Akademie der Lesenden Künste

Bericht

Autor:
Astrid Nischkauer
 

Bericht

2. Meisterklasse zu Charles Dickens „A Tale of Two Cities“ vom 10. - 13. Juli 2013

Über der Tür hing eine handgenähte Fahne mit einem einzelnen georgischen Wort darauf. Die Bedeutung dieses Wortes wurde jedoch bis zuletzt nicht enträtselt. Die Akademie der Lesenden Künste ist eine Reise ins Ungewisse. Das jeweilige Thema, der ausgewählte Text, stellt keine Einschränkung dar, sondern ist vielmehr ein Ausgangspunkt, von welchem aus jede beliebige Richtung eingeschlagen werden könnte.

Die Zutaten der Akademie der Lesenden Künste sind ein Ausgangstext, Peter Waterhouse, ein/e Schauspieler/in, ein/e Musiker/in und ein kleiner Ort in einer sehr schönen Landschaft mitten in Deutschland. Diese schüttle man einmal kräftig durch und gebe bei Bedarf noch etwas Sonnenschein hinzu. Das Ergebnis sind einige einmalige und nicht zu wiederholende Tage voller Überraschungen.

 

Charles Dickens „A Tale of Two Cities“ war das Thema der 2. Meisterklasse der Akademie der Lesenden Künste. Begonnen wurde jedoch nicht mit Dickens, sondern mit einem wunderbaren Konzert von Carolin Widman in der kleinen Kirche nebenan. Danach las Matthias Bundschuh aus „Hard Times“ und Peter Waterhouse ging in seinen einleitenden Worten von Wittgenstein aus. Im Laufe der Zeit wurde „A Tale of Two Cities“ aber sehr wohl intensiv besprochen. Beispielsweise wurden einzelne Stellen auf ihre hohe Poetizität hin betrachtet. Auch wurden immer wieder Beziehungen zu anderen Romanen von Dickens, wie „Dombey and Son“ und eben „Hard Times“ hergestellt. Und auch die vorhandenen Übersetzungen ins Deutsche wurden thematisiert. Dabei ging es nicht darum zu kritisieren, sondern eher darum anhand der Übersetzungen zu beobachten, was die Übersetzer bei einer bestimmten Stelle jeweils überlesen hatten. Einen vielleicht unerwarteten aber sehr stimmigen Ausklang bildeten Stifters „Der fromme Spruch“, einige Gedichte des U.S.-Autors Charles Bernstein und einige aus H.C.Artmanns „Flaschenposten“:

 

to ablybody


naphta of siberia in rye-ay

snow of moccasin in tay-zoo-mah

chloride in their kutub al qumik

love love love on its heights

more more more next shallow jhalum

river of downy swans next to shal-i-mar

in ín-dee-vee-dew-als restricted

as an ín in ín in arrivals inwards

and with double love from moscow

and hah and tsay and art and mann

 

Bei der 2. Meisterklasse der Akademie der Lesenden Künste waren die Geigerin Carolin Widman und der Schauspieler Matthias Bundschuh zu Gast. Veranstaltungsort war das Gut Holzhausen in Nieheim. Carolin Widmann sprühte in einem fort vor Energie. Sie gab immer wieder kleine Konzerte und erklärte für alle nachvollziehbar was die Besonderheiten des folgenden Stückes sein werden und in welchem Kontext es entstanden war. Konzertiert wurde in sehr verschiedenen Räumlichkeiten. Welchen Einfluss diese auf die Wahrnehmung des Stückes haben können führte sie uns sehr anschaulich vor, als sie 'for aaron copland' von Morton Feldman zunächst in der Kirche und später in einem Wohnraum vorspielte – es waren zwei vollkommen unterschiedliche Stücke. Weitere Konzerteindrücke, die noch lange in der Erinnerung nachklingen werden, waren die sehr spontan entstandene Konzertlesung / das Lesekonzert zusammen mit Matthias Bundschuh und die Schubert Phantasie in C-Dur am letzten Tag mit Alfredo Perl am Klavier. Auch in die Gespräche brachte sie sich immer wieder ein und bereicherte diese mit ihrer musikalischen Sichtweise. Matthias Bundschuh war fast ständig im lese-Einsatz. Er nahm gleichfalls sehr rege an den Diskussionen teil und war auch bereit für einen gelegentlichen Sprung ins kalte Wasser – wenn ihm unbekannte und mitunter sehr schwierige Texte (hier sei v.a. Stifter und Bernstein genannt) ohne Vorwarnung zum Vorlesen vorgesetzt wurden.



Was kann man nun erwarten, wenn man sich auf drei Tage Meisterklasse der Akademie der Lesenden Künste einlässt? Nicht mehr und weniger als alles. Denn alles ist möglich. Auch ein Ausflug in den Kuhstall. Einem konkreten Konzept oder streng geregeltem Ablauf verweigert sich die Akademie. Wenn es ein Konzept gibt, dann ist es das der Offenheit. Die Akademie der Lesenden Künste möchte für alle offen sein. Der vollkommen flexibel gestaltbare Ablauf bedarf vielleicht für so manche erst einiges an Gewöhnung, es lohnt sich aber durchaus, sich zur Abwechslung einmal für wenige Tage ganz und gar auf die Ungewissheit einzustellen. Diese Offenheit lässt Platz für Ungeplantes. Besonders eindrucksvoll war das gemeinsame Lesekonzert / die Konzertlesung von Carolin Widman und Matthias Bundschuh bei der sie verschiedene Möglichkeiten ausprobierten, Musik mit Text zu verbinden. Aufgekommen war die Idee dazu während eines Gespräches kurz davor und sie bezeichneten es beide als Experiment.

 

Einen Gutteil der entspannten Atmosphäre machte auch die wunderschöne Umgebung aus: Gut Holzhausen mit dem umliegenden Wald voller Kunstwerke, der Eichenallee, den Pferdekoppeln, dem Musikpavillon, etc.. Auch die Unterbringungen und das gute Essen trugen wesentlich zur Zufriedenheit bei.

Bei der Akademie der Lesenden Künste geht es nicht so sehr darum Lesen zu lernen, eher schon darum Lesen zu verlernen – und zwar in dem Sinne, dass bereits automatisierte Herangehensweisen an einen Text und gewohntes Interpretationswerkzeug vollkommen beiseite gelassen werden. Das Lesen, wie es in der Akademie der Lesenden Künste praktiziert wird, ist eine Art des Lesens, welche sehr nahe dem Zuhören ist. Dem Text wird zunächst ganz unvoreingenommen zugehört. Der Inhalt ist dabei gar nicht so bedeutsam, vielmehr wird versucht einfach nur hinzuhören. Zum Beispiel darauf wie gesprochen wird und was zwischen den Zeilen steht. So drehten sich auch die Gespräche oft um das Abwesende, nicht Ausgesprochene bei Dickens.

Es geht um das miteinander-Sprechen, das Lesen und immer wieder neu-Lesen. Ein besseres Verständnis des Textes ist nicht das Ziel der Auseinandersetzung mit dem Text. Ganz im Gegenteil. Wenn es ein Ziel gibt, dann ist es die Verunsicherung.

Und dennoch nimmt man einiges von den drei intensiven Tagen mit. Zahlreiche Denkanstöße und Hinweise auf Details, welche sich erst nach mehrmaligem genauen Hinsehen offenbaren. Und vor allem eine größere Sensibilität in Hinblick auf Feinheiten und Unhörbares, das für gewöhnlich gerne überlesen wird. Alles in allem war mein Kopf nach den drei Tagen so angefüllt mit neuen Eindrücken, welche alle noch wie wild durcheinander sausten, dass ich beinahe froh darüber war eine lange ruhige Zugfahrt nach Hause vor mir zu haben.

Die 3. Meisterklasse der Akademie der Lesenden Künste findet vom 10-13. Oktober 2013 in Schieder-Schwalenberg statt. Mit dabei sind Peter Waterhouse und Barbara Nüsse. Ausgegangen wird von dem Roman „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz.

 

Fotos: Nino Idoidze
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