Kurze essayistische Arbeit
Blinzelnde Raubkatzen in der Frühlingssonne
Dezember 2012
Wie man Gedichte für Kinder schreibt, wüsste ich gern.
Ich muss es immer wieder neu versuchen, doch haben die Versuche wenigstens dazu geführt, dass ich deutlicher weiß, wie es nicht geht: künstlich kindisch. Auf die Kinderebene hinuntergebeugt, sozusagen. Eigentlich sollte deutlich sein, dass das nicht funktioniert, der Austausch mit Kindern funktioniert ja auch in anderen Bereichen nicht so. Sie wollen nicht verkindert, sondern ernst genommen werden. Wenn sie etwas nicht verstehen, sagen sie es schon, oder man merkt es. Das mag offensichtlich klingen; ich erwähne es, weil ich leider immer wieder derartige Beuge-Kindergedichte lese, so ganz betont kindhaft. Meine Tochter reagiert darauf in der Regel überhaupt nicht, ich glaube, sie betrachtet diese Wortgegenüber schlichtweg als nicht satisfaktionsfähig.
Auch ich selbst erinnere mich, wie ich mich in der Regel ärgerte bzw. zu flüchten versuchte, wenn ich als Kind einem Gedicht begegnete. Was man mir anbot, war Futter für Blöde und Taube: es reimte sich auf offensichtliche Weise, hatte aber keine Musik (kein Metrum) und/oder holperte grässlich über Tiefen und Untiefen des Betonungswechsels dahin. Auch der Inhalt half in der Mehrzahl der Fälle nicht weiter: Glückwünsche für Omas, Opas und Tanten, langes Leben etc. Oder das Gedicht war von vornherein inhaltslos: Raben zogen sich Jacken an und sprachen dazu „krah, krah“, ein blauer Regenschirm lag auf dem OP-Tisch. Auch das fand ich nicht aufregend, ich fand es bestenfalls träumerisch.
Noch heute langweilen mich (Kinder)-Gedichte, die schlichtweg daraus bestehen, Normen der Erwachsenenwelt umzukehren. Das mag für manches Elternteil auf den ersten Blick witzig sein, aber warum sollten Kinder es spannend finden? Für sie wechseln die Rollen zwischen Dingen, seien sie belebt oder unbelebt, so viel leichter als für uns; ihre Welt ist voller Unwägbarkeiten – und Möglichkeiten. Was dem Erwachsenengehirn schon gewagt erscheinen mag, ist im Kinderkopf Alltag. Und, fragt das Kind sich zu Recht, wo bleibt nun das als etwas Besonderes und Schönes angekündigte Gedicht?
Etwas Schönes. Intensives.
Nicht jedes Erwachsenengedicht ist ein Kindergedicht, aber ein gutes Kindergedicht, denke ich heute, ist immer auch ein Erwachsenengedicht. Dicht, überraschend, gern auch spielerisch. Ein Text, der sich beim (Er)Finden von Musik, Bildlichkeit und Gedanken durchaus anstrengt und sich dabei alle Freiheiten nimmt, die er braucht.
Meine nächste ungute Gedichterinnerung betrifft eben diese Freiheiten. Schiller, Balladenunterricht, Didaxe. Ich war schon etwas älter, 11 oder 12, und wir mussten einige der Schillerschen Lehrpoeme auswendig lernen. Ich war enttäuscht: diese Gedichte waren nichts als gereimte Geschichten mit simplen Belehrungen am Ende. Eine derartige „Moral“ mutete man uns in „richtigen“ Erzählungen nie zu.
Gedichte für Kinder müssen nicht didaktisch wertvoll sein. Ebenso wenig sollen sie den Kindern ein „Schaut, was wir Autoren können“-Maschinchen vorführen. Und sie sollten nicht all das, was Spaß macht – die Welt auf den Kopf stellen, Unsinn behaupten – schon vorgefertigt zuende geführt haben, so dass das Kind nichts mehr selbst entdecken kann.
Gedichte für Kinder dürfen gern ernst sein. Auch ernst unsinnig. Dazu, was das ist, komme ich gleich. Sie brauchen einen Kern, ein Gefühl, eine wirkliche Frage, die sie ausdrücken: dabei muss es sich keineswegs um ein einfaches oder „harmloses“ Gefühl handeln (falls es das überhaupt gibt.) Kinder lauschen aufmerksam, wenn es um für sie neue Zusammenhänge geht; sie selbst haben komplexe und phantastische Gedanken: Fragen nach Leben und Tod, nach Gott und Gespenstern, Gewalt und Frieden, Schutz und Gefahr begleiten sie. Und sie lernen, lernen die ganze Zeit. Die Welt der Erwachsenen zieht sie an, sie ist ihre Zukunft. Kinder sind dankbar, wenn man sie dort abholt, wo sie stehen, und ein Stück weiterführt. Nicht die Erkindlichung des Gedichtes führt zu einem Kindergedicht. Stringenz und Schönheit indes durchaus, in lustvoller, klingender Sprache.
Ernsthafte, von Gefühlen und Gedanken begleitete „Unsinns“-Poesie. Ein schönes Beispiel für ihre Wirkung verdanke ich Oskar Pastior. Vor Jahren kam der Berliner Zoo offensichtlich einmal auf die Idee, anlässlich eines speziellen Kindertages im Zoo Poesie aufzuführen und zu diesem Zweck den Dichter Pastior einzuladen. Pastior stellte sich (so erinnere ich mich zumindest an seine Erzählung) zwischen das Löwen- und das Tigerfreilaufgehege in einen leicht nach oben führenden Betongang mit einer Ausbuchtung, in der die Kinder sitzen konnten, und begann.
Blinzelnde Raubkatzen in der Frühlingssonne! Wer Pastior je erlebt hat, der weiß, wie seine Stimme schnarrte und sang, wie verschmitzt-unschuldig er über den Rand seiner Brille schaute, wie genießerisch er seine Verse darbot, wohl komponiert, immer Regeln gehorchend, um zwei oder drei lautliche wie sinnliche Ecken gedacht. Etwas, das keiner semantisch versteht und doch begreift, etwas, dessen „Bedeutung“ man später erzählen kann, das lustig und überraschend ist. Man wird wach dabei, weil man lauscht.
Die Kinder waren gebannt, der Mann vor ihnen, weder Clown noch Kasperle, bot ihnen etwas an, das sie nie gehört hatten – das wollten sie haben. Doch ging dieses Vorlesen, erzählte Pastior, nicht lange gut. Eltern begannen, ihre lauschenden Kinder wegzuziehen, sie fanden unheimlich, was der alte Kerl bewirkte: warum hörten die Kinder lachend zu, während sie, die so viel weltkundigeren Erwachsenen, nichts verstanden? Wie der Rattenfänger von Hameln muss Pastior ihnen vorgekommen sein, er verzauberte die Kinder mit Gedichten, während sie selbst nichts hörten als Buchstabengeräusche.
Eine eindrucksvolle und vielsagende Episode. Die Erwachsenen taub (empfindungslos) dort, wo ihre Kinder die Sprachbewegung genossen. Seither stelle ich mir nur eines vor, wenn ich versuche, ein Gedicht für meine Tochter zu schreiben: ich selbst muss es mögen. Die Sprache will ich „erwischen“: wie sie geht (die Eigenart ihre Grammatik – ihrer Verkettungen und Wortaufspaltungen, ihrer Redewendungen und Sprichwörter, ihrer Welteinteilungen). Wie füchsisch sie schleicht, wie sie fließt, holpert, rumpelt, lautlich-sinnlich ist. Dass sie (und mit ihrer Hilfe ich durch ein Gedicht) die Welt auf eigene Weise beleuchtet, dass sie etwas verrückt, ist dann selbstverständlich. In einem Gedicht für Kinder und Erwachsene.