Grundlegendes zur Lyrik der Gegenwart

Essay

Autor:
Frank Milautzcki
 

Essay

Grundlegendes zur Lyrik der Gegenwart

„Auch der Lyriker wird nächstens ein Erkennender sein, ein Kämpfer; einer, der haltbare Grundlagen sucht, um ein Steigen der Glückschancen für Menschen zu berechnen; einer, der für das Fortschreiten der Menschheit morastlosen Boden sucht; jemand, der (ich weiß was ich sage) für die Entwicklung kämpft. Und das Ideal der Künstler, auch der Lyriker, wird sein: Aufrichtigkeit.“ Das schrieb der frühe Expressionist Ernst Blaß in den Vor-Worten zu seinem 1912 bei Richard Weißbach in Heidelberg erschienenen Gedichtband „Die Strassen komme ich entlangeweht.“ „Gute alte Stiefel, ausgelatscht und passen nicht mehr“, denkt man, wie einfach und pathetisch das alles noch war (tatsächlich nannten sich Heym, van Hoddis & Blaß 1909 im Hackeschen Markt damals „das Neopathetische Cabaret“) - Aufrichtigkeit ist ein Wort, das heute ganz verändert und dann bestimmt nicht leichthin geweht kommt und der Boden, auf dem der Lyriker zu stehen hat, ist morastiger als je zuvor, auch wenn er dem Anschein nach aussieht wie fester Asphalt und verläßlicher Beton. Was kümmert es, man schwebt sowieso darüber und die Entwicklung der Menschheit ist bestenfalls ein Thema für esoterische Spinner -  die experimentelle Avantgarde hat das Nicht-Verstehen zur Maxime ausgerufen und feiert das Abgedreht-Sein mit sprachlichen Pirouetten.

 

Aufrichtigkeit – dazu aufgefordert, ist dieser Essay entstanden, der zusammengerafft einen Rahmen entwirft, in dem man die Situation der heutigen Lyrik betrachten kann – nicht muß. Schon während des Schreibens tauchten zu vielen Sätzen gedankliche Erweiterungen und Fortentwicklungen auf. Es ist in etwa so, wie wenn zehn Leute um einen Gegenstand herum sitzen, sie werden alle etwas voneinander verschiedenes sehen, aber es wird immer derselbe Gegenstand sein. Der Aspektraum der Lyrik ist ungemein groß, kunstvolle Verwirklichungen darin sind mannigfaltig möglich und spiegeln den Menschen und sein atopisches Erleben.

 

Die psychische Grundsituation des Künstlers ist immer die eines Ergriffenseins und während die persönlich erlebten Wunder der Natur und ihre numinosen Ursprünge jahrhunderte lang der Katalysator für diesen Zustand waren, entdeckt der sich selbst umkreisende Mensch der Moderne neben der eigenen Seele auch den eigenen Abrieb, seine eigenen Schleifspuren und Reibungsflächen als Ansatzpunkt für den künstlerischen Akzent. Er betrachtet jetzt nicht mehr das natürliche Außen, wie es als Blütenwunder und Idylle, als unbeherrschbare Naturgewalt und Vulkanausbruch nach ihm greift und älteste Fragen und Dialoge in ihm anstößt, sondern neben dem subjektiven Innen ein nahezu ausschließlich menschengemachtes Außen, das ihn überall in das Kollektiv einreiht; es gibt kaum etwas, das nicht menschliche Spur enthielte, selbst Wälder, Felder, Gärten, Parks, Alleen, Flüsse. Auch im Schlaf durchpulsen ihn die hochgetakteten Strahlen eines nahen Sendemastes. Kauft er sich die Arbeitsjeans beim Discounter, dann sind sie von Kinderhänden in Indien genäht,  isst er ein Rinderhacksteak, dann rodet er damit Urwaldflächen in Südamerika. Immer erfassen und umfassen ihn die Arme des Kollektivs und das lädt ihn auf mit gemeinschaftlicher Schuld.

 

Das kulturelle Unbehagen stößt sich mit dem persönlichen Ergriffensein, von dem der Künstler eigentlich erzählen will. Er ist bis in kleinste Lebensdetails so vereinnahmt und durchdrungen von der Menschenwelt und aufgeladen mit Schuld, daß der Künstler sich dieser Vereinnahmung nur noch erwehren kann, indem er sich abwendet und der Nigredo ausliefert. Die Zerreißungen und Zerstückelungen der Kunst der Moderne und Postmoderne sind ein Abarbeiten der Umgebungsschuld, ein Freiarbeiten aus der Un-Welt der Menschen, die alles Paradiesische nie besaß und längst verlor. Die vielen destruktiven Elemente, die Dissonanz, die an die Stelle des Schönen trat, das unbewußte Sinnbild des Fetten und des Filzes, der Tabubruch, all das sind Zerhauungen jener Knoten, mit denen wir unsichtbar in das Kollektiv eingebunden sind, Zerhauungen, die uns frei und wieder zu eigenen Menschen machen sollen. Notfalls in der Schwärze und im durch Zerstörung erzeugten Chaos, im Untergrund, im Abseits.

 

Die Turbulenz stört den Fluß der Masse. Der Künstler will diese Turbulenz im Außen. Er will auch ein neues Innen, die Möglichkeitswelt seiner Kunst. Als Störelement ist sie die Währung der Rückzahlung von im Kollektiv erlittener Ignoranz seinem wirklichen Ergriffensein gegenüber. Er kündigt den Friedensverlockungen der Masse, die sich per Angleichungen und Setzungen niedriger Niveaus ein tumbes, breiiges Aggregat der Zähheit für sich erhofft, und versucht den Frieden mit der Welt auf eigene Weise. Indem er sein Ergriffensein untersucht und parallel dazu Verfahren entwickelt, die kunstvoll sind und die ihn aus einer drohenden Lebensimpotenz befreien (denn dort will ihn der Dauerdruck des Kollektivs sehen: im Loch der Selbstzweifel).

 

Wenn er künstlich = künstlerisch Turbulenzen erzeugt, die seine Wehrhaftigkeit und sein Behaupten (seine Behauptung in Form des Gedichts) weithin anzeigen, wird er zum kreativen Freigeist und für das Publikum zum Held des Ergriffenseins. Je mehr die verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen einen insgesamt inhomogenen Massenfluß erzeugen, der nur noch schwerlich die sozial zerfetzten, chaotischen, randstrebenden Teile zusammenhält, um so mehr muß der Künstler seine Turbulenzen auf dem Grund ansiedeln (und dort einen Stein des Anstoßes finden) und um so lauter und extremer ausgebildet muß er sie lostreten. Nicht jeder ist der Typ dazu. Der stille Introvertierte wird in einem auf medialer Potenz bestehenden Genre keine Erfolge mehr feiern, sofern er nicht das Klappern lernt. Auch im Literaturbetrieb sind längst die Performance und die Selbstdarstellung Gang und Gäbe. Manchmal muß der Text die Aufmerksamkeit bringen. Vieles, was unter dem Label „experimentell“ läuft, ist „Lautsprache“ im doppelten Sinn: eine Sprache die sich mehr dem Lauthaften, dem Vortrag, dem Klang widmet und dabei aber auch lauthals zu Werke geht. Das „Experimentelle“ dient zum einen der Loslösung aus „bereits verseuchten Gebieten“, dann aber auch der Bemerkbarmachung und Abgrenzung, der Unterscheidung und ist der Herbeiführer von Eigenart. Je mehr ich mich von Vorgängern und Zeitgenossen zu unterscheiden fähig bin, umso größer sind meine Chancen wahrgenommen zu werden.

 

Der zur Kultfigur avancierte, früh verstorbene Thomas Kling bspw. wollte mit seinen Texten hörbar sein und in seinen Sprachinstallationen, wie er seinen Gedichtvortrag nannte, in Bereiche vordringen, die bei herkömmlichen Präsentationen unberührt blieben: ins Klangmagische, den Injektionen von Laut und Ton in unser Halbbewußtes und tiefer. Schließlich berühren wir hier die Ursequenzen der Sprache, ihr Auftauchen aus dem die Grimasse begleitenden Laut, der den Artgenossen warnt oder fordert. Der Klang ist viel direkter und konkreter erfahrbar als die in Schrift abgelegte Sprache. Er versiedelt das Geschriebene ins Außen und ins Jetzt. Er wird zum Ereignis und zum Erlebnis. Aus dem Gedicht wird Liedgut – so geht die Welt! Für wen auch immer, der sich verbirgt im Dichter Thomas Kling. Auch hier gibt es die Begegnung mit dem Numinosen. Nur ist es nicht mehr der blühende Pfirsichzweig und das Wetterleuchten im Norden, sondern die im Inneren verortete transpersonale Kraft und Gewalt, die sich gegen das Erkalten des Ergriffenseins und der Verflachung des eigenen Weltgefühls wehrt mit Gedichten und davon ein Liedchen singt.

 

Ganz im Gegensatz zur damals gültigen experimentellen Literatur will Thomas Kling den Textkörper sinnlich aufladen. Der programmatischen „Sprachzertrümmerung“ und Reduzierung auf serielle Strukturen und Permutationen, setzt er Alltagssprache und Oralität entgegen. Er will die Echtzeit und will sie klingen lassen. Dafür spürt er  aufrührerisch einer neuen phonologischen Bewußtheit nach und setzt sie um, indem er lautgetreue Schreibweisen anwendet und durch geschickte Trennung über Verse hinweg Bestandteile von Worten zu onomatopoetischen Interjektionen transformiert. „Mit dem jungen Thomas Kling hatte ein Dichter die Bühne betreten, der so gar nichts gemein hatte mit den nuschelnden Alltagsrealisten, die in diesen Jahren die Poesie beherrschten. Plötzlich war ein Autor aus dem Nichts aufgetaucht, der Sprache wieder ihren Körper, ihre sinnliche Materialität zurückgab.“

beschrieb Michael Braun die Wirkung des ersten Auftritts von Thomas Kling in den Wiener Margaretensälen im Januar 1983. Wien war damals ein Brennpunkt des Experiments in der Literatur. Thomas Klings Wirkung gründete nicht nur in seinen Performerqualitäten, sondern auch in einem davor unbekannten, auch formal neuartig umgesetzten Flipperspiel zwischen Innen und Außen. Plötzlich ist Subjektives zum Sprachmaterial geworden, das bespielt wird. Als würden zwei voneinander getrennte Programme nun gleichzeitig ausgeführt. Das Ich und das Gedicht, dieses aber in den Loipen des Experimentellen. Hier ist deutlich der Einfluß von Reinhard Priessnitz zu spüren, der den Schritt der Re-Poetisierung der Avantgarde längst gegangen war „kunst ist ein versuch, freiheit zu erringen und sie im weitesten sinne des wortes zu erhalten. das erfordert die unterminierung der normen und das überwinden von erwartungen. das schreiben von dichtung ist ein ausdruck der unbefriedigtheit mit dem gedankenlosen konsum von alldem, was am verbrauchermarkt angeboten wird.“ ( Reinhard Priessnitz in einem Interview mit Beth Bjorklund, 1982).

 

Die Avantgarde ist immer zunächst ein Kind der Aporie, der Ausweglosigkeit und der Ratlosigkeit. Sie ist gekoppelt an das Innehalten und einer einsetzenden Veränderung des Blicks und wird erst dann zum notwendigen Schritt heraus aus dem Stillstand und der Beklemmung. Wenn die Umwelt den von seinem Ergriffensein geprägten Künstler in den tradierten, aber auch schon in den aktuellen Künsten bedrängt, weil sie bereits vom Kollektiv assimiliert und vom Wirtschaftsapparat in monetär lohnende Kanäle umgeleitet wurden und in diesen Formgebungen bereits Scheitern und Schuld spürbar werden, dann kann er sein Ergriffensein noch immer kanalisieren in andere Gegenden, die er alleine betritt, indem er die Eigenrotation stoppt und neue zusätzliche Dimensionen erkundet und mit einer eigenen Schlüsseltechnik erschließt. John Cage hat in seinen Anfängen an alten, ausgedienten Klavieren herumgebastelt, veränderte die Klänge des Instruments indem er Tücher, Schwämme, Schrauben im Innern installierte. Er betrat denselben Ort, mißachtete den Kanon und stellte in Frage.

 

Die Avantgarde hält inne und muß zunächst ratlos werden. Es gibt ja keinen Kompaß außer der Selbstbeobachtung und dem Hinterfragen des Bestehenden. Eine Expedition in den Zweifel: was ist noch verläßlich an der Kunst und was verläßlich auf dieser Welt. Was erkenne ich, wenn ich dem Massenfluß widerstehe und allem, was von ihm mitgerissen wird. Was begegnet mir dann noch, das mich tief ergreifen kann. Und wie kann ich mein atopisches Gefühl in einem neuen, eigenen Flow als Turbulenz dagegensetzen. All diese entscheidenden Fragen stehen am Anfang und deshalb ist jede Kunst eine Form von Behauptung. Eine sehr persönliche Behauptung, denn sie formuliert sich je nach den Koordinaten, die man im inhomogenen Massenfluß einnahm. Jene Stelle, wo die surround-Beschallung mit den vorformulierten Antworten des Kollektivs die besondere Art meines Widerspruchs erwirkt, je nach Sozialisation und Lebensgang. Sie ist kontextgebunden und nicht verbindlich für alles und jeden. Am Stein des Anstoßes verwirklicht der Künstler ein Experiment, das mit jener Umgebung und jenen Zutaten auskommen muß, die er vorfindet.

 

Wer in den Arbeitersiedlungen der Bronx Party feiert und Langeweile musikalisch vertreiben will, kommt vielleicht auf die Idee die gerade laufende Schallplatte in ihrer Dauerdrehung zu stören. Ungefär so geht die Geschichte des Scratchings, das rotierende schwarze Scheiben auf dem Plattenteller kunstvoll stoppt und startet. Es ist der bewußte Eingriff in den gewohnten Lauf der Dinge, um aus dem Zerkratzen eine neue Instrumentalsprache zu gewinnen, weil anderes „Musizieren“ nicht machbar war. Abgehackte und vom runden Lauf ferngehaltene Normalität kennzeichnet das Hip-Hop Gefühl, der Rap tritt hinzu, die neue Poesie, in Abrißhäusern in die partyfeiernde Masse hineingereimtes Sprachstaccato. Der runde Sound wird als Illusion zerstört und dem eigenen Lebensgefühl angepaßt. Der gewohnte Ablauf der Dinge wird direkt und ohne Umweg zerstört und durch diesen Prozeß nicht nur überwältigt, sondern auch be-wältigt, weil instantan Neues daraus hervorbricht während des Akts der Herrschaftsübernahme.

 

Wenn die Einstürzenden Neubauten ganz am Anfang ihrer Karriere nicht aus Geldnot ihr Schlagzeug hätten verkaufen müssen, wäre aus ihnen nicht das inspirierende Konsortium geworden, das es heute noch ist. Sie ersetzten damals die fehlenden drums mit Schrott und Alltagsgegenständen und ertrommelten sich darauf eine private Inszenierung von apokalyptischen Visionen und frühen Erspürungen der Unzeit, wie sie so nur im Kontext Berlin der 80er Jahre möglich war. Aus dem Verlust und dem vermeintlichen Niedergang wurde bei Innehalten und genauer Betrachtung eine Chance: elektrisch verstärkte Stahlspulen, Fässer, Bohrmaschinen, Hämmer, Sägen, Rasierapparate, ausrangierte Flugzeugtriebwerke gaben eine neue, überraschende Antwort auf ihre kontexteigenen Fragen in einem sie umgebenden „Haus der Lüge“ (ein Titel aus der gleichnamigen LP von 1989, in dem sich auf dem Dachboden Gott durch den Mund in den Schädel schießt).

 

Es ist also nicht nur von Belang welchen Fragen sich ein Künstler aussetzt, sobald er sich  quer stellt und Turbulenzen auslöst, sondern vor allem auch, was ihn als Lebenszusammenhang dort umgibt. Ulf Stolterfoht erzählt in seinem Aufsatz „Nochmal: Avantgarde und experimentelle Lyrik“ sein allmähliches, nicht irritationsfreies Hineinwachsen in die Theorie und Praxis dieser vermeintlichen ästhetischen Revolutionen zunächst über das Studium allerhand einschlägiger, als experimentell geltender Autoren, bis ihm nach dem Lesen von Helmut Heißenbüttels „Zur Tradition der Moderne“ endlich klar wird, „dass es bei den Scharmützeln rund um den Avantgarde-Begriff nicht um Literatur und ihre Entwicklungsmöglichkeiten, sondern um Positionierung und Meinungshoheit ging – Machtkämpfe auf einem sehr überschaubaren Feld.“  

 

Also um Behaupten und Behauptungen. Eine Erkenntnis, die beinhaltet, daß quasi jeder, der zu einem eigenen Standort vordringt und sich nicht in vorherrschende oder aufkommende, oder sich anbahnende Strömungen einklinkt, der also eigenen Boden unter seinen Füßen zu spüren bekommt und nicht weiter vom Fluß der Zeit vertrieben wird, Mittel und Möglichkeiten ausspähen kann, mit denen er seine atopischen Gefühle auszuleben im Stande ist. Es gibt kein Rezept. Stolterfoht mußte in sich erst ein Umfeld erstellen, indem eine Behauptung lohnt. Die einst dünn besiedelte experimentelle Lyrik mit ihren ganz verschiedenen Ausprägungen mußte ihm zu einer Landschaft werden, in die sein eigener Fels paßt. Das erfordert genaue Ortskenntnis und jede Menge Zeit, das erfordert Erkundungslust und Hingabe, es ist schließlich ein spezielles Gebiet mit eigentümlicher Topographie. Jede Spezialisierung ist zeitaufwendig, erfordert langes und intensives Studium und ausreichende Gärzeit im Innern. Das begrenzt die ausführende Klientel der experimentellen Dichtung von heute auf Menschen, die in ihrem Zeitmanagement diese Kontingente zur Verfügung haben. Meistens sind es studierte/studierende Leute.

 

Während sich der „nicht-experimentelle“ Lyriker um Erkenntnistiefen bemüht, die sich mit Hilfe der Sprache finden lassen und ausdrücken sollen, hat der „experimentelle“ Lyriker Stolterfoht’scher Prägung mit Flächen zu tun, Auswalzungen und ambient landscapes. „Struktur pur“ fordert er. Ihm fehlen die Dimensionen in denen die seelischen Rhizome mit der Vererdung des Weltraums konfrontieren, also das Hineinreichen in die Tiefen des Seins. Schon in der Gebärde des Langgedichts liegt das Walzen, das Verbreitern, das Verbauschen offen. Die Sprache wird zum Ersatzfeld der Erkundung, das Verstehen von Welt entfällt, getragen von der insgeheimen Hoffnung, es gehöre dennoch zum Funktionskreis der Sprache als numinoser Teil des Ganzen die metaphysische Anbindung zu halten (und diese Hoffnung ist berechtigt).

 

Einige dieser Dichter bilden „ein durch Vitalitätsneid und akademischen Rabulismus geprägtes Lager, das sich autoerotisch an einer ächzenden Artifizialität abarbeitet und seinen Mitgliedern die leere Gemütlichkeit ausgeträumter Avantgarden als Aura in Aussicht stellt.“, wie das Gerhard Falkner in seiner Huchelpreisrede 2009 ausgeführt hat. Man versteckt sich hinter dem Werkzeug, mit dem man eigentlich hineingreifen soll in diese Ungeheuerlichkeit, die das Leben nun mal ist, und definiert die Sprache um zum Selbstzweck. Das Gedicht ist also Material Sprache? Nein, es ist bedeutend mehr. Es ist zwar aus Sprache gemacht, so wie ein Gebäude aus Stein gemacht ist, aber es ist auch gemacht aus dem Willen und der Persönlichkeit und der Lebendigkeit desjenigen, der es schrieb und enthält implizit die poetologische und in ihr die psychische Lebensgebärde des Dichters.

 

„Das Verstehen in der Lyrik hat der Teufel gesehen“. Auch das hat Stolterfoht ausgegeben. Ein ziemlich schwach sinniger Satz. Das Verstehen ist noch nie Hauptbestandteil moderner Lyrik gewesen. Wenn es tatsächlich darauf ankäme, dann sollten Lyriker Fachbücher schreiben und Tabellenwerke verfassen. Es geht ja genau nicht um das gewöhnliche Verstehen, sondern um das Hören auf in anderer Weise nicht Sagbares. Es gibt Tiefenstrukturen und Weltverhältnisse innen wie außen, die sich nur poetisch darstellen lassen und unbedingt der  poetischen Zusammenführung von sprachlicher, bildhafter, melodischer, sinnlicher Semiotik (also auch von Zeichen, die wir in viel älteren Schichten unserer Psyche zwar unbewußt, aber ganz handfest verarbeiten) mit dem verstandbetonten Denken bedürfen. Es geht also um ein besonderes, dem Maß des nur Intellektuellen entzogenes „Verstehen“, das uns die gedichttypischen Glücksgeschenke machen kann, weil es weithin Verstreutes zusammenbringt und Überwuchertes freilegt und neu in einen Zusammenhang stellt oder solche Zusammenhänge erst sichtbar werden lässt. Die Poesie als Hyper-Dimension semiotischer Wirklichkeiten, in der voneinander anscheinend unabhängige Richtungen und Topoi zusammengehörig erlebt werden können, womit eine besondere Erkenntnisform einhergeht.

 

Das Gedicht wird im Rahmen dieser Dimension erfahren und nicht „verstanden“. Es hat seinen eigenen flow und der Leser kann dieser Bewegung folgen oder nicht. Je verkrampfter und artifizieller und ohne poetische Notwendigkeiten (ein Begriff, den wir Felix Phillip Ingold verdanken) der Dichter seinen Text gestaltet, umso schwieriger wird es jedoch für den Leser. Je weniger das Gedicht in freien, sondern schon im Dichter erzwungenen Räumen entsteht, umso unzugänglicher wird es. Das Ächzen kann sich verstecken hinter sprachschatzgestützter Eloquenz und grammatischer Bravour. Man liests und versinkt entweder kapitulierend in einer unehrlichen Hochachtung vor der wortgewaltigen Demonstration oder schmeißt das Buch nicht ohne anhebende Selbstzweifel verärgert in die Ecke.  

 

Das Verstehen in der Lyrik ist wie das Verstehen von Gebärde ein intuitives, von Sympathie getragenes und der Leser will nicht das verständliche Gedicht, sondern das in den Tiefen authentische. Da kann es verschlüsselt sein wie es will und ist trotzdem gewinnbringende Lektüre. Ist es eine in unklaren Absichten aufgesetzte, überzogene Spielerei, eine Scharteke, dann wird der Leser auf den Oberflächen herumschliddern und bestenfalls handwerkliche Klasse bewundern können (was zugegeben manchem auch schon wieder Gewinn bringt). Es kommt tatsächlich nicht auf das Verstehen des Materials Sprache an. Das Wörtliche ist nicht der Sinn des Gedichts.

 

Insofern ist Stolterfohts Satz ein Allgemeinplatz, den er aber besetzt, um ihn auch für sich und seine Texte zur Verfügung zu haben. Gerade seine Gedichte wollen ja nicht verstanden sein in irgendeinem herkömmlichen Sinne, sondern erfahren werden. Sie wollen den Verbündeten, der sich einlässt und Stolterfohts Begeisterung und Vorlieben teilt. Sie wollen den Zeugen, der das unbeabsichtigte Entstehen des Unnachahmlichen und Anderssinnigen bekundet. Stolterfohts Statement ist eine Verteidigungsrede, aber vielleicht auch eine Erinnerung an sich selbst, abzusehen von allzu konstruiertem Nebel und seinem Zuviel an undurchsichtigem Material, um endlich das Gedicht wiederzuentdecken, das ihn durchfließt und dabei authentischere Zeichen herausreißt, als die aus fremden Fachsprachen geborgten.

 

„Dass man wohlgeformte Texte liest und man merkt, die Syntax ist in Ordnung und es gibt eine Semantik und man versteht absolut nichts. Das fasziniert mich immer noch, das finde ich unglaublich ...“, bekennt Stolterfoht in einem Interview in der ZEIT im Januar 2008. Sein Credo: das experimentelle Gedicht hat sich um die Sprache zu kümmern und nur um die Sprache. Dabei kürzt er die Gleichung der Poesie, wie wir sie oben aufgestellt haben, und sie wird zweidimensional. Das Gedicht geschieht nicht mehr in dem mehrdimensionalen poetischen Raum, der auch das ungeschützte Ich enthält und seine Bezüge zu den wesentlichen Untiefen der Welt. Es verflacht zu einer sprachlichen Etüde - Wortmaterial auf einem Blatt Papier. Die zweidimensionale Poesie verbindet das Willkürliche mit dem Nutzlosen. Sie wirkt unpersönlich und kalt.

 

In unserer obercoolen Welt haben ja viele, die den abgeklärten Auftritt wollen, die Ästhetik der glatten, kalten Flächen auf ihre Denklandschaften übertragen und psychische Erhebungen und Vertiefungen weitgehend tabuisiert. Intelligenz und Coolness als Ausweis des erwachsenen, fortgeschrittenen Überwindens. Betroffenheit als lächerliche Rückständigkeit der Kinderseelen. Kühl bleiben heißt, das Erhitzen nicht zuzulassen. Überhaupt nur zuzulassen, was klaren Linien und Strukturen folgt, definiertes Sein in genauer Landschaft. Das Ungewisse soll, wenn es denn auftaucht, ein Spiel sein, dessen Regeln man selbst bestimmt oder klar beherrscht. Die Welt wird zu einem flachen kalten Bildschirm auf dem die Lebenserstreckungen sich mit geistigen Mausklicks scheinbar dreidimensional realisieren, während ein Kühler die Prozessoren fit hält. Cool down.

 

Es gibt aber auch eine ganz natürliche Hinwendung zur Klarheit als Schutzreaktion auf die bunten Störsalven und lauten Popups im gobal play. Wem alles ständig um Augen und Ohren poppt, ist froh um einfache Zeiten in einfachen Räumen. Das ist hier nicht mit „cool“ gemeint. Sondern die vor sich her getragene strategische Attitüde, die aus dem Beschnitt folgt, der selbstvollzogenen Kastratur.

 

Klarheit ist immer notwendig, damit es in unseren Gedichten um etwas gehen kann. Coolness, wenn es in den Gedichten nur noch um Sprache geht. Die irgendwann nicht mehr wortgewaltig genug ist, um ausreichend Turbulenz zu erzeugen und also Zulieferungen braucht aus Fachsprachen oder Slang. Und dann aus Listen und Wörterbüchern, und dann aus Tabellen und Verzeichnissen, und dann aus Sammlungen und Lexika und Bibliotheken. Das Gedicht als Sprachfraß. Der übernutzten und ausgeweideten Sprache wird neues Material zugeführt, aber es gibt kein neues Sprechen. Der Verbrauch an Worten steigt, ohne daß damit mehr und anderes gesagt wird (am besten nämlich gar nichts, hofft Stolterfoht). Das Spiel mit dem Nichts kann kaum überhitzen, nicht einmal als solistisches Gedudel, solange ein Kühler den Spieler fit hält. Cool down und laß dich nicht beim Zweifeln erwischen.

 

Der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Gedicht wäre aber nicht das Herunterkühlen und der Aufenthalt in der zurückgenommenen Temperatur, sondern ob es dem Dichter gelingt einen klaren Spalt zwischen sich und seinem Gedicht zu schaffen, um als Mittler dazwischen zu fungieren. Er spaltet das Gedicht ab und betrachtet es und spaltet gleichzeitig „das andere Ich“ von sich ab und betrachtet von ihm aus sein Selbst und aus dieser zweifachen Distanz kann er einerseits Temperatur messen und diese andererseits ins Gedicht übersetzen. In genau dieser Richtung interpretiert Grünbein Descartes. „Ich denke also bin ich“ – Das Denken macht uns ein Ich, das unser anderes, das körperlich manifeste beobachten kann. Und Beobachtung heißt nicht Abkühlung, Distanz nicht Unbeteiligtsein. Lava kann man nur aus der Distanz ertragen, aber dabei fasziniert betrachten. Ähnlich ist es mit psychischen Eruptionen. So zu tun als gäbe es ein Seelenleben nicht und alles Psychische mit Tabu zu belegen, mag der eigenen Coolness förderlich sein, ist aber eine klare Amputation.

 

 

 

Die Lyrik, die sich nur um die Sprache kümmert und wie der Uroboros selbst in den Schwanz beißt, ist eine Lyrik, die sich selbst wahrnehmen will. Volker Demuth verdanke ich einige wertvolle Hinweise auf Kreisläufe und das Wort Turbulenz (man lese seinen bemerkenswerten Essay „Rotationen“,  über die zentralen Figuren der Drehung, der Schleifen und Kreisläufe).  Ich stelle mir die Frage, ob wir nicht alle unter einer Verwirbelung, einer Überdrehung leiden, die uns dem Boden entreißt, unsere Wurzeln kappt. Eine Drehung erscheint ja nur dann sinnvoll, wenn sie unserer Position im Licht hilft und wir dabei aber verwurzelt bleiben können. Wie das die Pflanzen machen. Aber wir  überdrehen und zerreißen unsere Bindung. Auch wenn unser Geist mit den Yedi durch fernste Galaxien treiben kann, wir sind als Wesen dennoch vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Weltboden verbunden und tragen diese Erdung nicht nur als „übles“ Erbe, sondern auch notwendige Verankerung in uns. Haltlosigkeit macht krank. Überdrehen zerstört das Gleichgewicht. Das ungeerdete Ich ist wesentlich gefährdeter in starker Eigenrotation zu verdriften, bei der es nur noch um sich selbst geht, weil es ganz ohne Zeit, Raum, Schweiß und Erde auskommt, eine imaginäre Existenz, die sich nicht bewähren muß am Realen.

 

Dennoch: auch das ausschließlich auf Sprachstrukturen konzentrierte Gedicht enthält unter seinem Laborkittel ein kybernetisches Ich und ist von seiner Genese her genauso eine Gebärde wie der individuelle Gang. Jedes Gehen enthält den Ausdruck der individuellen Körperbeschaffenheit, und auch das, was der Gehende in seiner Ganzheit von der Welt zu „verstehen“ glaubt, sein innerstes Bild vom in die Welt gesetzt sein, das sich nun äußert. Das „im Stande“-Sein zu gehen (ein Koan), das jeder nur von seinem eigenen Ort aus kann. Das Ver-Stehen ist auch ein Sich Hinstellen und Behaupten und wer das Ver-Stehen dem Teufel überlässt, der kapituliert vor der Welt. Womöglich ver-stellt er sich und bringt sich in Sicherheit.

 

Es gilt, was Matthias Politycki einmal sinngemäß schrieb, daß man aus der Kleidung seines Gegenübers Rückschlüsse über die Art von Gedichten, die er schreibt, ziehen könne. Zeig mir deine Schuhe und ich sag dir wie du dichtest. Es ist eine Frage der Aufmerksamkeit und der Erfahrung. Gute Wahrsager/innen verfügen über solche inneren Scanner, mit denen sie Menschen erfassen und lesen. Wobei wir beim Thema Lesen wären - und reden dabei nicht über geschriebenen Text. Es gibt Texte, die uns deutlich vor Augen stehen und uns vielfältige Informationen vermitteln, die wir selten in Worte fassen (können). Es sind Texte, die andere und tiefer in uns angelegte Sprachen benutzen, die wir teils instinktiv, teils intuitiv, teils völlig unbewußt verstehen und die insofern mit unserem Thema zu tun haben, weil gerade die Poesie es immer war, die Verstrebungen der Schrift/Sprache nach dorthin leistete und die selbst in Stolterfohtschen Gedichten regieren, wo er Assoziationskaskaden zu Strophen auseinanderschneidet. Daß sie nach der Niederschrift dem Erzeuger bisweilen genauso unverständlich scheinen, wie dem Leser, sagt nichts über individuelle Notwendigkeiten, die in ihnen enthalten sind, Unausweichlichkeiten und Fetzen seelischer Speicher, über eine wichtige, kaum zu entschlüsselnde Logik. Die Sprache malt beständig ein Selbstbild und wir wissen davon nur wenig. Aber wir spüren, wenn wir alles loslassen und die Sprache nicht mehr kontrollieren, daß sie von sich aus Dinge findet, komponiert, daß sie das Brüten und Bohren, das Klopfen und Sägen in uns umsetzt in geistreiche Bilderfolgen, daß sie von allein Sätze findet, die wir als Geschenk begrüßen. Auch Ulf Stolterfoht lässt los und lässt sich von der Sprache beschenken, das ist der eigentliche Sinn seines Satzes mit dem Teufel und dem Verstehen. Eigentlich will er sagen: hört auf eure Sprache zu kontrollieren, sie findet von alleine zum Gedicht. Man kann diesen Satz auch anders sagen: Hört auf, euch zielgerichtet zu betrachten, sonst gibt es keine Geschenke.

 

Es ist möglich das eigene Spiegelbild durch innerpsychische Vorstellungen in seinem Ausdruck zu verändern - die Art, in der ich mich betrachte, und zwar innerlich betrachte, verändert auch das aufscheinende Bild. Wir sind alle in gewissem Umfang gelernte Schauspieler. Vor allem vor dem Spiegel. Das Ich generiert die entsprechende Identität und der Körper setzt sie als lesbare Gebärde um. Das ist ein Erbe aus unserer "vorsprachlichen" Zeit, als wir noch in viel höherem Maße über Mimik und Blick kommunizieren mussten. Es ist erstaunlich, wie viele unterschiedliche Muskeln uns zur Verfügung stehen, um kleinste Regungen im Gesicht vollziehen zu können und damit eine große Vielfalt an Mustern zu erzeugen. Das Gesicht allein ist ein wundervoller Schauplatz signalgebender Details, von der aufgeblasenen Backe über die gerunzelte Stirn bis zum zwinkernden Lid. Und auch der Blick, in dem die Antike eine Art Scannen vermutete (man dachte das Sehen als Abschicken eines kegelförmigen Sehstrahls, der die Dinge der Welt anfasst), kann schmeicheln, ermahnen oder sprichwörtlich töten..... Diese nonverbale Sprache ist sehr viel umfassender, als es uns im Alltag bewußt wird, weil wir sie nicht mit Worten verstehen müssen. Über sie müssen wir nicht nachdenken. Sie ist angelegt, in Sekundenbruchteilen stimmige Reaktionen herbeizuführen. Und sie umfaßt unsere ganze Erscheinung, die auf den ersten Blick unbewußt oft mehr über uns verrät als jeder Wortwechsel.

 

Das ist auch die Art in der Tiere uns betrachten und einschätzen. Einem Hund wird man nicht vortäuschen können, man sei ohne Angst. Er spürt, riecht, sieht die Angst. Marc D. Hauser berichtet in seinem Buch „Wilde Intelligenz – Was Tiere wirklich denken" von einem Pferd, das ihm gestellte Rechenaufgaben, die man ihm auf einer Tafel aufschrieb und präsentierte, richtig lösen konnte und das kundtat indem es genau abgezählt mit den Hufen scharrte. Eine verblüffende Fähigkeit, die selbst unabhängige Gremien beeindruckte. Man kam und kam dem Pferd und seinem Halter nicht auf die Schliche – ein offensichtliches Wunder war geschehen. Bis man ergründen konnte, wie das Pferd zu seinen Ergebnissen kam. Es beobachtete die Anwesenden und „las" in ihrem Blick und ihrer unbewußten Mimik, wann es mit dem Scharren aufzuhören hatte.

 

Viele unserer Gefühle und die im Dunkel des Unbewußten anwesenden psychischen Abläufe unserer eigenen animalischen Sphären sind Tieren ein offenes Buch. Während sie von unseren sprachlichen Lautkaskaden kaum mehr als melodiöse und rhythmische Hinweise auf unsere Stimmungen und Charakterbilder erhalten, erfassen sie den kompletten Menschen sehr schnell bis hin zu gestörten Energieflüssen und seltsamen Verknotungen wie Krebs.

 

Ein Wissen, das wir auch haben, uns nur zu oft unter unseren monologischen Weltbetrachtungen wegsickert. Der Anblick eines Menschen erzählt uns Märchen, Tragödien und unendliche Geschichten. Wir können einander lesen ohne Worte zu benutzen. Da sind Eindrücke, als wäre die Welt eine Art Plasma und wir analysieren die Passform. Das geschieht bildhaft und oft nicht ohne Zauber. Herausgelesen aus Kleidung, Geruch, Teint, dem Schwung eines Lidstrichs. In Bruchteilen einer Sekunde erfahren wir von unserem Gegenüber, ob dieser ein möglicher Partner sein könnte; „ob wir ihn riechen können" sagt uns sein Geruch. Das alles stammt aus dem Leben „vorsprachlicher“ Ahnen, das in uns als unbewußte Schicht unserer Seele aufgehoben ist. Der instinktsichere Mensch vertraut darauf ohne Zweifel (der urbanisierte U-Bahnfahrer verdaut seine Zweifel und spiegelt sich falsch). Die Liebe funktioniert schnell und handelt noch bevor ein Satz gesprochen ist.

 

 

 

Uns selbst betrachten wir weniger intuitiv, da in uns Querverweise in unsere Historie eine eigene Gerechtigkeit installieren und unsere Handlungen begründen. Wir sehen uns geschichtlich und wissen in uns den Traum und das Wollen. Also reden wir mit uns und argumentieren. Wir spiegeln uns denkend und wir sehen das Denken an uns und hören es gleichzeitig in uns. Als wären wir aufteilbar in ein äußerliches Manifest und ein inneres. Wir sprechen mit uns vor dem Spiegel.

 

Wir sprechen dabei mit der Welt. Mit jedem Körperausdruck und jeder Handlung geben wir der Welt Antworten.. Wir sind als Person Weltantwort und die Welt liest uns. Wenn wir uns zurückziehen und an einem Gedicht herumbasteln, dann ist das eine Antwort, die wir der Welt geben. Wenn das Gedicht nichts enthält als Spielerei, dann ist auch das eine Antwort, die wir der Welt geben. Wir sagen ihr damit, daß wir begriffen haben, daß man mit Sprache spielen kann (aber wir sagen ihr damit auch, daß es uns scheißegal ist, ob die Welt selbst dabei vor die Hunde geht).

 

Was ist denn nun eigentlich Sprache?

 

Von Wittgenstein stammt der bemerkenswerte Begriff des Sprachspiels, den er für das Denken anführt. Worte sind darin bewegliche Teile und nicht endgültige, gottgegebene, heilige Spiegel des Logos. Sprechen (und damit auch Denken) ist eher eine spielerische Tätigkeit als ein geordnetes Abrufen tiefer geistiger Begebenheiten von genauer Zurichtung und allgemeiner Gültigkeit. Sprache blitzt auf, beleuchtet Verhältnisse, durchmisst Dunkel. Es ist tatsächlich Neuronenfeuer, das erregte Worte (und Bilder) an Photonen geheftet durch den innerlichen Kosmos schleudert.

 

Die Wahr-Nehmung im Mensch ist nicht nur der sinnliche Empfang eines Reizes, wie man das reduktionistisch denken kann, sondern untrennbar von jenem Prozeß, bei dem diese Blitze ein Geflecht angetriggerter Neuronen und mit diesem Netz eine Art Raum erzeugen, in dem sich sowohl der empfangene Reiz aus der wirklichen Welt, als auch unsere innere Reaktion darauf quasi gemeinsam einschließen lassen und darin zum Er-Innerten koagulieren. So wird die Welt für uns wahr. Dieser Raum ist, vereinfacht gedacht, eine Art Stempelnegativ, in dessen Form unsre Weltreaktion hinterlegt ist. Die Stempel-Formen sind unendlich variabel. Und kein Mensch gleicht in seinen Worten und Begriffen einem anderen. Zwar ist die Sprache das Instrument des Formaustauschs, aber auch jedes noch so klar durchdefinierte Wort hat in jedem Menschen einen nur zu ihm gehörigen Stempel, ein neuronales Muster mit Möglichkeitsräumen und Anknüpfungspunkten, das ganz und ausschließlich zu ihm gehört.

 

Von entscheidender evolutiver Bedeutung ist die Stimmigkeit des durch dieses Tun gewonnenen Ein-Drucks. Daß das im Außen „ Gelesene“ mit dem Verinnerlichten möglichst übereinstimmt. Daß wir das ausgelesene Muster richtig er-innern und mit seiner Hilfe einen stabilen Kontakt, eine stabiles Zwiegespräch mit dem Außen aufbauen können. Denn dazu ist die Sprache ursächlich da, einen Dialog mit dem Außen zu führen, nicht mit dem Inneren. Dazu haben sich die Sinne entwickelt, die uns mit Input und Durchfluß versorgen. Den wir durch Schlaf immer wieder unterbrechen müssen, um an der Fülle nicht kirre zu werden, und wo uns Bilder und Filme den herausgefilterten, bewußtgewordenen Teil ergänzen um innere, interne Bedeutung.

 

Das Erinnern braucht zeitlich einen Anfang und ein Ende, damit wir zu unterscheidbaren Strukturen kommen. Das immerwährende Verstreichen wäre strukturlos. Erst durch zeitliche Abgrenzungen ist etwas wie ein diskretes Für-Wahr-Nehmen von Informationen, die eintreffen, möglich, ein Zusammenraffen zu einem Muster und sein nach Innen verarbeiten. Die Zeit hängt also mit der Quantifizierbarkeit von Information zusammen. Ließe das Elementarste, das Photon, keine Quantifizierung von Information zu, wäre es nicht „erfahrbar“, sondern von sich aus eigenschaftslos, dann gäbe es keine Zeit und schon gar nicht die Welt.  

 

Überall in unserem Körper und natürlich auch in unserem Kopf sind Photonen als Informationsträger aktiv. Das Lichtgewitter ist nicht regellos. Informationsgewinn ist eines der Ziele. Wir lernen zeitlebens „die Sprache der Welt“. Was an Begriffen und Bildern je in uns gebildet wurde, ist angelegt in diesen Stempelnegativen, dreidimensionale „Polaroids“ von speziellen neuronalen Erregungsmustern und das Sprachspiel schichtet es wie verknüllte immaterielle Folien zu mehrdimensionalen Räumen ineinander, den Worten und Sätzen, die zusammen dann das emergente Ausmaß unseres Spiel-Raums anzeigen, bspw. im Gedicht. Worte, Sätze, Begriffe sind nicht klar durchdefinierte Räume, sondern Fraktale von schwankender Wirklichkeit. Es haften ihnen die individuelle Gewinnungsgeschichte und sinnzitternde, quantenhafte Möglichkeitswolken an. Der Dichter dringt in diesen Spiel-Raum ein und öffnet sich dem Spiel. Er läßt Begriffe miteinander kollidieren, führt Bilder zueinander, die zuvor nicht in Kontakt waren und betrachtet die Intensität des neuronalen Feuers, Erregungen entstehen, intuitive und assoziative Verbindungen, Übersetzungen aus komplexen Bildsprachen, die sonst unaussprechbar sind (aber zweifellos immer in uns vorhanden). Der Dichter liest aus ob es das enthält, was zum Gedicht passt. Das Gedicht als seine Gebärde fordert eine bestimmte Passung! Er hat in sich bestimmte Zulassungen definiert, ein Sieb aufgestellt, durch das er die auftauchenden Begriffe und Bilder filtriert.

 

Worte stehen für Begriffe. Sie sind Schlüssel für den jeweiligen Raum. Das Wort „grün“ hat in jedem Menschen einen eigenen Raum, der sich über viele Jahre eigenes Leben definiert hat. Es ist entsprechend mächtig. Das Wort „zinnober“ schon weniger. Je weniger mächtig die Worte sind, die wir benutzen, umso geringer die Reaktionstiefen des Sprachspiels, umso flacher wird die Textstruktur. Ein zusammengebackenes Konglomerat von seltenen Worten und kaum gebräuchlichen Begriffen löst naturgemäß weniger aus, als das vielschichtig mögliche Bedeutungsspiel organisch gebrauchter Sprache.

 

Um die Bewegungen der Sprache zu steuern, braucht es den denkenden, also sprachspielenden Prozess. Dabei ist es völlig gleichgültig wie das Vehikel der Sprache aussieht, welche Art von Sprache zur Anwendung kommt. Der Maler nutzt Bildhaftes, Formen, Texturen und Farben, der Musiker, Töne und Klänge, das Tier Laute, Mimik, Bilder und Gefühle, die Pflanze das chemische Signal. Von Denken kann gesprochen werden, sobald dieser Prozeß im Gang ist, wenn auch in abgestuften Qualitäten. Schon in der menschlichen Wortsprache gibt es qualitative Unterschiede. Linguisten wie Benjamin Lee Whorf haben uns darauf hingewiesen, daß einige Wortsprachen durchaus andere Weltbilder und Denkgewohnheiten bedingen, einfach weil sie grammatikalisch und semantisch anders strukturiert sind und damit in uns wohl andere Strukturen erzeugen.

 

Helmut Heißenbüttel schrieb schon 1961: „Die indogermanischen Sprachen haben ein bestimmtes Schema zu Grundlage. Dies Schema besteht in der Unterscheidung von Subjekt, Objekt und Prädikat. Das heißt, von allem Anfang an wird vorausgesetzt, daß die Erkennbarkeit der Welt, daß die Orientierungsmöglichkeit des Menschen auf der Fiktion beruht, es gäbe etwas, das in sich ruhend, Mittelpunkt bilde, etwas anderes, das dem gegenüber stehe und es gäbe von einem zum anderen die Verknüpfung von Tätigkeiten, Reaktionen, Verhaltungsweisen, Relationen. Alle Systeme der abendländischen Philosophen, Religionen und Literaturen lassen sich letzten Endes auf dieses Grundschema reduzieren.“ Auf diesem sicheren Boden bewegen wir uns. Aber es ist nur ein Netz, das wir selber ausgeworfen haben.

 

Es gibt ganz alte und sehr kompakte Sprachen, Bildsprachen, wie sie uns im Traum geschehen, die komplexe Inhalte transportieren können, ohne dabei Worte benutzen zu müssen. Solche Bildsprachen werden von den Tieren „gedacht“. Auch hier muß man eigentlich von Denken sprechen, es ist der gleiche Prozeß, nur mit einem anderen Vehikel, das womöglich ungenauer in der Deutung, aber umfassender in seinem Inhalt ist, weil es nicht in Möglichkeitswelten verdriftet, sondern mit dem klaren Bild des Hier und Jetzt arbeitet und womöglich dadurch teilweise sogar näher an einer vom Menschen oft vermißten glückseligen Einfachheit und Harmonie ist. Nur weil der Mensch die Wortsprache als Vehikel seines Denkens nutzt, ist er nicht aus der übrigen Natur herausgefallen. Es ist eine besondere Sphäre, die sich die Natur hier erobert, aber sie fußt in denselben Prozessen, die in anderen Lebewesen diese Art Sprachspiel, wenn auch mit völlig anderen Sprachen und in sehr unterschiedlichem Ausmaß, schon immer betreibt und auf vielfache Art und Weise betreiben kann: man denke sich das Denken in Tönen und Melodien, statt in Worten. Wundervolle Möglichkeiten hätte man damit, das Denken wäre ein einziges Singen.

 

Vor kurzem erregte eine Untersuchung Aufsehen, in der man feststellen konnte, daß einige Sprachmerkmale, die man bislang als für den Menschen reserviert betrachtete, doch auch im Tierreich verstanden werden. Timothy Gentner und sein Team fanden heraus, daß Stare rekursive Sätze wahrnehmen und grammatisch unterscheiden können. Rekursion bedeutet das Verschachteln eines Satzes (viele und besonders deutsche Dichter lieben das, Christian Morgenstern hat das in der Vorrede zu seinen Galgenliedern machtvoll demonstriert) und gerade sie galt als der Kronzeuge für die Ausnahmestellung der menschlichen Sprache. Gentner hat Stare mit Hilfe künstlich erzeugter, artähnlicher Lautgesänge und einer speziellen Versuchsanordnung an Futterautomaten vor die Lösung dieser grammatikalischen Besonderheit gestellt und neun von elf Tieren lernten die rekursiven Strukturen zu erkennen und danach zu handeln, sie verstanden sie. Ob es solche Elemente von Natur aus in ihrer eigenen Sprache gibt, ist natürlich nicht zu entscheiden, denn wir verstehen die Sprache der Stare nicht. Aber man darf sich sicher sein, die Welt spricht und sie tut es zwangsläufig.

 

Beim Menschen sind seine Denkmöglichkeiten nicht nur in den Eigenarten seiner Wortsprache angelegt, sondern er ist auf anderen Ebenen seiner Existenz durchaus auch der Bildsprache fähig. In den tieferen Sphären seiner Psyche, dort wo er noch Tier ist, denkt er in Bildern, und seine Bauchgefühle und Intuitionen, diese ultraschnellen Weltreaktionen, ermöglichen Entscheidungen noch bevor irgend ein „wörtlicher“ Gedanke gefaßt ist. Das ist aber durchaus auch konfliktreich, denn so ist in uns ein und derselbe Prozeß – das Denken - bisweilen im Widerstreit, das Wörtliche will das Bildliche nicht und das Bildliche versteht vom Wörtlichen nicht viel. So haben wir uns aufgeteilt in den Nachtmenschen, der die Bildsprache spricht und den Tagmenschen, der die Wortsprache spricht. Wir sind tatsächlich in einem Konflikt gefangen, der in der gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener Sprachen in uns begründet liegt. Was wir als Geist schätzen, kommt aus der Wortsprache, was wir als Intuition und Gefühlswelt schätzen, denkt in der Bildsprache. Und auch die Signalsprache, die aus der mineralischen und pflanzlichen Ebene kommt, ist in uns aufgehoben. Und es ist durchaus möglich, daß wir auf all diesen Kanälen gleichzeitig „denken“, mit den Weltbegebenheiten kommunizieren.

 

Sprache ermöglicht Kommunikation, Verständigung. Etwas wird „verständigt“, dem Verstand übergeben, in das Ver-Stehen überführt. Ein altes und anderes Wort für den Verstand ist die Denk-Kraft –  die Verständigung ist in diesem Sinne das wechselwirkende Benutzen der Denkkraft, das gemeinsame Betreiben des Sprachspiels, auf welcher Ebene auch immer. Nur ist die Verständigung über höchst unterschiedliche Ebenen hinweg sehr schwierig. Auf der Quantenebene führt jeder Kommunikationsversuch zu einer Veränderung des Zustands der Ebene. Auf Quantenebene gibt es keine Kontaktaufnahme ohne Beeinflussung. Dort ist die Messung die Anfrage nach einem Signal, das zu dieser Anfrage passt und das durch die Messung bereits beeinflusst wird. Die Quanten liefern uns dieses Signal, weil wir danach fragen. Das gelieferte Signal enthält unsere Anstrengungen. Wenn wir den Ort wissen wollen, dann stoppt unser Signal (meistens ein Photon) das Teilchen und es antwortet: ja ich bin hier, du hast mich gefunden; aber dadurch verändern wir schon den Ort, denn wir stoßen das Teilchen mit unserem Photon an und verlieren dabei jedes Wissen von seinem Impuls. Fragen wir nach seinem Impuls, so sagt uns das Teilchen auch das, die Frage nach dem Impuls allerdings verortet nicht.  Das Teilchen beantwortet den jeweiligen Aspektraums unseres Anfrage-Signals; schon die Frage beinhaltet die Antwort. Daß sich zwei Anfragen mitunter nicht gleichzeitig sondern nur nacheinander beantworten lassen – dafür können die Quanten nicht. Es liegt daran, daß man dazu unterschiedliche Anfrage-Signale benötigt. Das Tun der Frage erzeugt das Dasein einer bestimmten Antwort. So gehört übrigens auch jedes Wort zu einer Frage. Das Wort ist verschwistert mit unserem „Anfrage-Signal“, denn es steht für und fragt nach einem ganz speziellen Informationsgehalt,  entspricht dieser nicht der enthaltenen Anfrage, dann gehört er zu einem anderen Wort. Ein Stuhl wird dadurch Stuhl, daß wir dem entsprechenden Gegenstand gestatten in uns die Antwort auf die Anfrage „Stuhl“ zu sein. Ein Elektron wird zu dem Gegenstand Elektron, weil wir bestimmte Antworten selektieren und ihnen gestatten charakterisierend für den Begriff „Elektron“ zu sein. Das Wort ist ein Repräsentant für einen bestimmten Aspektraum, wie auch eine mathematische Formel nur ein Repräsentant für einen Sachverhalt in einem Aspektraum ist. Was dieses Etwas wirklich ist, daß da dualistisch als Welle und als Teilchen auf unsere Wellen/Teilchen-Anfragen zu antworten weiß, davon haben wir nur einen äußerst blassen Schimmer.

 

Die Informationsfülle, das Erfragbare in der Welt ist unermesslich. So gibt es viele Informationsgehalte, die auch ohne das Wort da sind und mit denen in der Natur selbstverständlich auch „wortlos“ miteinander kommuniziert wird, weil die richtigen Anfrage-Signale gesendet werden. Signalverarbeitung ist nicht weit entfernt von dem, was wir Sprachspiel nennen. Die Kombinatorik Frage und Antwort hat große Ähnlichkeit mit dem Prozess des „Denkens“.

 

Mit unserem Denken geschieht etwas, das offensichtlich aus den Urgründen des Seins stammt. Nur daß es auf der komplexen Ebene Mensch sich völlig anderer Signale bedient und unter der zu bewältigenden Komplexität mitunter leidet. Wie oft sehnen wir uns nach unverwirrter Einfachheit und Ruhe. Das Denken in uns zu beruhigen bis hin zur Nullinie, das ist nach asiatischer Lesart der Weg des Yogi – aber eine Welt voller Yogis kann leider keine funktionierende sein. Der Yogi muß erst seinen Körper beherrschen lernen und die ganzen vielschichtigen Sprachmöglichkeiten in ihm unter Kontrolle zwingen, bevor er tatsächlich Ruhe in den Geist bekommt. Vielleicht ist es aber auch möglich, daß man die verschiedenen Sprachen in sich befrieden kann; das heißt nicht das Denken aufzuhören, aber auch nicht es zu übertreiben, und das heißt auch nicht uns medial mit Bildsprache zuzupowern und ständig sinnlose Triebspitzen zu provozieren, sondern ein Gleichgewicht herzustellen. Dazu muß aber die Sprache der Pflanze und des Minerals, die Sprache des Blutes und des Tieres genauso ernst und wahrgenommen werden, wie die Sprache des Geistes, das Wort. Das eine zugunsten des anderen ständig zu leugnen und zu verdrängen, übt Druck auf das Leben aus, das sich auf vielerlei Art und Weise in uns und – das vergessen wir immer-  auch sonst überall entfalten will, und dieser Druck erzeugt Depression. Wir müssen nicht nur besser nach innen hören lernen, sondern auch lernen das Außen immer wieder neu zu hören. Die Welt spricht und ist voll von Informationen.

 

Der Physikprofessor Hans Christian von Baeyer gibt in seinem Buch „Das informative Universum“ ein sehr anschauliches Beispiel für den Begriff der Information. Man denke sich die Live-Übertragung eines Klavierkonzertes im Radio und betrachte die einzelnen Schritte, die erfolgen, bis die Musik uns in einem sehr weit entfernten Raum wohlklingend zu Bewusstsein kommt:

 

Zunächst einmal muß der interpretierende Künstler das auf dem Notenblatt Geschriebene lesen, d.h. mit dem Sehsinn Symbole erkennen und aufnehmen, in seinem Gehirn dann entsprechende Zuordnungen vornehmen und seinem Körper Befehle erteilen, die diese Informationen in fein abgestimmte, gezielte Bewegungen umschreiben: ein als Ton namens A entziffertes Symbol bedarf des Fingerdrucks auf eine genau vorgeschriebene Taste in bestimmter Intensität. Das Instrument erzeugt einen Ton durch Schwingungszustände einer Saite, die per Resonanz verstärkt und der Luft als Druckwellen mitgegeben werden und in einem Mikrophon unweit des Instruments bestimmte Vibrationen erzeugen. Diese werden im Mikrophon „umgeschrieben“ in elektrische Signale, die über einen Verstärker zu einem Sender gelangen, der in einer Sendeantenne einen oszillierenden Strom erzeugt. Dieser Strom wiederum erzeugt elektromagnetische Strahlung in Form von Radiowellen, die unseren Luftraum durchregnen. Von der Empfängerantenne aus wird über das Radiogerät, den Verstärker und die Lautsprecher das Ganze wieder zurücktransformiert, um dann als Druckwelle in der Luft für uns hörbar zu sein.

 

Nun, was ist in dieser ganzen verwickelten Angelegenheit mit der Musik passiert?

 

Sie war die ganze Zeit da. Ganz und umfassend - nur in jeweils einem anderen Sprachvehikel codiert und unterwegs und wir hätten sie die ganze Zeit über hören können, wenn wir die Vibrationen im Mikrophon als Töne hören könnten oder wenn wir elektromagnetische Strahlung als Töne hören könnten. Für die Musik war es vollkommen einerlei in welcher Sprache sie vorliegt, sie war als genauso wundervoll und „wohlklingend“ aufgehoben in der Sendeantenne, wie in den elektrischen Signalen im Verstärker. Sie war codiert in Symbolen, in Schwingungen, in Strahlungen, in Vibrationen und sie war immer gleich. Sie hatte zwar jeweils eine andere Form, aber die In-Formation, das in die Form Eingetragene, war stets gleich. Zwar gestaltet die Information das sie transportierende Medium, aber sie ist nicht  diese Form an sich, sondern das, was sie an Beziehungen und Verhältnissen darin mit sich trägt. Information entsteht aus dem Zueinander von Dingen. Und solange es etwas gibt, das die Information in der Form auffinden kann, weil es die Sprache der Form „versteht“ (in dem Sinne, dass sie sich diese Sprache übersetzen kann in ihr eigenes Dasein), gibt sie sich preis. Offensichtlich eignen sich einige Phänomene der Welt selbst so komplexe Dinge wie eine Klaviersonate zu repräsentieren mitsamt seiner dynamischen Interpretation. Es gibt eine unendliche Menge Alphabete in der Welt, die geeignet sind, Information in die eigene Form zu übernehmen und somit diese Information zu sein und der Mensch macht sich diese Eignung teilweise zu nutze in gesteuerten Prozessen. Prinzipiell eignen sich wohl alle Phänomene Formen einzunehmen, die Informationen transportieren können oder qua ihres eigenen So-Seins eine Information zu sein. In einem umfassenden Sinne ist selbst atomares Feuer eine Information. Auch die Sonne informiert uns täglich über ihr Vorhandensein und die in ihr ablaufenden Prozesse und verwöhnt uns dadurch mit Wärme und hält uns in einer stabilen Bahn. Verstehen wir die Phänomene als Weltformen, die Informationen tragen, so spricht ihre Anwesenheit zu uns. Die Welt ist eine einzige Möglichkeit Information zu transportieren, was bedeuten kann, sie ist womöglich eine einzige sprechende Existenz, die immerzu Fragen stellt und mannigfaltige Antworten erhält.

 

Die Form (von welcher Träger-„Substanz“ auch immer, also auch die Form einer Welle) ist die Grundlage einer Sprache. Formloses kann nicht sprechen, kann keine Informationen speichern oder weitergeben. Also ist die Existenz mindestens geformt, gequantelt, definiert - wenn sich diese Welt, so wie sie ist, entwickeln konnte; sie ist keinesfalls leerer Raum (wie mir das unlängst ein „Erleuchteter“ auseinander legte).

 

Wir stehen also, auch wenn wir das nicht sehen können, in einem einzigartigen Informationsmeer. Die Welt spricht tausenderlei Sprachen und wir verstehen kaum etwas davon. Ein seltsamer Satz, wenn man bedenkt, daß es Wissenschaftlern unlängst gelungen ist, Quanteninformationen auf Atome und wieder zurück zu übertragen. Und wenn man bedenkt, daß wir in großen Mikroskopen wie dem neuen, mit 27 km Länge wirklich riesigen Large Hadron Collider am CERN nach der Sprache Gottes suchen. Eine Maschine, die immerhin 3 Milliarden Dollar kostete, um am Ende ca. 600 Millionen Mal pro Sekunde Protonenpaare für voraussichtlich zehn Jahre Experimentdauer mit ca. 99,9999991 % der Lichtgeschwindigkeit miteinander kollidieren zu lassen, und um in zig Billionen dieser Ereignisse die Signatur jenes händeringend gesuchten Higgs-Teilchen zu finden, dessen Entstehung bei dieser Kollision nach den bewährten Wahrscheinlichkeitsrechnungen der Quantenphysik zum ersten kaum wahrscheinlich ist und das zum zweiten der Theorie nach eine extrem geringe Lebensdauer hat: es zerfällt noch ehe ein Lichtstrahl den hundersten Teil eines Protonendurchmessers in Lichtgeschwindigkeit durchquert hat. Man benötigt das Higgs-Teilchen, um die Massen der beobachtbaren Elementarteilchen so erklären zu können, dass sie den Erfordernissen der Supersymetrie in der gängigen QED-Theorie entsprechen - es ist das Teilchen, dass dafür sorgt, das alle anderen Teilchen genau jene Masse zugeteilt bekommen, mit denen wir sie beobachten, wenn aus Energie Masse entsteht. Eine Art universaler Wechselgehilfe, der aus der Wechselstube des sogenannten Higgs-Felds nimmt, was dem Teilchen als Masse gebührt. Weshalb es von Wissenschaftsjournalisten übertrieben auch gerne als „Gott-Teilchen“ beschrieben wird: ohne das Higgs-Teilchen gäbe es keine Materie. Nach der Theorie. Und ohne das Higgs-Boson, das ist das Spannende am derzeit laufenden Experiment, ist die QED als Standardmodell schlicht falsch. Dann stimmt unsere Fachsprache nicht.

 

Ich führe das deshalb aus, weil es natürlich vielfältige Einwände gibt bei der These, wir würden kaum etwas von der Welt verstehen. Schließlich wimmelt es von technologischen Spitzenleistungen um uns, bis hin zur unglaublichen Kleinheit der Nanotechnologie. Das ist alles richtig und wird zugegeben. Aber noch unglaublicher sind die Leistungen der Natur, von denen wir bislang eigentlich nur vereinfachte Sonderfälle und Spezialsituationen verstehen. Zum einen ist unser Erkenntnisapparat begrenzt, zum anderen aber: Wir hören nicht richtig hin! Wir hören im Allgemeinen immer noch zu sehr uns, wenn wir nach der Natur hören, und das mit gutem Grund. Jahrzehntausende haben wir versucht das Beste aus dem zu machen, was wir aus der Natur herauslesen konnten, haben gelernt das Feuer zu beherrschen und uns den Wind in die Segel blasen zu lassen. Der eigene Vorteil war immer von Vorteil. Eine Bedien dich -Mentalität, die uns letztendlich eine rücksichtslose Elite in den Vorstandsetagen auf die Präsidentensessel gepfropft hat und uns nun in eine heillose globale Verstümmelung und Zerstörung verstrickt. Es gäbe dazu sehr viel zu sagen. Worauf es hier ankommt ist aber, daß wir uns selbst entwertet haben, indem wir alles als eine bloße Ressource betrachten. Wert hat nur noch das in irgendeiner Form Ausbeutbare und zwar genau den ausbeutbaren Wert. Die Geldmaschine war nicht dumm, sie hat das auf uns selbst übertragen.

 

Es kommt darauf an, daß wir die Welt auf neue Art lesen. Die alten Brillen sind trüb und falsch geschliffen. Selbst wenn wir noch so sehr um uns selbst kreisen und uns mit unseren eigenen Satelliten umkreisen lassen, das wird nur eine Party sein, auf der jeder mal mit seinem Hintern gewackelt hat und irgendwann ist Schluß. Und wenn unsere preisgekrönten Dichter bis dahin noch immer überlegen, wie ihr turntable funzt, haben wir noch nicht mal die richtige Musik zum Untergang gehabt.

 

Seit einigen Jahren häufen sich Meldungen aus der Wissenschaft, daß vieles von dem, was der Mensch sich und seiner Einzigartigkeit als Schulterklappen aufnähte, so einzigartig gar nicht ist, sondern Leistungen sind, die auch andernorts in der Tierwelt vollbracht werden, mitunter von Tieren, von denen man es gar nicht erwartet. So fand man kürzlich heraus, daß Elstern sich im Spiegel erkennen, oder daß selbst wirbellose Tiere wie die Bienen zahlenkompetent sind und auf einen einzigen Blick kleine Quantitäten unterscheiden können. Beispiele gibt es en masse für einen notwendigen Paradigmenwechsel. War der Mensch bislang der isolierte Königsweg und von der übrigen Natur durch seinen Geist von ihr abgehoben, so wird nun immer mehr klar, daß dieser Geist nur ein Produkt ist, das in den tiefsten Schichten des Daseins an sich schon angelegt und wirksam ist - er ist eine Zwangsläufigkeit des Evolutionsprozesses, er ist eine Manifestation wie die Flosse eine Manifestation ist, um im Wasser zu schwimmen, er ist etwas, das - von uns völlig unverschuldet - in die Welt kam und auf das wir nicht in der Weise stolz zu sein haben, wie man auf irgendwelchen Besitz töricht stolz ist. Der sich gern selbst überhöhende Mensch ist Teil der Natur, ist ein Ergebnis der Beziehungsgeflechte, die das Dasein seit Anbeginn der Zeit in immer neue Räume hinausspinnt.

 

Es scheint so, als stünden wir wirklich, zumindest in den Wissenschaften, davor, die überheblichen und reduktionistischen Sichtweisen der Vergangenheit zu ersetzen mit einem demütigeren Blick auf die uns umgebende Welt. Wenn wir die Welt neu lesen, dann damit auch uns.

 

Eine konkrete Utopie gibt es dabei nicht. Vielleicht waren die Hippies die letzten, die mit und für eine Vision leben konnten. Schon der Punk hat uns „no future“ auf die Straßen geschrieben. Wer hier lebt auf der Erde, der ist schon mannigfaltig verstrickt in die Schuld des Kollektivs. Die jungen Generationen werden erdrückt von ihrem Erbe. Ein enormer Druck, den man ablesen kann. In der großen Bandbreite der heute geschriebenen und veröffentlichten jungen Lyrik, diesem farbigen Nebeneinander unterschiedlichster Gedichtlandschaften, gleichzeitig inspiriert und gestaltet von einer Vielzahl von Generationen, lässt sich ein Areal umzirkeln, ein topographischer Niederschlag aufspüren von dem, was „jung und jetzt“ im Schreiben bedeutet. Tendenzen, graphische Spuren seelischer Strömungen, eine Frottage aktueller Lebensbilder.

 

Die generationstypischen Eruptionen zeigen uns ihre Fließmuster ja in allen künstlerischen Äußerungen, in Film und Musik, in Malerei und Literatur. Keine Generation hat so umfassende Blicke werfen können in vergangenes und gleichzeitig aber auch schon in neues mögliches Schreiben und befand sich derart im Wettbewerb. Das Internet ermöglicht raschen Zugriff auf ein weitgreifendes, prächtig gedeihendes Literaturnetzwerk. Welten kommen und gehen mit einem Klick und sind nicht verbindlich. Die sich immer rascher auflösende Realität hinterlässt einen offenen Raum, der kaum mehr sinnvoll zu hinterfragen ist, außer reduziert auf Dinglichkeit in unscharfer Metrik. Auch hier ist coolness gefragt. Der Behauptungsdruck ist enorm. Nicht „die hilflose Beziehungskisten-Poesie“, wie Michael Braun in seiner Kritik des ersten Bandes von „Lyrik von Jetzt!“ bemäkelt, bestimmt die Inhalte, sondern das Beziehung schaffen, in Beziehung treten zur Welt. Und hier sind es die kleinen Dinge, die, wie in Zeitlupe erlebt, zu Orientierung verhelfen sollen. Das Verlässliche ist nicht das Gefühl, sondern das Fühlen. Es gibt teilweise eine neue Innerlichkeit, die man begrüßen muß als Auslotung und Vermessung, und nicht als Anmaßung. Was die neue Generation in der Dichtung tut ist nicht greifbar und verhandelbar auf dem Schauplatz von Theorie und Wissen, sondern geschieht im Offenen, also genau abgewandt von intellektuellem Sulz. Auch wenn die Lebensläufe der Akteure fast immer einen geisteswissenschaftlichen Studien-Hintergrund mitführen. Das Offene meint nicht den puren Zweifel und die zweifelnde Infragestellung, sondern den perspektivlosen Moment. Keine Generation bislang musste so zurückgedrängt auf Augenblickswelten für sich eine Orientierung finden und dabei noch auf wirkliche Utopien verzichten. Das Offene der Expressionisten war gefüllt mit Zukunft, mit unbekannter, neuer, möglicher, gültiger Welt jeglicher Ausprägung und Couleur, das Offene der Moderne ist das unüberwindbare Jetzt.

 

Vor dem Gedicht steht die Sprachlosigkeit. Dann erscheint die Frage: Was ist auf welche Weise noch irgendwie Gedicht? Nach dem Gedicht erst kennen wir die Antwort. Jedem, der heute dichtet, stellt sich diese Frage sehr viel wesentlicher und auch drängender als je. Wer sich in Reime und gültige Formen retten kann, der hat gut dichten (und wer es gut kann, der möge es tun – wir dürfen genießen!). Die unterschiedlichsten Räume sind bereits weit erkundet und oft durch routinierte Virtuosen besetzt, so dass es nicht verwundert, daß viele sich in das sehr individuelle Reich der Assoziationen flüchten und dort in vielgliedrigen Karawanen die tief gestaffelten inneren Landschaften mit ganz persönlichen Sinnexpeditionen überziehen. Ein Ausweg, der, wenn er mit Cleverness in der Form einhergeht, auch bei einem Gedicht landet, das als supermodern durchgeht (aber vom Prozeß her eine olle Kamelle ist). Auch die vorherrschende Kleinschreibweise ohne Punkt und Komma lässt so manches zu, was eher in die Kategorie Bastelstunde oder Trickkiste fällt, und trotzdem: all das will und muß ausgelotet sein. Und das spüren die Autoren heute überdeutlich: sie haben an die Grenzen zu gehen, mehr als jede Generation vor ihnen müssen sie klarer und feiner zu sehen versuchen, notfalls auf Kosten des eigenen Ichs. Michael Brauns Vorwurf greift ins Leere; das Eigene, das in die Beziehung zur Welt gebracht wird, ist nämlich nicht das Ich, das um sich Theater macht und Dramen und Tragödien abfeiert, sondern es ist ein Ich, das sich dabei zusieht, ohne sich deswegen fremd zu sein. Nicht die erdige, betroffene, orangerote Innerlichkeit der siebziger Jahre, sondern eine beispielhafte, an den abgekühlten Wänden der Postmoderne sich stoßende, schwelt in den Hintergründen. Räume werden erobert, sehr offensiv und sehr bewusst, neue und solche, die man schon für besetzt hielt, in denen man nun aber andere Gültigkeiten behauptet.

 

Die Literatur muß etwas Ähnliches leisten, wie die Wissenschaften. Sie muß die Sichtweisen der Vergangenheit ersetzen und dabei noch genauer als je zuvor erkunden, welche Befragungen notwendig und angebracht wären in einem Literaturbetrieb, der sich nicht nur um gehobene Unterhaltung und Eigenrotationen, sondern um den menschlichen, kulturellen Fortschritt sorgt. Es geht darum, die Welt und sich selbst neu zu lesen. Wer sinnfreien Wortsalat in die Welt hinauswürfeln will, der drückt sich vor seiner tatsächlichen Verantwortung, die durchaus mit Antwort zu tun hat. Wir selbst sind eine Antwort, in uns manifestiert sich der enorme Lebensgeist der Existenz, aber wir sollten uns nicht auf unser Hirngeschehen zurückziehen und das absichtlose Spiel in dort entstehenden subjektiven Sprachclustern als fortschrittliche Kunst feiern. Ich denke, daß in zu vielen hochmodernen und mitunter preisgekrönten Sprachejakulaten gestisch Fragestellungen aufgehoben sind, die eigentlich kaum etwas anderem als einer spielenden, selbstbefriedigenden Absicht entspringen können.

 

Alles zum eigenen Ruhm und Vorteil. Der alte Stiefel. Das alte Lied. Und wer will diese Arien noch hören? Von wegen Avantgarde. Nur ist hier ein Urteil, was Spiel, was Onanie und was ernstzunehmende Kunst ist, en Detail nicht zu fällen, weil Sinnaufladungen und -entladungen immer geschehen, sobald Worte miteinander in unseren Denkräumen kollidieren, und es wäre anmaßend in dichterischen Intentionen psychologisch herumzuspekulieren. Dennoch kann man aus einer entfernteren Warte betrachten und beurteilen, auf welche Art der Dichter die Welt und ihre Fragen an uns beantwortet und mit wem oder was er sich dabei die meiste Mühe gibt. Es verwundert nicht, wenn ein Leser, der das Gefühl hat, hier schwimmt jemand nur in seiner eigenen Suppe, sich nicht entkleiden und ins gleiche Wasser steigen will. Mag aber sein, daß mancher Lyriker sich nicht den nackten Leser wünscht, sondern den genauso ver- und bekleideten. Allerdings: Literatur stellt Beziehungen her und es obliegt uns welcher Art diese Beziehungen sind. Wir entscheiden mit unserer Art von Literatur, mit wem wir sprechen und in Verbindung sein wollen, mit uns selbst, mit der Welt, mit anderen Menschen. Das ist die einfachste Wahrheit die es gibt: Literatur ist Sprache.

 

Die zunehmende Kryptisierung der Sprache und die Subjektivierung der Inhalte, die sich in allen Spielarten der Lyrik immer mehr durchsetzen, weil eine wahrnehmbare Turbulenz nur jenseits der Zitate zu erzeugen ist, führt auch zu einer geistigen Verinselung der Akteure, die aber innerhalb ihrer Riegen über die gute und weitläufige Vernetzung subkulturelle Sonderzonen etablieren können und – Gerhard Falkner hat das in seiner Huchelpreisrede bestens analysiert- ein System der Selbstreferentialität bilden. Die Gefahr  sich dabei immer wieder nur miteinander zu beschäftigen, ist nicht von der Hand zu weisen. Lebhafter denn je das wirklich Eigene hineinzutragen in die Behauptung neuer Kanons, das wäre die Aufgabe, die zu leisten ist. Der Leipziger Poetologe Georg Maurer (1907-1971) hat es früh in einer einfachen Formel zusammengefaßt: Ichgewinn wird Weltgewinn nach sich ziehen.

 

Selbst die sich vollkommen dem Verstehen entziehen wollende experimentelle Literatur der Fläche und der Struktur ist letzten Endes eine auf einem abseitigen Weg erarbeitete Gebärde des Sprachvermögens der Welt und ermöglicht dem Laboranten genauso den entladenden Ausdruck seiner im Verdeckten die Impulse gebenden, rauschhaften Ergriffenheit, wie das empirische und das hermeneutische Gedicht dem Tiefenforscher. Wir haben Spielarten und Stile, die sich mittlerweile wild miteinander vermischen. Warum soll das Turning Point-Gedicht auf experimentelle Struktur verzichten und warum soll das strukturelle Gedicht tatsächlich sinnfrei sein? Man kann Struktur im Motto ansiedeln und Motto in der Struktur.

 

Dieser Essay kann nur eine knappe Überschau geben, wie der Mensch und seine Sprache in die Welt eingebettet sind. Es bliebe nun zu diskutieren, welche Kulturleistung eine tatsächlich avantgardistische wäre und welche nur ein verschlimmbessertes ständiges Rückspülen auf sich selbst.

 

Vielleicht geht es darum: noch mehr alle möglichen Sprachen der Welt zu verstehen, um den globalen Eiertanz des Kollektivs, das sich zwischen verbilligten Glückserhaschungen und depressionsproduzierender Schuldanhäufung an der Menschwerdung versucht, endlich zu einem brauchbaren beat umzutakten. Noch mehr Sprachen zu verstehen, in uns und in der Welt, die uns zu immer noch anderen, nicht nur materiell verschiedenen, sondern auch in der Tiefe anderen Gedichten führen. Das Sprechen können wir nicht neu erfinden, selbst wenn wir es mit Gedichten erforschen. Aber das im Gedicht mit der Sprache Sagbare kann, mit Hilfe dieser Forschung und des Experiments, erweitert werden. Inhalte, In-Formationen können, dürfen, sollen wieder eine Rolle spielen. Das wäre der wirkliche Schritt nach vorne und ich glaube wir gehen ihn jetzt.

 

23.05. – 18.06.2009