erlernen drei ordentlicher Berufe geübt und sogar bewährt, ich bin dann doch Schriftsteller geworden und geblieben.
Ohne das Erlernen der Rinderzüchterei jedoch, ohne qualmende und röhrende Brikettfabrik am Rand der Industriearbeitergemeinde, des grünen Dreiecks im Rauch, das der Ort meiner Jugend ist, ohne die Archäologie wäre ich, ist zu fürchten, ein anderer Schreiber geworden; und so ist es vielleicht mehr als ein schöner Zufall, daß wir uns hier, am Rand der Gartenstadt Leuna und zugleich der Mauer gegenüber, hinter dem das Flackern und Zischen des Leuna-Werks eine eigene Welt erfindet, treffen – der Ort, der Platz, an dem wir hier stehen, ähnelt ein wenig den Plätzen meiner Jugend und dem Beginn meines Schreibens. Ich habe, nachdem ich die Kleinstadt verließ, nach der sich mein Kindergeist immer noch sehnt, in Holzweißig, inmitten des Bitterfelder Reviers, einige meiner schönsten Jahre verlebt, es ist richtig, dafür dankbar zu sein, dort und im Schatten der Kindheitsstadt an der Mulde, die ich als Elfjähriger verlassen habe, hat alles seinen Anfang.
Ich bin heute unendlich froh darüber, dieses Gefühl eines Zuhauses zu haben, eine Zeitlang habe ich tatsächlich versucht, in der Illusion der ‚Heimat Wort‘ zu leben. Ich hatte mich viel mit Rose Ausländer, Hilde Domin und Paul Celan befaßt, die dieses Diktum aus Gründen, die ich für mich nicht in Anspruch nehmen darf, brauchten – ihre Erfahrung, ihr Leid hat es ihnen verunmöglicht, noch irgendwo beheimatet zu sein. Bauer, der nach seinem Fortgang lange mit seiner Sehnsucht rang, dessen Neubeginn mit dem Zerbrechen einer großen Liebschaft einherging, und sogar Hilbig, der Sänger des ausgekohlten sächsisch-thüringischen Meers, hatten diese Wurzel als Lebenspfand in sich.
Im Fall Hilbigs war das eine ambivalente Heimat, aus der es ihn fort- und immer wieder zurücktrieb. Es hat für mich auch gedauert, um zu begreifen, daß die Gegend zwischen Saale, Elster, Elbe mein Zuhause ist – ich meine das nicht patriotisch, alles andere als das, aber ich bin in einem kargen Landstrich zwischen Mulde und Dübener Heide nun einmal auf die Welt gepurzelt. Nun, es war wohl eher ein verpenntes Gekrabbel, wie meine Mutter zu berichten weiß: ich hätte wohl gern noch in meiner Mutter ein bißchen gehockt, geträumt und mir was zusammengesponnen. Naja, nun bin ich Rinderzüchter gewesen und Lyriker geblieben, vielleicht ist das die Gnade einer doppelten Wurzel, mit der man sich jeweils eine Heimstatt auf einer kursächsischen Scholle, eine Behausung im Wort zumißt. Ich möchte das gern glauben, es hat mich beides am Leben erhalten.