LUNA

Kurzgeschichte

Autor:
André Charkov
 

Kurzgeschichte

LUNA

September 2013

                                                                                                                                                                             des ein- / maligen Herzstichs – Paul Celan

Schneeregen, der Himmel anthrazit. Er war durch die Winternacht gegangen und hatte eine zufriedene Düsternis in und um sich empfunden.

Alles wie immer, das kann sich ganz passabel anfühlen. Gerade im Winter war diese Stimmung ihm angenehm, er, der sich im Sommer zu massiv empfand, mochte es, wenn die Kälte alles durchkroch – nur nicht ihn, denn in ihm war sie wohl immer schon gewesen, wie auch im Gebäude des Rathauses, wo die Microchiroptera schlafen.

Dort traf er sie, auch sie wartete auf eine Lesung, die schließlich abgesagt wurde – Franz Schuh war nicht gekommen. Auf einen Glühwein lud er sie ein … eher zufällig hatte er sie beim Durchschreiten des Gangs ins Freie bemerkt. Sie, die fragil an einer Säule lehnte, als gehörte sie nicht nur nicht hierher, sondern wäre völlig verloren, biß sich auf die Unterlippe – seltsam, wie die Sehnsucht in ihren grünen Augen strahlte, das Leuchten eines Nichts, das ihn beunruhigte, aber auch anzog. Ein paar Worte, dann war sie mitgekommen.

Und nun reden sie miteinander, zu kurz, aber immerhin. Und er sieht etwas in ihr glimmen, das Gier ist, doch Gier ohne ein Wonach. Sie spielt mit dieser Gier, wie eine satte Katze mit einer Maus spielt, nur: Sie ist nicht satt, vielmehr sind ihre grünen Augen die Einsicht, daß unglücklich und verliebt ein und dasselbe ist. „Schöne Haare”, sagt er unvermittelt, womit eine Distanz unterschritten ist; sie glaubt, daß es nur eine Floskel sein dürfe, weil sie ja spielt – auch wenn sie nicht weiß, was der Einsatz sein könnte. Also Schweigen.

Noch ein Glühwein. Der Wind weht die nassen Flocken in den Unterstand der Glühweinbude. Nun kann sie fragen, ob er denn berauscht sei, wenn er derlei vorbrächte; und er würde sagen: „Ja, von Dir”; und es wäre nicht gelogen und ganz Spiel zugleich. Aber sie fragt dies nicht; und er antwortet jenes nicht.

Sondern sie, die einander seit wenigen Minuten kennen, küssen einander. Einen Moment sieht er das Nadelstreifmuster ihres BHs in ihrem trotz der Kälte nicht hochgeschlossenen Ausschnitt. Sie streicht die Haare provozierend aus dem Nacken, ist da nicht noch jemand um sie..? Doch. Hunderte, denn sie sind – noch immer – auf dem Christkindlmarkt am Wiener Rathaus. Aber so sicher sie genau dort sind, so unsicher ist, ob sie überhaupt hier und jetzt sind. Ist das überhaupt eine der möglichen Welten? Fragt er sich. Sie fragt ja nichts.

Kuß: Sie öffnet den Mund. Und als er endlich ebenfalls seine Lippen nicht mehr aufeinander preßt – da fühlt er, liegt sein Philosophie-Studium auch Jahre zurück, daß es nicht nur in Turin Zusammenbrüche gibt. Denn sie saugt alles Leben aus ihm … nein, eigentlich das, was sie dafür hält, ihre ziellose Gier nimmt nun bestimmt, wonach sich zu verzehren sie vermeint. Und er verfällt, natürlich nicht wirklich, sondern, was aber noch schlimmer sein mag: nur vor ihren Augen.

„Einmal ist keinmal”, sagt sie und lächelt, obschon nicht mit den grünen Augen. In denen strahlt das Unglück wieder etwas heller… Und er bleibt kalt. Sie hätten einander lieb gehabt.


André Charkov ist ein Pseudonym. Der Urheber der kurzen Erzählung ist der Redaktion bekannt. Foto: Carmen Renn