eingekreist - die Monatskolumne Februar 2013

Monatskolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Monatskolumne

Brief an den Großvater

Vor einiger Zeit habe ich mich tatsächlich hingesetzt, um meinem Großvater, den ich nicht kenne, und den mein Vater, der sein Sohn ist, vor fünfunddreißig Jahren zuletzt gesehen hatte, einen Brief zu schreiben. Das schwebte mir seit zehn Jahren vor. Doch wie schreibt man einen solchen Brief? Warum gab es am Literaturinstitut, wo ich studierte, kein Seminar dafür? Titel: „Der Briefstil vom Barock bis zur Postmoderne. Praktische Übungen an eigenen Briefbeispielen.“ Insbesondere Herrn Professor Treichel hätte ich kompetent für ein solches Seminar gefunden.

Ich nahm ein Stück Briefpapier und fühlte mich wie ein Analphabet dabei. Schon bei der Anrede stockte ich: „Sehr geehrter Herr Großvater“ oder doch lieber „Lieber Opa“. Wenn das nicht bereits zu distanzlos klingt, zwischen immerhin völlig Unbekannten. Soviel ich weiß, hat er noch mal geheiratet und Kinder, die so alt sind wie ich. Möglicherweise möchte er von dieser Generation nicht mit Großvater, geschweige denn Opa angesprochen werden. Das sagen vielleicht schon die schnippischen Krankenschwestern zu ihm. Aber eigentlich ist er jetzt in einem Alter, in dem er froh sein sollte, überhaupt noch zu den Ansprechbaren zu gehören. Und nach der Anrede, wie weiter? Kurz und knapp vielleicht (er war schließlich Offizier bei der NVA gewesen): „Bevor Sie sterben, hätte ich Sie gerne noch schnell einmal gesehen. Falls es Ihnen genauso geht, würde ich mich freuen. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Enkel.“

Aber will ich das denn wirklich? Was habe ich denn davon, einem alten Mann gegenüberzutreten, von dem ich zwar weiß, daß er mein Großvater ist, zu dem ich jedoch keine emotionale Bindung habe? Das ist mir viel zu emotional. Meine katholische Freundin meinte, immerhin das verbinde mich mit meinem Großvater. Zwei emotionale Faulpelze und Egoisten. Ok, sie hat ja recht, wir Kreisens sind jetzt generell nicht übertrieben liebenswert. Warum sollte ich IHN also kennenlernen wollen? Es gibt da höchstens etwas, was man mit dem Wort „Neugierde“ bezeichnen kann. In meinem Soziologiestudium haben wir Befragungen durchgeführt zu verschiedenen Einstellungen. Ich könnte an der Haustür meines Großvaters klingeln: „Entschuldigung, hätten Sie kurz Zeit für ein paar Fragen. Standen Sie dem Sozialismus wirklich nah, oder waren Sie, wie es von Ihrer Exfrau, meiner Oma, behauptet wird, nur ein karrieregeiler Opportunist?[1] Hatte es Sie irgendwann gar nicht mehr interessiert, wie sich das Leben Ihres Sohnes und das seiner Familie entwickelt? Geben Sie bitte auf einer Skala von eins bis fünf eine Nummer an, wobei die Eins für ‚gar nicht interessiert’ steht und die Fünf für ‚zwar gelegentlich interessiert, aber irgendwie keine Gelegenheit für ein echtes Interesse gefunden’. Ihre Antworten werden natürlich anonymisiert und irgendwann einem autobiographischen Romanprojekt zur Verfügung gestellt.“ Nach der Befragung könnte ich mich unverkrampft entfernen und müßte im Anschluß nicht verlogene Weihnachts- oder Geburtstagsgrüße schicken.

Doch so einfach geht’s leider nicht. Vielleicht bekomme ich eine Einladung zu Kaffee und Kuchen. Und dann kommt die Frage von ihm: Was ich so beruflich mache? Und ich antworte, daß ich Schriftsteller sei. Worauf er nach einem anerkennenden Kopfnicken fragt, was alle fragen, die keine ausgebildeten Bohemiens sind: Kann man denn davon leben? Wenn er jetzt Sinn für Ironie hätte, was, wenn ich mir meinen Vater so anschaue, eher nicht der Fall sein wird, könnte ich antworten, genau deshalb sei ich ja bei ihm aufgetaucht, ob er mir nicht mit ein paar Tausend Euro aus der Klemme helfen könne. Er solle schließlich bedenken, wie viele Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke für seinen Enkel er in all den Jahren eingespart hat. Wir würden über diesen Scherz herzhaft lachen. Und dann würde ich sagen, daß das kein Scherz war. Nein, das würde ich nicht sagen, natürlich nicht. Außerdem, nach allem, was ich von meinem Vater über ihn weiß, brauchte ich das gar nicht erst versuchen. Selbst vom allerletzten Brot seines Lebens ließe er sich nicht die Butter nehmen. Der wahrscheinlichste Fall ist, gar keine Antwort auf meinen Brief. Was sollte er auch antworten, nachdem er seit über fünfunddreißig Jahren von sich aus keinerlei Interesse an einer Begegnung bekundet hat: „Lieber Enkel, gut, daß Du Dich gemeldet hast, kürzlich fiel mir ein, als ich diese fast letale Lungenentzündung hatte, da war doch noch was …“. Ich schaute auf das Briefpapier, dort stand jetzt wenigsten schon mal „Sehr geehrter Herr Dr. Kreis“. Allerdings, den „Dr.“ für politische Ökonomie, den er nach seiner NVA-Zeit gemacht hat, könnte ich weglassen. „Sehr geehrter Herr Kreis“, na also. Und dann? Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist so leer wie mit achtzehn, als ich eine Bewerbung schreiben sollte für eine Lehrstelle als Energieelektroniker bei den Bernburger Stadtwerken: „Sehr geehrte Damen und Herren, ich bewerbe mich bei Ihnen, weil, ja weil der Umgang mit Strom bei mir halt eine große Spannung erzeugt …“. Wäre ich Energieelektroniker geworden, käme von niemandem die Frage, ob ich davon leben könne. Als ob es nicht genügend gescheiterte Energieelektroniker gäbe, die kein Gefühl für einen gelungenen Schaltkreis haben. Ich vermute, daß ich von diesem Großvater genauso streng beurteilt werden würde, wie er seinen Sohn beurteilt hat.

Eigentlich geht es weniger um diesen Großvater. Nur insofern, als er immerhin eine gewisse Verantwortung dafür trägt, wie mein Vater zu dem geworden ist, was er ist. Ich könnte diesen Großvater fragen, was er sich denn dabei gedacht hat. Die Abwesenheit seines Vaters war für meinen Vater, wie er mir nach einigen Bieren einmal erzählt hatte, eine große Befreiung gewesen. Gilt hier ebenfalls der Satz, bei dem ich leider nicht mehr weiß, wer ihn gesagt hat: „Das Beste, was ein Vater für seinen Sohn tun kann, ist sterben“?

Ich brauchte fast eine Woche für diesen Brief, der schließlich nur wenige Zeilen umfaßte. Dann schickte ich ihn ab.

Bis heute habe ich keine Antwort erhalten. Vielleicht sollte ich doch mal einen Kurs im Briefeschreiben belegen.

 



[1] Sie drückte sich, glaube ich, etwas gewählter aus.