eingekreist - die Monatskolumne August 2013

Monatskolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Monatskolumne

Lektüreempfehlung

August 2013 | Hamburg

Ich war, wo mich meine Mutter schon immer mal haben wollte, beim Urologen gewesen, nicht etwa, weil ich zu ihrem großen Bedauern bis heute kein Enkelkind in die Welt gesetzt habe, das für sie ein putziger Zeitvertreib durch die quälend langweiligen Jahre der Rente sein würde, nein, vielmehr hat es was mit der Frequenz meiner Klogänge zu tun, die meine Mutter solange für nicht mehr normal hielt, bis ich sie auch nicht mehr für normal hielt. Die Praxis des Urologen, eine Urologin habe ich aus Gründen, die man im weiteren Verlauf dieses Textes nachvollziehen wird, lieber vermieden, war sehr geschmackvoll eingerichtet. Bequemes, prostataschonendes Gestühl, überall Pflanzen, und an der Wand hing ein Flachbildschirm, auf dem Tierfilme liefen und zwischendurch Informationen über den männlichen Geschlechtsapparat, die Übergänge waren fließend. Bevor ich mich dort hinsetzen konnte, sollte ich eine Urinprobe abgeben. Das Klo war allerdings noch besetzt, wie übrigens fast alle Sitzgelegenheiten in dieser Praxis. Vornehmlich von älteren Herren. Eine Arzthelferin zwinkerte mir freundlich zu, vermutlich froh darüber, in ihrem Arbeitsalltag auf ein jüngeres Exemplar Mensch mit männlichem Geschlechtshintergrund zu stoßen. Nachdem ich meiner Blase eine Probe abgerungen hatte, bat mich die Arzthelferin um Geduld, da es heute wohl etwas länger dauern würde, wegen der vielen Patienten. Ich sagte, ich hätte ein Buch dabei, das sei kein Problem. Das Buch war von einer jungen Schweizer Autorin, die mich schon bei der Fernsehübertragung des Ingeborg-Bachmann-Preises, bei dem sie vorlesen durfte, dermaßen gelangweilt hatte, daß mir ihr Roman, wenn überhaupt, nur in einer Wartezimmersituation lesbar erschien, wo ich an keine andere Lektüre herankäme. Vielleicht war ich durch ihren Vortrag dem Text gegenüber etwas voreingenommen, was noch dadurch verstärkt wurde, daß ich selbst noch nie beim Ingeborg-Bachmann-Preis vortragen durfte. Kritiker lobten daran die Ästhetik des Vakuums, die ausgeklügelte Intertextualität und daß die Autorin hübsche Sommersprossen hat. Nach zwanzig Seiten stand ich kurz davor, mir die „Brigitte“ aus dem Zeitschriftenständer zu nehmen. Hin und wieder lenkte ich mich mit den Tierfilmen ab. Dann betrat ein Bekannter das Wartezimmer, den ich zuletzt beim Neujahrsempfang des Mitteldeutschen Verlages gesehen hatte. Er setzte sich so hin, daß ein direkter Blickkontakt unmöglich war. Auf dem Flachbildschirm lief gerade ein Bericht, der mit der Frage eingeleitet wurde, ob meine Familienplanung schon abgeschlossen sei. Wenn ja, empfahl man mir, die Verhütung nicht nur meiner Frau zu überlassen. Man pries die Vasektomie, die Durchtrennung der Samenstränge, womit meine Mutter sicher nicht einverstanden wäre. Ich wendete mich wieder dem Buch zu und verspürte daraufhin einen so starken Harndrang, daß ich eine sofortige Unterbrechung der Lektüre für sinnvoll erachtete. Zehn Seiten später mußte ich erneut. Warum waren die mindestens doppelt so alten Blasenschwächlinge um mich herum seit ihrer Urinprobe nicht mehr auf dem Klo gewesen? Hatte meine Mutter doch Recht? War da was nicht in Ordnung? Und je mehr ich darüber nachdachte, desto häufiger mußte ich. Alles Einbildung, dachte ich. Hoffentlich alles Einbildung. Nach drei Stunden, ich hatte das Buch schon zu zwei Dritteln bewältigt und war öfter auf dem Klo gewesen als ein Prostatatotaloperierter, wurde ich aufgerufen. Der Urologe entschuldigte sich für die lange Wartezeit. „Wo drückt es denn“, fragte er mich. Ja, wenn ich es mir recht überlegte, drückte es an ganz verschiedenen Stellen, beschränkte mich aber auf sein Fachgebiet. „Na, dann stehen sie mal auf, und lassen sie die Hose runter“. Diese Prozedur war mir noch von der Musterung bekannt. „Husten Sie bitte“, und ich hustete. Gern hätte ich gewußt, was es eigentlich mit diesem künstlichen Husten auf sich hatte, währenddessen er meine Hoden durch seine Finger gleiten ließ, fragte aber nicht, wie ich schon damals bei der Musterung nicht gefragt hatte. „Drehen sie sich um und bücken sie sich leicht, es könnte jetzt etwas unangenehm werden“. Für mich oder für ihn? Denn wenn ich an die ganze Mannschaft älterer Herren denke, die da noch im Wartezimmer saß, und deren Intimleben sich inzwischen auf den regelmäßigen Besuch beim Urologen beschränkte, frage ich mich doch, was den Reiz urologischer Facharztausbildung eigentlich ausmacht. „Ihre Prostata ist nicht vergrößert. Legen sie sich bitte auf die Pritsche.“ Der Urologe fuhr nun mit dem Ultraschall über meinen Hodensack.

„Haben sie Kinder“.

„Ähm, noch nicht“.

„Ich kann sie beruhigen, da ist noch eine ganze Fußballmannschaft drin.“

Damit konnte er höchstens meine Mutter beruhigen. Er prüfte noch die Nieren, drückte mit dem Ultraschall auf meiner Blase herum und sagte, „ziehen sie sich bitte an, und entleeren sie die Blase auf der Toilette gegenüber, dann legen sie sich wieder hier hin.“ Ich erhob mich, wischte den Ultraschallglibber von meinem Bauch, der mir wie Gleitmittel vorkam, was er genaugenommen auch war, entleerte meine Blase und legte mich erneut auf die Pritsche. Der Arzt ging zum zweiten Mal mit dem Ultraschall drüber. „Restharn bei fünf Prozent. Das ist ein sehr guter Entleerungszustand“, stellte er fest. Also, liebe Mutter, meine Blase entleert sich vorbildlich. Alles perfekt, auch die Zeugungsfähigkeit, zumindest theoretisch. Ich war gesund, was eigentlich nicht sein konnte.

Am andern Tag bin ich zum Proktologen gegangen. Schon allein, um das Buch der jungen Schweizer Autorin, das mir, um jetzt im Bild zu bleiben, ziemlich auf den Sack gegangen ist, zu Ende zu lesen. Mein Freund Roman Turban, freiberuflicher Schriftsteller und Charmeur, würde mir jetzt wieder vorwerfen, daß ich andauernd auf junge, erfolgreiche Autorinnen schimpfe. Aber das ist mein Hobby. Wer jung, möglicherweise auch noch schön und obendrein erfolgreich ist, sollte, um nicht völlig sein seelisches Gleichgewicht zu verlieren, etwas Schimpfe kriegen, wenigstens von mir, wenn es schon sonst keiner tut.

Ich kam unangemeldet zum Proktologen, hatte also wieder viel Zeit. Als ich mit dem Buch durch war, habe ich es dem Proktologen überlassen. Vielleicht schaut er, zur Abwechslung, dort auch mal rein.