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Essay
Once upon a time – »Annäherung» von Hans-Curt Flemming
Mai 2013
Zum Teufel, alt bin ich geworden. Simplify your life: wirf weg. Z.B. dieses verstaubte Buch, seit dreißig Jahren nicht mehr angefasst. 1983, Pforzheim, Kommissionsware. Eine Jugendsünde. Was für ein Buch?
- 20.6.78 –
glück
sich zurücklegen
die augen schließen
den mund leicht spitzen
und darauf warten
geküßt zu werden
und dann
geküßt werden
Bei diesem Gedicht klappt das Buch auf, das ich als neunzehnjähriger gekauft habe, ich war Zivi, reich, denn es gab Kleidergeld, Grundsold, Zulagen noch und nöcher und ich brauchte nichts, nichts, nichts. Und zum Teufel, das steckt noch fest, dieses Gedicht zerrt irgendwo in der Erinnerung, es traf offenbar einen Nerv und fällt jetzt, nach dreißig Jahren wieder ein. Es ist die Zeit, in der ich Erich Fried, Ernesto Cardenal und Rainer Kunze las, (der, nur nebenbei, zu DDR-Zeiten mit dem Decknamen ‚Lyrik‘ in den Stasi-Akten überwacht wurde), aber seine ‚sensiblen Wege‘ waren das nicht. Der Verdacht geht vielleicht Richtung Kristiane Allert-Wybraniecz, eine andere Größe dieser Zeit, stimmt aber nicht, die hätte ich nicht mit der Beißzange angefasst, das war Hausfrauenlyrik. Der Text ist von Hans-Curt Flemming, der seine Verse meist datiert in Tagebüchern niederlegte. Simplify, Pustekuchen, stattdessen blättern wir im 19-ten Lebensjahr herum, ein Graus.
Was die Neugier aber vollends entfacht, ist ein Gedicht, das auch heute noch einem modernen, realistisch Lyrikliebenden die Tränen in die Augen treiben kann. Flemming hat es, vermutlich aufgrund seiner straffen, sachlichen Nüchternheit raffinierterweise im Impressum versteckt:
1. tausend februar 1980
2. u. 3. tausend juli 1980
4. - 5. tausend november 1980
6. - 9. tausend februar 81
10. - 15. tausend juli 81
16. - 25. tausend februar 82
26. - 35. tausend september 1982
35. - 45. tausend märz 1983
Wie kam das? Wie konnte damals Lyrik so breite Resonanz finden, soweit jenseits der Enzensberger-Konstante? Flemming, seit langem mit den höheren Weihen versehener Akademiker mit dem faszinierenden Forschungsfeld Biofilm, versichert glaubhaft, dass er nicht bei Kulenkampff oder Dalli-Dalli aufgetreten ist, der Erfolg kam über Mund-zu-Mund Propaganda, ausgehend von Drucken im Selbstverlag, die er über Buchhändler vertrieb, die die Texte in Kommission nahmen – insgesamt hat nach eigenen Angaben knapp 200.000 seiner Gedichtbücher verkauft und damals ordentlich an ihnen verdient.
Sie trafen einen Nerv. Nun, blank liegende Nerven gab es damals genug, es ist die Zeit der immer wieder kalt aufblühenden Kriege, der Hochrüstung, des Nato-Doppelbeschlusses, der ‚geistig-moralischen‘ Wende im Sinn des Poesie-Verstehers Helmut Kohl („In Hölderlin war ich gut!“). Unter den ersten Vorboten grünen Maschinensturms und künftiger Mauerbrecher regte sich die letzte breite Phase der Liebe zu Lyrik – bei Flemming datierbar mit all ihrer Nähe und Ferne zum Tagesgeschehen.
- 25.10.77 -
herbststürme
der wind hat die
blätter mit den vielen farben
auf den gehweg geblasen
zu bunten häufen
ein arbeiter kommt entlang
und mit einer knatternden maschine
bläst er die blätter
auf den rasen
zurück.
So lange gibt es die Laubbläser also schon. Das ist ein lyrischer Reflex aus dem Herbst, der als der ‚blutige‘ bezeichnet wird. Im September 1977 wurde Schleyer entführt und am 18./19. Oktober ermordet, 17./18. Oktober 77 starben nach der Geiselbefreiung in Mogadischu Ensslin, Baader und Raspe in Stammheim. Der Text scheint ganz gut die Nahtstelle zu treffen, wo nach dem Frust über die Gewalt-Exzesse und die verpufften Achtundsechziger Theorie-Elogen das große Wunden lecken weiter Teile der deutschen bewegten Jugend ansetzte. Was als Bewegung begonnen hatte, war einerseits zu einem Guerilla-Krieg der selbsternannten RAF mutiert, die ehemalige Basis war andererseits braver und braver geworden, bis nur noch minimale Störmanöver im gemächlichen Gang der bundesrepublikanischen Herrschaftsverwaltung übrig blieben.
Die staatlichen Wasserwerfen hörten nach den Studentenunruhen nicht auf, den parlamentarischen Doppelbeschlüssen erfolgreich die Fußwege der Umsetzung frei zu spritzen, der Fokus der bunten Proteste richtete sich bald auf das greifbare Mutlangen, wo in Reaktion auf die SS20 des russischen ‚evil empire‘ nun auch in Deutschland amerikanische Mittelstreckenraketen, die Pershing II, stationiert werden sollten. „evil empire“, das war Ronald Reagans Wortwahl 1983 in einer Rede vor christlichen Fundamentalisten, in der er begeistert einen jungen Mann zitierte, der die eigenen Kinder lieber tot als ungläubig unter Kommunisten sähe.
Doch die Bildlichkeit ist zurückgenommen, hier ist nicht mehr, wie noch bei dem von den 68ern geliebten Walter Benjamin, von einem historischen Sturm aus dem Paradies die Rede, der im heute nur noch Katastrophen vorfindet. Benjamin interpretiert das Bild Angelus Novus von Klee in seinen ‚Thesen zum Begriff der Geschichte‘: „Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, (…) Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“.
Vielleicht war die Lyrik also damals ein willkommenes Flucht-Phänomen? Bei Flemmings Text schwingt schon recht sichtbar die Botschaft mit, dass es auf dem Rasen, abseits der Gehwege auch ganz ok ist. Der Rückzug nicht nur der bürgerlichen Jugend ins Innere deutet sich an, um eher dort mit Veränderungen anzufangen, wo das lyrische Gemüt ganz bei sich ist:
- 28.12.78 -
kein trost
als ich weinte
in deinen armen
hast du nicht versucht
meine tränen
zu stillen
du hast mich festgehalten
damit ich
weiter weinen konnte
als allein
so
hast du mir
geholfen.
Dem romantischen Ideal, wie es hier niedergelegt ist – hilf mir, mir selbst zu helfen – liegt eine Beziehung mit einer im Untergrund spürbaren Distanz zu Grunde. Es ist gar nicht klar, ob das weinende lyrische Ich überhaupt zu einer echten Beziehung fähig wäre, denn seine Selbstbezogenheit scheint stärker, als die Liebe zu seinem Gegenüber sein kann. Dennoch ist es stolz und erhoben: ihm wird vertraut und es ist weitergekommen, weiter als allein.
Auch dieses Gedicht stammt aus dem Band ‚Annäherung‘ von Flemming, es finden sich dort Tränen in eine Häufung, wie ich sie höchstens noch von den Romantikern kenne, fast in jedem Text drängt es das Ich zu Reflexionen, es leidet, weint, fragt sich, sucht sich und vor allem, es redet davon. Für heutiges Lesen ist das schwere Kost – zumal sie sprachlich im Wesentlichen auf sorgsam kondensierte, in Vers gesetzte Alltagssprache mit gelegentlichen metaphorischen Ausflügen reduziert ist.
Dennoch, es steckt was drin, irgendwas führte dazu, dass junge Leute in Buchhandlungen oder Bioläden oder Kneipen Geld herauskramten und die Lyrik auf dem Tresen kauften. Heute gibt es solche Phänomene, soweit ich es überblicke, nicht mehr. An der Thematik liegt es nicht - eine solch trostlos tröstende Beziehung hat ihren Reiz behalten und findet sich alles andere als selten in aktuellen Texten. Aber wie würde darauf reflektiert? Abgesehen von den Tränen: die Selbstbezogenheit, das Unvermögen zum andern zu finden, die exaltierte Reflexion, das ist alles nicht so unmodern, das gäbe es alles heute auch.
Vielleicht hatte Flemming einfach Glück – es war eine Zeit des Auf- und Umbruchs und heute – bricht niemand mehr auf? Vielleicht funktionierten die analogen Netzwerke besser als die digitalen?
Rätselhaft bleibt es. Ich vermute, es ist weniger die lyrische Qualität als die positive Neugier, der Spaß am freien Sprechen in einer den Beatniks abgelauschten naiven Spontanität – ein Ernstnehmen der eigenen Arbeit, die Flemmings Erfolg ausmachten: interessant war ein Mann, der sich aus seinem anerzogenen Rollenschema freistrampelt, der über Tränen schreibt, der gegen etablierte lyrische Gestaltungstechnik verstößt – und bei aller Introvertiertheit: der Spaß an dem Neuen hat, das sich vor ihm auftut.
- 5.11.78 -
aber die eichhörnchen
braune blätter
liegen auf dem boden
die farben sind
verschwunden und die bäume
grafiken schwarz
gegen den himmel
kahl und streng
der herbst ist
gestorben
aber die eichhörnchen
rascheln respektlos
im laub und
sind nicht
zu fassen
Flemming, Hans-Curt.annäherung. Gedichte. ISBN: 9783980056403 nur noch antiquarisch erhältlich
Franz Hofner hat zuletzt über »Verzückte Distanzen» von Monika Rinck auf Fixpoetry geschrieben.