eingekreist - die Monatskolumne Mai 2013

Monatskolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Monatskolumne

Eltern im Publikum

Mai 2013

Meine Eltern waren zum ersten Mal bei einer Lesung von mir anwesend. Es ist einfach passiert. Ich konnte es nicht verhindern. Nach der Lesung fragte mich Nils, der Schauspieler ist, warum ich eigentlich noch nie meine Eltern zu einer Lesung von mir eingeladen habe. Ja, wieso nicht? Ich habe meine Eltern auch noch nie zum Gruppensex eingeladen oder zum Pilzesuchen. Mal ganz davon abgesehen, daß ich beides grundsätzlich vermeide, gibt es darüber hinaus immer noch sehr viele Dinge, zu denen ich meine Eltern nicht eingeladen habe. Genaugenommen weiß ich gar nicht, zu was ich sie überhaupt einladen möchte. Ich besuche meine Eltern doch regelmäßig. Und dann lasse ich mich von ihnen einladen. Zum Essen ins griechische Restaurant. Oder zur Abwechslung auch mal zum Essen in das andere der beiden ortsansässigen griechischen Restaurants. Daß mein Vater gern einmal von mir zum Griechen oder zu dem anderen Griechen eingeladen werden möchte, und zwar nicht, weil mein Vater etwa arm wäre, sondern um den unwahrscheinlichen Moment zu erleben, daß es sich sein Sohn locker leisten kann, auch mal seine Eltern zum einen oder anderen Griechen einzuladen, anstatt, daß es sich sein Sohn immer noch leistet, sich von ihm einladen zu lassen, ist ein Problem, auf das ich näher eingehen möchte, sobald ich mir genügend Selbstrechtfertigungen überlegt habe.

Und, fragte ich Nils zurück, lädst Du denn Deine Eltern ein, wenn Du auf der Bühne stehst. Ab und zu, sagte er, allerdings nicht zu Premieren. Er sei da sehr aufgeregt, die anwesenden Eltern würden das bloß verstärken. Ich dachte an einen anderen Freund, der kürzlich alle seine Freunde, Familienmitglieder, Eltern, samt bereits existierenden Schwiegereltern dazu eingeladen hatte, an seiner Promotionsverteidigung teilzunehmen und somit dafür gesorgt hatte, daß, wenn er sich blamierte, auch wirklich alle Menschen, die ihm irgendwie nahe standen, es auch miterleben konnten. Ein Sozialkamikaze. Ich war sehr neugierig, wie das ausgeht. Leider bekam er summa cum laude, was alle maßlos erfreute, aber keinen soziologischen Erkenntniswert für mich brachte. Sollte irgendwann einmal der in eine ferne Zukunft verschobene Tag heraufziehen, an dem ich meine auf Eis gelegte Promotion zu Ende bringe (auch so ein Problem, zu dem mein Vater gern eine überzeugende Ausrede gehört hätte, wie es bloß zu dieser Promotionsverschleppung kommen konnte), dann würde ich niemanden zur Verteidigung einladen. Es wäre eine einsame Sache zwischen den Professoren und mir. Wie bei Clint Eastwood.

Plötzlich standen also meine Eltern da, in der Galerie, wo die Lesung stattfinden sollte. Ein Obdachlosenpärchen beim Neujahrsempfang der Immobilienhaie hätte nicht verlorener wirken können. Meine Mutter winkte mir demonstrativ zu. Kaum hatte ich mich von der Erscheinung erholt, fühlte ich mich moralisch dazu verpflichtet, mich um sie zu kümmern. Man ahnt, daß das auf längere Sicht so weiter gehen wird. Irgendwann muß man sie füttern oder das passende Pflegeheim aussuchen. Doch daran mochte ich jetzt lieber noch nicht denken. Gleich mußte ich lesen und vorher wollte ich mich eigentlich ein bißchen konzentrieren. Meine Mutter fragte, ob ich schon etwas aufgeregt sei. Natürlich nicht, ich sei völlig entspannt, sagte ich, ob sie mich kurz entschuldigen könne, ich müsse mal auf Toilette. Meine Mutter wundert sich immer, warum ich so oft zur Toilette gehe. Besonders, wenn ich bei meinen Eltern zu Besuch bin, zum Beispiel zu Weihnachten. Dann ist die Toilette der einzige Ort, wo man mal kurz seine Ruhe hat, bevor man wieder im Wohnzimmer sitzen muß, um sich zu unterhalten. Und wenn sie nicht wüßte, daß ich lautstark protestieren würde, hätte sich meine Mutter schon längst auf den Badhocker mir gegenübergesetzt, um keine Gesprächspause entstehen zu lassen. Meistens hat man sich aber am ersten Tag bereits alles erzählt. Jeder weitere Tag wird zum Geduldsspiel. Ich sitze auf dem Sofa und mit Hilfe eines Kreuzworträtsels gehe ich in die innere Emigration. Normalerweise fülle ich nie Kreuzworträtsel aus, mein Leben ist nämlich ausgefüllt genug, solange ich darüber frei verfügen kann. Ich habe auch den Eindruck, daß mein Vater gern über sein eigenes Leben verfügt hätte, aber dann hätte er nicht heiraten sollen, zumindest nicht meine Mutter. Sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Harmonie, die sich in Form einer gepflegten Unterhaltung im liebevoll eingerichteten Wohnzimmer manifestieren soll. Mein Vater würde zwischendurch lieber mal in den Keller gehen. Das ist jedoch verboten. Wir sitzen gemütlich im Wohnzimmer, eingekesselt wie die 6. Armee in Stalingrad. Vor dem 2. Weihnachtsfeiertag kommt hier keiner lebend raus. Meine ebenfalls anwesende katholische Freundin versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Mein Vater und ich wurden immer einsilbiger. Mutter immer eingeschnappter, weil sich da zwei dem Gesprächsdurchhaltebefehl widersetzten. Irgendwann verwendete ich Silben nur noch für mein Kreuzworträtsel. Und als ich einen Zustand erreichte, an dem Lots Frau nach der Erstarrung zur Salzsäule noch gesprächiger gewesen wäre als ich, verbündete sich meine katholische Freundin mit meiner Mutter gegen mich und sagte, „stummes, mürrisches Familienmitglied, mit vier Buchstaben?“ Ich schaute vom Kreuzworträtsel auf, und sagte, „ich hab keine Ahnung, was ihr eigentlich von mir wollt.“ Dann entfloh ich wie ein scheues Waldtier mit drei Buchstaben in Richtung Klo, was mein Risiko, unheilbar an Hämorrhoiden zu erkranken, erneut ansteigen ließ.

Doch zurück zu meiner Lesung. Nachdem ich von der Toilette wiedergekehrt war, ging ich direkt zum Lesetisch. Ich las eine Geschichte mit dem Titel „Vaters Grab“, in der ein Vater seinem Sohn noch aus dem Grab heraus Vorhaltungen macht. Ich sage dann immer, diese Geschichte sei überhaupt nicht autobiographisch, mein Vater lebe schließlich noch. Und heute sei er sogar anwesend. Ich zeigte auf den bärtigen Mann in der zweiten Reihe. Einige Zuhörer sahen sich mitleidig nach ihm um. Das machte ihm jedoch nichts. Wichtiger war, daß sein Sohn hier oben souverän rüberkam, und sei es auf dem Leichnam des eigenen Vaters. Die Kreisens sind erfolgsorientierter eingestellt als die mütterliche Seite. Meine Mutter schrieb mir nämlich mal, nachdem sie eine Kolumne von mir gelesen, die ihr keine Freude bereitet hatte: „Lieber Christian, wenn du uns zu Romanhelden machst, haben wir ja nichts dagegen, außerdem ist die Leserschaft nicht so groß [na danke Mutter, Anmerkung des Autors], aber dass alle familiären Vorkommnisse und Gespräche im Internet erscheinen, das paßt mir doch nicht. Ich wünsche mir schon einen respektvollen Umgang mit unserem Privatleben […].“ Ich schrieb zurück, daß ich in Zukunft nur noch so tun wolle, als wäre das, was ich schreibe autobiographisch, in Wahrheit jedoch frei erfunden, zumindest ein bißchen, sodaß sich der Leser nie sicher sein kann, ob das autobiographisch ist oder nicht. Meine Mutter, falls es sich bei der Betreffenden überhaupt um meine Mutter handelte, fand diesen Gedanken nicht wirklich beruhigend.

Nach der Lesung standen meine Eltern bei den Eltern des jungen Künstlers, dessen Bilder ausgestellt waren. Das waren ja sehr schöne Texte, sagte die Mutter des jungen Künstlers, aber kann man denn davon leben. Bevor ich antworten konnte, antwortete meine Mutter, daß das auch ihre größte Sorge sei. Ob denn ihr Sohn, der ja sehr schöne Bilder gemalt habe, fragte meine Mutter nun seine Mutter, davon leben könne. Und bevor deren Sohn, der neben mir stand, darauf antworten konnte, obwohl er schon gar nicht mehr gefragt war, antwortete seine Mutter, daß ihr das ebenso große Sorgen bereite. Gäbe es noch die „Aktion Sorgenkind“, man hätte uns jetzt ins „SOS-Kinderdorf“ einliefern können.