Ausschreibung
CALL FOR LETTERS
22.04.2013 | Liebe Autorinnen und Autoren,
die Grenze zwischen lebenden und toten Schriftstellern ist, das bemerken wir bei jeder Lektüre, bei weitem nicht so scharf und unüberwindlich gezogen, wie man vielleicht denken sollte. Dass die Stimme eines Dichters über das Grab hinaus, durch das Buch hindurch, dabei sogar Anspruch auf einige „Ewigkeit“ machen kann, ist fester Bestandteil jeder literarisch-hausmacherischen Ruhmesrhetorik. Die Lebenden lesen – und je nach Geschmack der Lebenden, je nach Fähigkeit der inzwischen Toten, stellt sich zuweilen tatsächlich das Gefühl von Lebendigkeit her. Das ist die eine Richtung; das ist der Gemeinplatz.
Wie allerdings in dieser schönen Kulturtechnik Lesen und Schreiben zusammengehören, lässt sich diese Beziehung auch umdrehen: durch gerade jene Form des Schreibens, die der Kontaktaufnahme und dem Gespräch am nächsten kommt: durch den Brief. Hierauf zielt auch dieser Call for letters, der hoffentlich keinen seiner Adressaten stört. Dies ist eine Einladung, Briefe an bereits verstorbene Dichter zu schreiben.
Diese Idee ist natürlich nicht meine – dieses Verdienst gebührt, soweit ich weiß und nachschlagen konnte, Francesco Petrarca (1304-1374), der wie alle Humanisten ein fleißiger Briefeschreiber war. In einer seiner Briefsammlung, den epistolae familiares, finden sich nicht nur Briefe an Zeitgenossen, sondern auch, gesammelt in einem der 24 Bücher, Briefe an Autoren der römischen Antike; teilweise auch an solche, von denen keine Zeile überliefert ist. Das Konzept des Dichtertotenbriefes ist später von Andrew Lang (1844-1912) und Arno Schmidt (1914-1979) aufgegriffen worden. Ansonsten ist der unerschöpfliche Spielplatz dieser Formidee, soweit ich sehen kann, nur vereinzelt angetastet, nicht mehr aber in zyklischer Bündelung genutzt worden.
Schon bei diesen drei Autoren aber zeigt sich die Weite der Möglichkeiten: die Hommage begibt sich ins Pastiche hinein (so Petrarca an Horaz oder Lang an Byron), zweifelhafte Textstellen und Lesarten werden diskutiert (Petrarca an Quintilian), die Diskrepanz von geschriebener Lehre und geführtem Leben wird angeprangert (Petrarca an Cicero und Seneca), die institutionalisierte Literaturgeschichtsschreibung wird lächerlich gemacht (Lang an Herodot), politische Implikationen werden ins gleißende Licht gezogen (Schmidt an Dante), die Veränderung einer Landschaft oder Stadt seit dem Ableben des Adressaten werden beschrieben (Lang an Walton und Scott), und so weiter und schließlich werden auch Werke zurückgewiesen (so schreibt Arno Schmidt an Klopstock nur den einen Satz: „Anbei den Messias zurück.“). Wie viel mehr der unabsehbaren Möglichkeiten, die sich aus dem Spannungsfeld eines Briefwechsels quer durch Zeit ergeben!
Zum Verfassen solcher Briefe möchte ich herzlich einladen.
Was Länge, Form und adressierte Autoren angeht, gibt es nur die eine Einschränkung, dass letztere tot, aber lebendig sein müssen. (Der Gemeinplatz, dass von Toten nur Gutes geredet werden soll, gilt naturgemäß nicht.)
In Zusammenarbeit mit fixpoetry.com sollen die Briefe im regelmäßigen Rhythmus im Internet veröffentlicht, zuletzt in eine Anthologie gebunden herausgegeben werden.
Ich freue mich auf Rückmeldungen an tobiasroth@fixpoetry.com
Für jegliche Rückfragen stehe ich natürlich zur Verfügung.
mit besten Grüßen und Vorfreude,
Tobias Roth