Die andere Seite der besseren Lebensart

Essay

Autor:
Myriam Keil
 

Essay

Die andere Seite der besseren Lebensart

Immer schön schauen!

Wenn jemand eine Straße überquert, wird er im Allgemeinen nicht überfahren. Wenn jemand eine Straße überquert und dabei nach links und rechts sieht, hat er sogar noch bessere Chancen. Vielleicht überquert er aber die Straße, sieht nach links und nach rechts und erblickt ein paar spielende Kinder, die dem Fahrbahnrand gefährlich nahe kommen; er sorgt sich, er ruft, er gestikuliert – und wird überfahren. Zumindest steigen seine Chancen hierfür beträchtlich. Versetzt uns das vorbildliche, das bestmögliche Verhalten also in ernsthafte Gefahr? Sollten wir es daher bestmöglich unterlassen? Es wäre eine Überlegung wert, jedoch wird unser eingangs genannter Jemand diese Überlegung nicht anstellen, da er ein äußerst pflichtbewusster Zeitgenosse ist.

Das optimale Verhalten beim Überqueren der Straße setzt sich nun aber fort, und unser Jemand (nehmen wir an, er sei nicht dem Feierabendverkehr zum Opfer gefallen) möchte seiner Freundin einen Heiratsantrag machen. Mit einem höchstselbst zubereiteten Candlelight-Dinner, roten Rosen, Kniefall und allem, was dazugehört. Unser Jemand ist schließlich Perfektionist. Allerdings steigt mit jeder entflammten Kerze die Gefahr eines Wohnungsbrandes. Auch vermögen fünfzig rote Rosen mehr zu stechen als dreißig, und ein Bänderriss kann dem Ungeübten bei einem Kniefall schon mal zustoßen. (Welch ein Glück wiederum, dass unser Jemand Perfektionist ist und zumindest den Kniefall dank wochenlanger Proben aus dem Effeff beherrscht. Beißt sich hier nun die Katze in den Schwanz? Oder doch eher die Maus den Faden nicht ab?)

Nehmen wir jetzt einmal aus Gründen der Wahrscheinlichkeitsrechnung an, dass unserem Jemand auch noch dieses neuerliche Gefahrenpotential, welches sein Perfektionismus mit sich brachte, nicht geschadet und er den Abend mit heiler Haut überstanden hat. Die Freundin hat im Übrigen Ja gesagt. Alles bestens, denkt er sich. Eine Weile denkt er sich das, ganze vier Stunden sogar. Bis ihm der Gedanke kommt, es sei immerhin an der Zeit, sein Glück mit der längst überfälligen Gehaltserhöhung zu krönen. Die möchte er am nächsten Morgen einfordern, doch das Büro des Chefs befindet sich in der fünften Etage, sein eigenes in der zweiten. Unser Jemand könnte den Fahrstuhl nehmen und sich damit diversen Risiken aussetzen. Aber das tut er nicht, denn Fitness hat bei ihm oberste Priorität. Er tauscht das eine Risiko gegen ein anderes ein, stürzt nun möglicherweise auf der Treppe und schlägt sich zwei Zähne aus. Ob seine Freundin, nunmehr Verlobte, ihn dann immer noch heiraten wollen wird? Und was wird dann eigentlich aus der Gehaltserhöhung?

An dieser Stelle wäre noch zu erwähnen, dass unser Jemand selbstverständlich nicht mit dem Auto zur Arbeit gefahren ist. Er nutzt – aus Gründen des Umweltschutzes – für weite Distanzen den öffentlichen Nahverkehr und für die relativ kurze Strecke zum Arbeitsplatz das Fahrrad. Somit setzt er sich im Vergleich zu einem Anderen, der seiner Umwelt und seiner Fitness keine übersteigerten Wohltaten zukommen lässt, weiteren erhöhten Gefahren aus. Wir erinnern uns – er wäre bereits als Fußgänger beinahe unter die Räder gekommen. Das Risiko eines Radfahrers, in einen für ihn tödlichen Unfall verwickelt zu werden, ist bedauerlicherweise um ein Vielfaches höher als das eines Autofahrers. Man könnte unserem Jemand hier einen Kompromiss vorschlagen, indem man ihm raten müsste, auch die kürzeren Strecken mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, in seinem Falle mit der U-Bahn, zurückzulegen, da dies die Umwelt nur in moderatem Maße belasten würde, gleichzeitig aber seiner Fitness ein nicht unerheblicher Vorteil entstünde, wenn er nicht als Radfahrer, sondern als U-Bahn-Nutzer einen Unfall hätte. Die Gefahr, in oder unter einer U-Bahn zu Tode zu kommen, ist im Vergleich zum Fahrradunfall als relativ gering einzustufen; ein U-Bahn-Unfall würde sehr wahrscheinlich nur aus einem Anrempeln des Nebenmannes beim Abbremsen des überfüllten Vehikels bestehen, was allenfalls einen blauen Fleck zur Folge hätte. Jedoch müsste der U-Bahn-Kompromiss natürlich durch eine tägliche sportliche Betätigung optimiert werden, die der grundsätzlich gesundheitsförderlichen Betätigung des Radfahrens entspräche; bei der Wahl dieser Betätigung wären unserem Jemand aus den uns mittlerweile wohlbekannten Gründen enge Grenzen zu setzen.

Es ließ sich allerdings, und auch hier muss die Wahrscheinlichkeitsrechnung bemüht werden, nicht dauerhaft verhindern, dass unserem Jemand etwas Unerfreuliches zustößt. So geschah dies vorliegend im Büro seines Chefs, nachdem der mündliche Antrag auf Gehaltserhöhung postwendend negativ beschieden wurde und unser Jemand, emotional beträchtlich aufgewühlt, beim Verlassen des Vorgesetztenbüros über ein Stuhlbein stolperte. (Eine nicht unerhebliche Rolle spielte hierbei, dass es sich um einen Stuhl handelte, dessen Designer die optimale Lösung für ein ansprechendes Äußeres hatte finden wollen und in der Folge die Sicherheit zugunsten der Optik vernachlässigte, indem er die Stuhlbeine in einer ausladenden halbmondförmigen Wölbung verlaufen ließ, mit der unser Jemand, der gewöhnliche Stühle gewöhnt ist, unmöglich rechnen konnte.)

Es ist beinahe schon überflüssig, zu erwähnen, dass mit eingegipstem Bein vom Radfahren Abstand genommen werden muss. Unser Jemand schwankt nun täglich auf Krücken zur nahegelegenen U-Bahn-Haltestelle. Seine Blutfettwerte haben sich mangels sportlicher Betätigung erhöht und setzen ihn dem Risiko eines verfrühten Todes aus. Ein Glück, dass er davon nichts weiß. Er denkt sich stattdessen: Wie gut, dass ich den stationären Zusatztarif bei der Krankenversicherung abgeschlossen habe. So habe ich im Krankenhaus die bestmögliche Behandlung genossen. Und in ein paar Wochen kommt der Gips ab, rechtzeitig vor der Hochzeit.