Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha
Madame Schoscha (Barcelona) - Herr Altobelli (Berlin) - 6.Brief
Berlin, März 2013
Illustration von Larisa Lauber
Meine liebe Madame Schoscha,
ich habe mit großem Vergnügen und einer kleinen Spur von Neid Ihren letzten Reisebericht gelesen. Dieser war für mich als Daheimgebliebenen eine willkommene Einladung, um die Erinnerungen an eigene Erlebnisse in der Ferne hervorzuholen. Details wie Namen und exakt konturierte Gesichter scheinen dabei im Laufe der Jahre auf undramatische Weise den vermeintlich flüchtigeren Eindrücken wie Gerüchen und Stimmungen zu weichen. Es muss sich dabei auch nicht immer um den Duft von Lavendel handeln. Mich versetzt beispielsweise der Geruch von Dieselmotoren unvermittelt in die anregend chaotische Geschäftigkeit von südeuropäischen Metropolen. An guten Tagen formt sich daraus dann der Wunsch, mit der weiten Welt da draußen wieder in Kontakt zu treten:
„[…] ein märzliches Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so dass es sich auf eine wohlige Weise lohnte zu reden, zu denken über viele Dinge, […]“ (Max Frisch)
Wie Sie wissen sollte jetzt auch die Zeit sein, wo die Landwirte ihre Felder und Wiesen in Stand setzen. Wenn man den ganzen Winter regelmäßig U-Bahn gefahren ist und die Fahrgäste beobachtet hat, wünscht man sich inständig, dass einige Menschen beim anstehenden Frühjahrsputz auch den Hirnkasten nicht aussparen werden.
Greg Graffin, promovierter Evolutionsbiologe und Frontmann der Punkband Bad Religion, hat schon vor Jahren in seinen Texten betont, dass für den modernen Menschen die geistige Gesundheit ein Vollzeitjob ist. Wie soll man daneben noch seine Arbeit schaffen?
Ein Freund erzählte mir neulich von einem Anti-Stress-Seminar für Berliner Lehrer, an dem er teilgenommen hatte. In der gemeinsamen Gesprächsrunde wurde von den Anwesenden eine beeindruckende Anzahl von Methoden für Selbstoptimierung und Psychohygiene zusammengetragen. Das reiche Angebot von bioenergetischer Meditation bis Schwitz-Yoga gehört inzwischen zum privaten Einmaleins der Pädagogen. Als mein Freund an die Reihe kam, stellte er die schlichte Frage: „Und was ist mit Interessenvertretungen und Gewerkschaften?“ Darauf folgte dann erst einmal irritiertes Schweigen. Die Idee von der Überprüfung und Erneuerbarkeit von gesellschaftlichen Strukturen scheint vor kurzem aus der Mode gekommen zu sein.
„It’s better to burn out than to fade away. My my, hey hey!”
Je länger man an einem Stück in der Großstadt bleibt, desto mehr springen einen die Wahnsinnigen an. Ich erinnere mich, dass auch Sie immer ein Liedchen davon singen konnten. Manchmal denke ich, dass der eigene unbeachtete Lagerkoller entsprechend gepolte Geister anzieht. An besonneneren Tagen reicht mir als Erklärung für derartige Begegnungen in einer Stadt mit einem Haufen Menschen dann auch die reine Wahrscheinlichkeit.
Vor ein paar Wochen rannte an der U-Bahnstation Friedrichstraße mehrere Tage ein großer, mittelalter Mann auf und ab und schrie lauthals gegen kriminelle und todbringende Bedingungen in der modernen Psychiatrie an. Er tat dies abwechselnd in Deutsch, Englisch und Französisch. Auch die „Verrückten“ sind in der globalisierten Welt angekommen.
Doch wo fängt „Verrücktheit“ nach heutigen Wahrnehmungskriterien an? Für mich bei dem einleitenden Satz, den ein männlicher, deutscher Fahrgast im Bordbistro eines ICE der freundlichen weiblichen Servicekraft unterjubelte: “Ich bin heavy user der Bahn!“ Darauf folgte eine endlose Kaskade von Daseinsfrust, über die diversen erlebten Verspätungen und grundsätzlichen Unzulänglichkeiten der Deutschen Bahn. Unbeirrbar wurden die Wortkübel über der duldsam reagierenden Gastromitarbeiterin ausgeschüttet, so dass relativ schnell bei allen Umherstehenden ein spürbares Unbehagen sichtbar wurde. Die Steigerung von Konsument ist also der heavy user. Hier stehe ich und konsumier‘ nicht anders. Eine Transformation zu einer weniger krachigen Variante des Kapitalismus, vergleichbar mit der populärmusikalischen Erscheinung des Post-Rock, scheint nicht unmittelbar bevorzustehen. Die sich fremdschämende Schicksalsgemeinschaft konnte durch Solidarbekundungen und schräge Interventionen den Schwerstempörten zur Räson bringen. Ich habe verpasst zu fragen, ob er nicht darüber nachdenken will, nach Singapur auszuwandern.
Zu guter Letzt bin ich Ihnen noch die Antwort auf Nerudas Frage schuldig. Ich hatte gehofft in den Honigprotokollen von Monika Rinck fündig zu werden, aber so einfach ist es eben nicht. Meine Vermutung, warum man Hubschraubern nicht beibringt, aus der Sonne Honig zu saugen, ist, dass wir uns auf andere Dinge konzentrieren. Die Forschungsabteilung des Pentagon arbeitet schon seit vielen Jahren an einem sogenannten brain-computer interface (BCI). Diese inzwischen implantierbare Schnittstelle übermittelt Daten der Hirnaktivität direkt an einen Computer. Neben neuen Kommunikationsmöglichkeiten für gelähmte Menschen sieht das Militär Potential für gesunde Soldaten. Das neurotechnisch nicht unterstützte Gehirn kann sich nicht von Zögern und Zaudern freisprechen. Insbesondere in Stresssituationen eines militärischen Einsatzes seien Verzögerungen im Millisekundenbereich einer gelungenen Performance des modernen Soldaten nicht zuträglich. Selbst Drohnen mit Gedankenkraft zu lenken, solle schon bald keine Zukunftsmusik mehr sein. Hoffentlich verlieren wir dabei die summenden Bienen nicht aus den Augen und aus dem Sinn.
Solange promovierte Naturwissenschaftler auch erfolgreich Punkmusik machen, gebe ich diese Welt noch nicht verloren.
Seien Sie auch aus der Ferne meiner uneingeschränkten Bewunderung versichert und genießen Sie die freien Ostertage.
Ihr Herr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie wieder eine Illustration der Schöneberger Künstlerin Larisa Lauber. Sie wird auch in diesem Jahr meine Briefe an Sie um eine wunderbare Dimension erweitern.