Kraftvolle Kunde aus einem anderen Leben

Literaturzeitschrift

Autor:
Anke Pfeifer
 

Literaturzeitschrift

Gerhardt Csejka stellt in der Grazer Zeitschrift »Lichtungen« neue moldauische Literatur vor

Juli 2013 | Hamburg

Die Moldauer seien die besten Baumeister der Welt, denn sie lebten überall, während die Moldau nur ihr Office sei, wovon sich Obama durchaus beeindruckt zeigt - so witzeln Schüler bei ihrem Lieblingsspiel namens Kinderland, in dem sie in die Rollen Erwachsener schlüpfen. Denn diese – Eltern oder auch gute Lehrer - sind weg. Sie sind zum Arbeiten im Ausland und können ihren Kindern bzw. Schülern im Alltag nicht beistehen, sie nicht in das Leben begleiten. Nicht einmal die Krise in Spanien bringt, wie heimlich gehofft, Vater und Mutter zurück in die Heimat. Und so wächst sich ein Zeckenbiss für die drei allein gelassenen Geschwisterkinder im Prosatext von Liliana Corobca zu einem beängstigenden Problem aus.

Nur sehr selten trifft man im deutschen Sprachraum auf Zeugnisse moldauischer Literatur und daher ist es äußerst verdienstvoll, dass die jüngste Nummer der Grazer Zeitschrift „Lichtungen“ nun Texte einiger repräsentativer Autoren und Autorinnen aus der Republik Moldau vorstellt. So lautet der offizielle Landesname, daneben kursieren auch die Bezeichnungen Moldawien, Moldova oder gar Bessarabien. Gerhardt Csejka bezeichnet dieses Land im Vorwort zu seiner Auswahl als „Ungelöstes Kreuzworträtsel“. Die Verwirrung weiter treiben die Sprachen, in denen die dortigen Schriftsteller ihre Lyrik, Prosa und Dramatik schreiben: Rumänisch, in Abgrenzung zur Amtssprache in Rumänien auch als Moldauisch bezeichnet, oder Russisch, beide in der Vergangenheit abwechselnd zur Staatssprache erhoben. Verwirrend ist vor allem die Geschichte dieses Erdenfleckens, der im Laufe der Zeit von verschiedenen großen und kleinen Staaten vereinnahmt worden war, und dessen Bewohner, in der Mehrheit rumänisch sprechende Moldauer, daneben Ukrainer, Russen sowie weitere Ethnien,  mal zu den „Siegern der Geschichte“ und derzeit zu den ärmsten Verlierern in Europa gehören. Dieses Land zwischen Rumänien und der Ukraine macht heute meist durch allerlei Negativstereotype von sich reden. Aber Existenznot und Resignation hinderten noch nie, bemerkenswerte Literatur hervorzubringen. Und so trifft der Leser auf überaus kraftvolle Texte – auf eine Literatur, die etwas Elementares zu sagen hat und dem Zentraleuropäer meist sehr direkt vermittelt, was jenseits von der westlichen Wohlstands- und Konsumgesellschaft sonst noch so los ist auf dem Kontinent: Der Dichter Vasile Gârneţ schreibt nicht umsonst: „Meine Generation, die den Glauben an die Poesie hochhält / zog in die Welt hinaus mit dem Fotoapparat in der Hand / und wird doch stets bezichtigt, das Gedichtelesen / in ein Kreuzworträtsel zu verwandeln.“ Rätselhaftes gibt es durchaus auch, aber häufig drehen sich die Themen der Schriftsteller nur allzu deutlich um die sozialen Probleme in der Gesellschaft, um bittere Armut und Zukunftslosigkeit, Arbeitsmigration, die Kinder und Alte zurücklässt, internationalen Organhandel, die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit und mit der politischen Gegenwart.

Fast märchenhaft schildert Corobca aus verschiedenen Erzählperspektiven das mit Gerüchten und Ängsten beladene Leben der naiven und doch notwendig frühgereiften kleinen Dorfbewohner, die sich ein „Dorf der guten Kinder“ wünschen „ohne Böses, Sich-Sehnen und Wartenmüssen“, „eine ausschließlich unsrige Welt“ mit  einem Leben, das „schön, großzügig, offenherzig dahinströmt“. Die Dramatikerin Irina Nechit beklagt in „Korridor des Todes“ das Leben jener jungen Menschen, die nicht zum Studieren oder Arbeiten ins Ausland gehen, sondern ihre Zukunft – vergeblich – im Lande suchen.

Nicoleta Esinencu ist die im deutschen Sprachraum wohl bekannteste Autorin dieser kleinen Anthologie. In ihrem stark strukturierten, mitunter an ein Poem erinnernden Text setzt das lyrische Ich den Verlauf der Demenzkrankheit der Mutter ins Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung im Lande. Der Titel „MDA“ steht sowohl für das Landeskürzel, als auch für einen Ecstasy-Wirkstoff. Verwirrtheit, Änderungen im Bewusstsein, Realitätsverlust kennzeichnen den Status der Patientin wie den des Landes. Die Mutter lebt in ihrer Vorstellung noch in der Sowjetunion und nimmt die Gegenwart kaum wahr. Das Land kämpft mit seiner Vergangenheit, erlebt defizitäre Entwicklungen und ständigen Wechsel. Mit der Thematisierung von Erinnerung, Geschichte, Lebensverläufen und gegenwärtigen Dilemata werden auch hier zahlreiche politische und soziale Probleme angesprochen.

Gegen die armselige Realität hilft dem beschädigten Menschen die Flucht - allein oder mit Gleichgesinnten - in die Fiktion, sei es schreibend oder lesend, wie es Gârneţ in seinen Gedichten betreibt. „dieses gemeinschaftliche Verseschmieden / nannte ich die schulische Passage unserer Existenz / unser Zwergendelirium / das Trampolin hin zur Lektüre / die allein uns Schutz bietet“.

Augenzwinkernd-ironisch betrachtet Dumitru Crudu die alltäglichen Widrigkeiten und die zwischenmenschlichen Beziehungen, wobei er in seinen kurzen Texten mit unvorhersehbaren Wendungen im Geschehen überrascht. Schließlich fehlen auch Gedichte über die Liebe (Nicolae Popa) und den Weltengang (Arcadie Suceveanu) nicht. Die jungen Aura Maru sticht mit einem komplexen Poem heraus, in dem das Leben zwischen Misere und Chancen beherzt angenommen wird.

Intertextualität und Intermedialität sind Kennzeichen der Dichtung von Emilian Galaicu-Păun, dessen Wortkunst sich aus vielen Quellen speist. Im Gedicht mit dem Titel „Das Wasser. 3D“, im Original „Apa 3D“, einem Wortspiel, denn apatride steht im Rumänischen wie im Französischen für staatenlos, vaterlandslos, kommuniziert er über Heimatlosigkeit zwischen Paris und Czernowitz, zwischen Seine und Pruth. Seine Gesprächspartner sind Paul Celan und die rumänische Avantgarde. Den Auftritt eines ihrer Vertreter, Gherasim Luca, bezieht er direkt in sein Gedicht ein, und zwar durch ein Video, auf das er über einen entsprechenden, als Zeile in das Gedicht eingebunden Internetlink verweist.

Gerhardt Csejka hat bei seiner Auswahl auch die russischsprachige Literatur berücksichtigt, dabei aber nur einen einzigen Vertreter, allerdings mit zwei Prosatexten, ausgewählt. Wie schon Esinencu greift auch Wladimir Lortschenkow auf das Bild der Moldova als Droge zurück, wenn er Moldawien als „ein sonderbares, herumirrendes Land, / ein Wander-Land“ bezeichnet, das Teil ganz verschiedener Staaten war, aber doch immer Heimat seiner Bewohner bleibt, die nicht nur Moldauer und Russen, sondern auch Juden, Ukrainer, Weißrussen und andere sind. Und so steht einem besseren Leben, das die Verlockungen des Westens versprechen, stets die unstillbare Sehnsucht nach der Heimat gegenüber.

Geboren sind die Autoren zwischen 1952 bis 1990 und gehören also der mittleren und jungen Schriftstellergeneration an. Einige von ihnen sind bereits durch Übersetzungen ihrer Werke im deutschen Sprachraum präsent, so Nicoleta Esinencu mit Theaterstücken, aber auch Liliana Corobca mit ihrem Debütroman „Ein Jahr im Paradies“ oder Emilian Galaicu-Păun mit einem Lyrikband.





Präsentation der LICHTUNGEN Heft 134 10.6.2013,"ImCubus" Kulturzentrum bei den Minoriten Graz
Source: facebook


Diese Dichter der Moldau haben der traditionellen Heimatliteratur eine Absage erteilt, lassen sich ihren kritischen Blick auf die Realität nicht nehmen und blicken über die Grenzen ihres Landes und ihrer Literatur hinaus. Damit haben sie packende Texte geschaffen, die sehr geeignet sind, sich daran festzulesen.

Die meisten Texte wurden von Gerhardt Csejka ins Deutsche übertragen, daneben übersetzten auch Eva Ruth Wemme aus dem Rumänisch-Moldauischen und Erich Klein gemeinsam mit Susanne Macht aus dem Russischen. Da einige Gedichte auch in der Originalfassung abgedruckt wurden, kann der geneigte bzw. kundige Leser diese mit der deutschsprachigen Version vergleichen.

Es bleibt zu hoffen, dass nun der Weg geebnet ist für weitere Veröffentlichungen aus dieser weitgehend unbekannten, aber interessanten Literatur.

 

Exklusivbeitrag



Neue Literatur aus der Republik Moldau
. Idee: Botschafter Dr. Martin Eichtinger, BMEIA, Auslandskultur; Wien Mitarbeit: Karin Cervenka, BMEIA, Auslandkultur; Wien

Auswahl und Übersetzung der rumänischsprachigen AutorInnen: Gerhardt Csejka, Frankfurt/M., Übersetzung des Textes von Nicoleta Esinencu: Eva Ruth Wemme, Berlin, Übersetzung des russischsprachigen Autors: Erich Klein, Wien/Susanne Macht, Kiew. In: Lichtungen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik. 134/XXXIV. Jg./2013, S. 70-119. ISSN 1012-4705. 8 €


Links zu den Autoren:

> Nicoleta Esinencu


> Liliana Corobca

>
Dumitru Crudu

> Emilian Galaicu-Păun



Anke Pfeifer hat zuletzt über »Schreiben leben« von Rodica Draghincescu auf Fixpoetry geschrieben.