Monatskolumne

Unter aller Rampensau

Juni 2013

Bin ich ein schlechter Verlierer? Bei meiner letzten Klassenfahrt gab es eine heikle Situation. Wir spielten Risiko, ein Brettspiel, dem das Konzept zu Grunde lag, die Welt zu „befreien“, und zwar von allen anderen Mitspielern. Ein Spiel, das vermutlich auch Kim Jong Un gerne gespielt hat. Fünf Klassenkameraden saßen um den Tisch, in wechselnden Bündnissen und heimtückischer Vernichtungsabsicht. Und ich war der Erste, den man aus dem Spiel warf. Ich warf dann das Spielbrett vom Tisch und verließ den Raum. Damals war ich nicht zehn, sondern siebzehn, das Gekicher der umstehenden Mädchen klingt mir bis zum Jüngsten Tag im Ohr.

Um meinen Verliererkomplex nun einer Konfrontationstherapie zu unterziehen, habe ich meine Vorbehalte gegenüber dem Slam und ähnlichen Formaten, die dem Publikum ein übertriebenes Mitspracherecht einräumen[1], beiseite geschoben, und mich bei den Veranstaltern von „Kunst gegen Bares“ in Halle für einen Auftritt angemeldet. Es traten Rapper, Singer-Songwriter, Bmx-Freestyler, Performer, Poetry-Slammer gegeneinander an. Ich wurde als Lyriker angekündigt. Jeder hat zehn Minuten. Am Ende der Veranstaltung gehen alle mit einem Sparschwein durch die Reihen des Publikums. Das Prinzip: Wer das meiste Geld einsammelt, gewinnt. Mein erster Gedanke war, meinen Kumpel Peter anzustiften, hundert Euro in mein Sparschwein zu werfen. Im Anschluß würde er sie ja wieder zurückkriegen. Denn natürlich wollte ich nicht nur therapiert werden, sondern auch gewinnen. Allerdings darf man nicht erwarten, den ersten Platz zu belegen. Das fängt schon damit an, daß man sich sagt, daß das Publikum gar keine Ahnung hat. Bis auf die Leute, die dich gut finden werden. Leute mit Geschmack sind jedoch selten. Statistisch ist es dementsprechend kaum möglich, daß du gewinnst. Insgeheim will man das zwar immer noch. Dann sollte man sich fragen, hätte Hölderlin gewonnen oder die Mutter von Schopenhauer. Die Mutter von Schopenhauer war die erfolgreichste Romanschriftstellerin ihrer Zeit. Kennt noch jemand einen Roman von Schopenhauers Mutter? Außerdem, es gibt immer einen schlechten Tag. Ein Tiefdruckgebiet kommt und du kannst gewisse Areale des Gehirns nicht aktivieren. Auch Wladimir Klitschko ging mal k. o ... Wie Waterloo für Napoleon endete, ist bekannt. Nein, der erste Platz bei „Kunst gegen Bares“ ist für Leute vorbehalten, die der Fluß Lethe sofort, nachdem sie den Veranstaltungsort verlassen haben, wieder verschluckt.

Die Veranstaltung fand in einer Fabrikhalle statt, in einer Gegend, wo ich noch nie war. Ich ging über einen Hinterhof, wo sich schon sehr viele junge Leute tummelten, die mich ansahen, als wäre ich Kolumbus, der gerade seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Vielleicht hätte ich nicht mein Tweedsakko anziehen sollen, sondern ein Kapuzenshirt. Es strömten immer mehr junge Menschen herbei, als würde hier gleich etwas unglaublich Tolles stattfinden. Dabei traten nur ein paar unbekannte Künstler aus Halle auf, die aber einen ganzen Troß von Freunden anschleppten. Ich hatte nie besonders viele Freunde. Das zeigte sich jetzt mal wieder. Schließlich kam mein Kumpel Peter vorbei, den ich gebeten hatte, meinen Auftritt zu filmen. Die Nachwelt würde es mir danken, dachte ich. Dann ging es los. Meine Mitkonkurrenten fand ich, zu meinem Bedauern, fast alle gut. Aber ausgerechnet der schwächste Auftritt, zumindest aus meiner marginalisierten Sicht, machte schließlich den ersten Platz an diesem Abend. Und zwar eine Gruppe, die sich „tolerantes Brandenburg“ nannte.[2] Vier schwarzgekleidete Mädchen traten mit Gitarren auf die Bühne. Sie stimmten ihre Gitarren, legten sie dann beiseite, stellten sich jeweils zu zweit gegenüber und begannen sich zu ohrfeigen. Plötzlich unterbrachen sie ihre Ohrfeigerei, traten an den Bühnenrand, wo eine Flasche Wodka stand, tranken daraus, und gingen in die nächste Runde. Da wußte ich wieder, was mich an Performancekunst immer gestört hat. Insbesondere der Marina Abramovitsch mit ihrem Kunstpathos, der mir suggerieren will, jetzt wird’s aber ernst, wenn sie ihre Haare kämmt, bis die Kopfhaut blutet, oder tagelang im Museum frische Rinderknochen schrubbt, möchte ich zurufen, haue lieber ein Bild als dich selbst. Die Mädchen vom toleranten Brandenburg, vermutlich Kunststudentinnen, hauten sich jedenfalls immer heftiger, sodaß ihre Bäckchen anfingen zu glühen. Im Grunde war es natürlich auch ein soziales Experiment, um das Verhalten der Anwesenden zu testen. Wäre ich der Moderator gewesen, hätte ich gesagt, der Ohrfeigen sind genug gewechselt, wir haben verstanden. Ich war aber nicht der Moderator, was geht’s mich also an, dachte ich. Sollen doch die anderen einschreiten. Ich machte lieber ironische Bemerkungen zu Peter, um meinen Frust über das Dargebotene abzureagieren, bis mich eine junge Frau, die sich vorhin einfach zwischen uns gesetzt hatte, von der Seite anranzte, ob ich mal meinen Mund halten könne, sie wolle sich auf die Performance konzentrieren. Blöde Schnepfe, dachte ich, die jungen Leute werden ja immer frecher. Was mache ich hier eigentlich? Ich bin zu alt für so was. Mindestens zehn Jahre älter als der älteste Anwesende hier. Peter, der sich im Verhältnis zu den anderen praktisch schon im Greisenalter befand, mal nicht mitgezählt. Die kommen natürlich nicht zu einer normalen Lesung von uns alten Säcken. Eine Genugtuung blieb mir. Das wird’s in Deutschland bald nicht mehr geben. Die Deutschen werden immer älter, also auch das Publikum. Alte Gesellschaften sind friedliche Gesellschaften. Auf ganz natürliche Weise geht dieser aggressive, jungendliche Idealismus in eine gelassene Altersgleichgültigkeit über. Man muß nur abwarten. Später am Abend forderte noch einer der auftretenden Rapper mit bedrohlicher Körpersprache zu mehr Toleranz auf, gegen Rassismus und Sexismus. Wäre ich intolerant gewesen, hätte ich ihm jetzt auch nicht widersprochen.

Nach zehn Minuten Alkoholkonsum und Ohrfeigen war das tolerante Brandenburg unter tosendem Applaus von der Bühne getorkelt. Danach kam ich dran. Das Publikum war aufgekratzt und unruhig wie hundert Kevins, die heute noch kein Ritalin geschluckt haben. Ich sagte, tut mir leid, ich könne mich jetzt höchstens selber ohrfeigen. Ein kleiner Joke, der nicht so rüber kam. Ich versuchte, eine Kolumne zu lesen. Erst war das Mikro zu leise, dann übersteuert. Wegen fehlender Aufmerksamkeit las ich die Kolumne nicht zu Ende. Die vier Gedichte danach rissen es auch nicht mehr raus. Ich belegte den achten Platz von acht möglichen. Peter, der hier schon mal den dritten Platz belegt hatte, nannte ihn „ehrbar“. Ach, halt die Klappe, Peter!



[1] Ich hatte mal einen kleinen Text darüber geschrieben, den Julian Heun, ein junger begabter Slammer und Schriftsteller, zu einem Gegentext provozierte, und da das Internet nichts vergißt, kann man sicher noch dort entdecken, was uns der Übermut eingab.

[2] Vermutlich ein Seitenhieb auf das gleichnamige Projekt in jenem Bundesland.