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Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha
Madame Schoscha (Barcelona) - Herr Altobelli (Berlin) - 10. Brief
Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter Herr Altobelli weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, über die sie sich gegenseitig berichten, sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Es scheint sich daraus eine wahre Brieffreundschaft zu entwickeln.
Barcelona, August 2013
Berlin!, Altobelli, Berlin! So wollte ich den ersten Brief nach meiner Rückkehr aus der Heimat beginnen. Mit einem Nachgesang, einem Zuruf der Zuneigung unter alten Vertrauten. Aber nach der Rückkehr bleibt nur ein Fragezeichen. Berlin? Wie der Ruf einer verschmähten Verliebten, steht das Fragezeichen zwischen uns. Wie eine paarungsbereite Katze laufe ich der flüchtigen Erinnerung des vermissten Ortes nach:
Ich bin im Juni nach Berlin gekommen, in freudiger Erwartung in den heimeligen Großstadtschlund zu krauchen, wo ich jeden Altbaustumpf und jede Plattenbaureihe auswendig kenne. Aber Berlin hat mich ungefragt wieder ausgespuckt, ließ mich auf Teufel komm raus nicht ankommen. Dabei ist alles noch an seinem Platz. Die Straßen, die Menschen, die Orte. Selbst mein früheres Ich wandert noch in alten Spuren, überall kann ich mir nachfühlen. Nur ich – ich – bin nicht mehr da. Und Berlin lässt es mich spüren. Ich lebe in einer vertrackten Ménage-à-trois, denn so wie sich Berlin mir eifersüchtig entzieht, verschließt sich Barcelona weiterhin vor mir. Ich bin nicht mehr in Berlin. Aber in Barcelona bin ich auch nicht.
Ich bin nirgendwo, vermisster Altobelli. Nicht hier, nicht dort, verloren gegangen auf der Überfahrt. Bin gestrandet auf einem Zwischendeck in outer space, hier, auf einer Felsinsel ohne Namen, meinen Computer habe ich "Herr Freitag" getauft.
"Keine Ratte, keine Maus/Keine Gasse und kein Haus,/Nichts, was mitmiaute./Und die arme Katerbraut/Äußert ihren Kummer laut/Dort im Strom bei Flaute. (Ringelnatz: Für die Katz)
In diesem Gefühl der Heimatlosigkeit, begegnete ich in Berlin "dem Alten". Erinnern Sie sich? Er ist eines Abends in den Salon gestolpert und hielt eine inspirierende Rede über Sterblichkeit. Just diesem Alten also bin ich im Görlitzer Park begegnet und wie das Orakel von Kreuzberg, bat ich ihn bezüglich der Orts-Misere um Rat. Er sagte mir: "Madame! Bitte geben Sie dieser Sache Zeit. Die Sentimentalität in Berlin wird vorübergehen. Geben Sie sich ein Jahr, oder zwei. Und Ihr neues Ich, wird ein neues Berlin gefunden haben." Sein Wort in Gottes Gehörgang. Auf das der uns, Herrn Freitag und mir, innerhalb eines Jahres ein Boot vorbeischicken mag. Auch ein Anker würde es tun.
Apropos Anker. So habe ich unsere Begegnung im Sommersalon im O-TonArt-Theater wahrgenommen. Ich war zwar zu betrübt, um wie verabredet mit Ihnen auf die Bühne zu steigen, aber da hinten im Stillen mit Ihnen im Publikum zu sitzen und dem Salontreiben zuzusehen, war sinnbildlich so, als hielten Sie im Dunkeln meine Hand. Nur dort, mit Ihnen im Theater, fühlte ich mich Berlin wieder zugehörig, daheim.
Wieder zurück "daheim" in Barcelona, lief kürzlich eine alte, zerknitterte Dame in Kittelschürz vor mir auf dem Gehsteig, eine kleine Flasche Wasser in der Hand, gegen den Durst. Jemand hatte eine halb vertrocknete Zimmerpflanze raus auf das Trottoir gestellt und sie ihrem Schicksal überlassen. Die alte Dame entdeckte das Pflänzlein, ging ohne Hast darauf zu, öffnete ihre Flasche und goss ihr Wasser in den Topf trockener Erde. Und ich dachte: das ist Heimat. Jemand erkennt deine Bedürftigkeit am Straßenrand und verschafft dir Linderung. In diesem Moment waren beide zuhause: die Zimmerpflanze u n d die alte Dame.
Auch Picasso hat in Barcelona eine zeitlang ein Zuhause gefunden: "Hier hat alles angefangen. Hier habe ich erkannt, wie weit ich kommen konnte", hat er einmal über die Stadt gesagt, die ihn ein paar wichtige Jahre geprägt hat und wo er Ende des 19. Jahrhunderts auf die Kunstakademie La LLotja ging und schon damals allen einen Schritt voraus war. Stellen sich dabei einen Teenager vor (zwischen 13 und 20), der dennoch schon stadtbekannt war! Um den sich die Modernisten im Jugendstilcafé Quatre Gats scharten, wo man heute noch an seinem Tisch sitzen kann. Die Legende dort besagt, wenn er knapp bei Kasse war, malte er Skizzen auf Servietten und versteigerte sie an den Meistbietenden. Das Museu Picasso feiert jetzt 50 jährigen Geburtstag mit einer Sonderausstellung: Yo Picasso (Ich Picasso), die seine Selbstporträts vereint.
Dort durch die Räume wandern, meinen Begleiter verlieren (Sie wissen, ich kann nie lange allein sein) und in Picassos Gesicht sehen, ihn fragen, wo seine Heimat gewesen ist. In seinem Geburtsort in Andalusien? Hier? In Paris? Und ich sehe ihn durch seine Bilder an und weiß, dass er hier zuhause war: In dem w a s er tat. Ganz egal, w o er es tat. Seine Selbstporträts sind wie die doppelte Manifestierung seiner Heimat: Er selbst in seinen eigenen Bildern.
Und dabei kommt die Frage auf, ob der Begriff der Heimat automatisch an den des Glücks gekoppelt ist. Denn man möchte meinen, jemand mit einer solchen Berufung, die keine Zweifel offen lässt, hat seine Heimat gefunden. Und damit automatisch sein Glück? War Picasso glücklicher als andere, weil sein Territorium so klar definiert war? Seine Selbstporträts erzählen mir von einer Ernsthaftigkeit, von etwas Wildem, Ungehaltenem, und einer unschätzbaren Weite in seinem Blick, ein nicht zu besetzendes Land.
Sixto Rodriguez hielt seinen Blick ein Leben lang vor der Welt verborgen. Wer weiß, was in ihm zu lesen wäre. Ich habe Ihren alten Bekannten live gesehen, mein Freund! Und es war das denkwürdigste Konzert, das ich bislang erlebt habe.
Ich sah nach ihrer Empfehlung zunächst den Film searching for sugarman. Danach war klar, sollte ich jemals die Gelegenheit bekommen Sixto Rodriguez auf der Bühne zu erleben, ich würde nicht zögern. Ich stand also im Poble Español hinter dem Pavillon, der Platz unter mir war mit Zuschauern voll gestopft wie eine Weihnachtsgans. Und so war auch die Stimmung, festlich, voll freudiger Erwartung. 40 Jahre war Rodriguez nach seinen beiden gescheiterten Alben in den siebziger Jahren in der Versenkung verschwunden und nun konnte die neue Generation ihn zum ersten Mal leibhaftig auf der Bühne sehen. Das war ein einzigartiges Erlebnis. Es schien als hatten alle im Publikum den Film gesehen, seine Geschichte gehört und waren gekommen, um ihm ihren Respekt zu zollen, ihre Hochachtung, was dann kollidierte, mit diesem Auftritt. Mit Sixto selbst.
Auf die Bühne wurde ein sehr alter Mann geführt (immer noch prächtiges, schwarzes Haar!), dessen Beine ihn kaum trugen und dessen Stimme am fortschreitenden Alter wie an einem unüberwindbaren Felsen brach. Schon nach der ersten gesungenen Zeile, schauten sich die Menschen im Publikum irritiert an. Am Ende hörte kaum noch jemand zu, die Menschen unterhielten sich lautstark, wanderten zu den Bars, die Musik schien nur noch begleitende Randerscheinung. Das hier waren nicht die Stones, die sich im gleichen Alter noch die Shirts vom Leib rissen. Das hier war ein alter Mann, der sein Leben lang auf dem Bau geschuftet hatte.
Hat Sixto es bemerkt? Oder war er zu blind? Zu taub? Oder wie es aus der Gerüchteküche herüber scholl, zu senil? Betrunken? Oder spielte all das für ihn gar keine Rolle? Denn so sehr mir die Situation im Herzen brannte, so wenig schien sie ihn zu bekümmern. Vielleicht hat ihn das Alter, ein Körper der sich ohnehin immer weiter vom Außen abschottete, resistent gegen jegliche Form von Unsicherheit und Kritik gemacht. Er selbst drückte es an diesem Abend so aus: "Hass ist ein so starkes Gefühl, man sollte es nicht an etwas verschwenden, dass man nicht mag."
Es war also trotz allem so, als wäre Sixto Rodriguez nach vielen Umwegen nachhause gekommen. Auf die Bühne, in die Musik. Denn dies war s e i n Zuhause, wo er Er selbst sein konnte. Nicht die Musik war die Randerscheinung, die Gäste waren es. Was sie darüber dachten, schien für ihn bedeutungslos, auch ob sein Körper noch mitspielte, einzig war es das Spielen selbst, weswegen er hier zu sein schien. Und das Publikum durfte dieser intimen Einlösung eines verpassten Moments beiwohnen.
Dennoch wünschte ich, sie alle hätten an dem so eifrig mitgebrachten Respekt festgehalten, auch wenn er nach nur fünf eigenen Hits nur noch Coverversionen spielte. Denn schon das erste gecoverte Lied formulierte, zumindest für mich, in Liedtext wie in Titel, die eine (schnulzige) Antwort, auf dieses besondere Konzert: "I´ll be coming home, wait for me“ (Unchained Melody).
Was auch nur auf mich zu warten schien, ist das Buch Wie ein Stein im Geröll der katalanischen Schriftstellerin Maria Barbal, das ebenso bescheiden, wie Sixto daherkommt. Lieber Herr Altobelli, wenn sie etwas über den Begriff Heimat erfahren wollen oder über Katalonien, oder beides, lesen Sie es. Es ist erstaunlich, mit welcher Schlichtheit die Worte auskommen, so unaufgeregt, so leise, und dennoch rufen sie so starke Gefühle beim Lesen ab, dass man nicht umhin kommt, sich erstaunt zu fragen, wie macht sie das bloß? Es ist eine Weile her, dass ich etwas so Vollendetes gelesen habe, dass dabei so wenig artifiziell vollendet wirkt. Da sitzt im Geiste eine alte Frau, die ihre Geschichte erzählt, ohne Geltungsdrang und mit einer, man möchte beinahe unterstellen, zufälligen Poesie, die einem behaglichen Kaminfeuer gleichkommt: "Es war tiefe Nacht und in meinen Augen und in meinem Mund spürte ich so etwas wie ein Wunder", beschreibt die Hauptfigur den Moment nach dem ersten Tanz mit ihrem zukünftigen, an dieser Stelle noch unbekannten Mann.
"Vielleicht ist es Glück", fällt mir dazu ein Gedicht von Myriam Keil ein, die ich kürzlich ebenfalls begeistert für mich entdeckt habe. Vielleicht ist das Glück mit einem anderen Menschen, die Heimat auf die wir ein Leben lang zu hoffen wagen?
"[...] mit einer berührung/verwirfst du meinen maßstab, zeichnest landkarten/auf meinen körper, eine ganze welt, bis ich mich/im allerkleinsten sicher zu bewohnen weiß,/während dich jeden tag aufs neue etwas in mein/leben trägt, vielleicht ist es glück, [...]" (Dezimierung der Einmachgläser, Horlemann Verlag)
Oder, an dieser Stelle drängt sich regelrecht die Frage auf, ist die einzig verlässliche Heimat, die wir an jeden Ort mitnehmen, unsere Sprache? Der Begriff der Nation sei im romantisch-konservativen Sinne, eine Einheit von Sprache, Literatur, Recht und Brauchtum, schrieb der Katalane Enric Prat de la Riba 1906. Für uns eine Selbstverständlichkeit, für die Katalanen, deren Sprache lange unterdrückt wurde, ist sie mehr als Ausdruck von Kommunikation, Sprache hier bedeutet Freiheit, Selbstbestimmung, Heimat.
Eine Heimat, die, vergrößern wir den Radius, auch fünf junge Spanier für sich entdeckt haben und mit nach Deutschland nehmen. Deutschland lädt erneut zur Gastarbeit: In dem kleinen Kaff Kreuz Steinach gibt es zu wenig Auszubildende und im krisengebeutelten Spanien, wie wir wissen, zu wenig Ausbildungsplätze. Die Verzweiflung ist groß genug, dass junge Leute ihre Familie, Sonne, Meer und Küsschen rechts/links verlassen, um in abgelegenen Regionen Deutschlands Jobs zu übernehmen, die sonst keiner will. So lebt Sarah (18) aus Alicante nun im Odenwald hinter einer Wursttheke, wo sich ihre Zunge an der Aussprache von "Kochschinken" und "Fleischwurst" übt. "Die Sprache bewohnen wie ein Haus/auf dem Bauland/der Stille" (Georg Bydlinsky)
Bewohnen Sie Ihre Sprache wie ein Haus, mein lieber Altobelli? Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr von sich. Wo befindet sich Ihre Heimat?
Ist und bleibt sie nur ein Ort, wie es im Wörterbuch steht: Wo ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich herstamme. Ist Heimat immer etwas Vergangenes? Oder kann sie auch gegenwärtig sein, wo ich jetzt lebe? Oder sogar in der Zukunft, wo ich leben möchte?
Oder ist der Begriff der Heimat nur ein Konstrukt? Wandelbar mit den sich ständig ändernden Umständen? Und sollte vielleicht deshalb der Ausdruck von Heimat schlicht und jederzeit das Hier und Jetzt sein?
Dabei hallt mir ein altes Volkslied hinter der Stirn:
"Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Knie, hat einen Zettel im Schnabel, von der Liebsten einen Gruß. Lieber Vogel flieg weiter, nimm einen Gruß mit, einen Kuß. Denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss"
In diesem Lied steckt für heute meine Heimat. Ob bei mir, oder beim Liebsten. Vielleicht vielmehr in diesem Zwischenraum der beiden, in den Worten der Sehnsucht, in diesem Brief.
Möge ein jeder meiner Briefe Ihnen stets eine Zuflucht sein.
Ihre immer an Sie denkende
Madame Schoscha
PS: Diesmal erhalten Sie zur üblichen Illustration von Gastón Liberto, außerdem eine Ansichtkarte von unserer neuen Bekannten Nicoleta Craita Ten’o, die mich diese Tage erreicht hat, und die ich wie immer mit Ihnen teilen möchte. Sollte sie auch Ihnen schreiben, freue ich mich, wenn Sie mich ebenso informieren.
Das Versprechen auf Unerschrockenheit
Wärme… Unterstützte Auffassung von kaleidoskopischen Ansichten der Gegenwart… Deine
Atmungsregelmäßigkeit übertönt das realistische Maß an sinnlicher Regung. Es schaufelt
Begeisterung aus einem Loch in der Geradlinigkeit. Hypnotisierendes Begutachten deiner
Umrisse. Deine Glitzerhaut tabuisiert das Versprechen auf Unerschrockenheit. Man muss dich
aufrunden wie eine Note, ausgeteilt für gutes Benehmen. Man muss dich befahren wie die
Heimatslandstraßen. Lang, holzige Stellen aus Muskelmasse. Unendliche, routinierte Kreise,
abgeleitet über die dünne Schicht auf deinem Bauch. Weil ich dich liebe, wurde in der Heimat
an uns herumgezerrt. Man bohrte Fleischfresser in unsere Seelen. Heimatbezogene Bräuche
verlangten von uns, ein Stück Himmel klein zu reißen, so tun, als hätten meine Augen dein
Antlitz noch nie geküsst. Das Gefühl zweier Maiden für einander ist nicht weniger wert.
(Nicoleta Craita Ten’o)